Adoptivkinder im Vinschgau
Publiziert in 21 / 2005 - Erschienen am 4. November 2005
Svetlana, die „Lichtbringerin“
Die heute siebenjährige Svetlana hat Licht in das Haus von Anna Maria und Heinrich Lechthaler in Kortsch gebracht. Sie kommt aus einem Heim in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, wo sie die ersten zwei Jahre ihres Lebens verbracht hat. Ihre junge Mutter hat sie im Alter von zwei Wochen im Heim abgegeben, in dem ungefähr 100 Kinder leben.
Nach einigen Jahren der Kinderlosigkeit und aus einer religiösen Überzeugung heraus haben sich Anna Maria und Heinrich entschlossen, einem Adoptivkind ein neues Zuhause und ein besseres Leben zu bieten. Sie wünschten sich ein Kind aus Russland und nach sieben langen Jahren der Bürokratie, des Wartens und der Unwissenheit konnten sie Svetlana im Alter von knapp zwei Jahren mit nach Kortsch nehmen. Das kleine Mädchen konnte noch nicht alleine stehen, es war schwach und klein. Es kannte kaum Zuwendung und Liebe; im Freien war Svetlana noch wenig in ihrem Leben gewesen. „Ihre Augen hatten einen traurigen Ausdruck“, erinnerte sich Anna Maria. Mit der Zeit entwickelte sich Svetlana zu einem gesunden Kind. Heute ist sie eine gute Schülerin, offen und lebendig. „Manchmal geht ihr russisches Temperament mit ihr durch“, so ihre Adoptivmutter. Svetlana kennt ihre Geschichte. Ihre neue Familie hat in bebilderten Tagebüchern alles festgehalten, was für sie später einmal sehr wichtig sein wird.
Manuel und Fabian
Nach Jahren vergeblichen Hoffens auf eigene Kinder wagten auch Heidi und Ulrich Linser aus Latsch den Schritt zur Adoption. Da eine „nationale“ Adoption chancenlos ist, entschied sich das Ehepaar für ein Adoptivkind aus Russland. Im Jahre 2001 kam der heute siebenjährige Julian nach Latsch, doch er sollte nicht lange alleine bleiben.
Zwei Jahre später bekam er mit Manuel, ebenfalls aus demselben Heim in Wolgograd, einen Bruder. Die zwei Buben waren durch die eintönige Kost und durch mangelnden Aufenthalt im Freien blass und schwach, holten dies bereits nach kurzer Zeit in der neuen Heimat wieder auf. „Sie haben sich vom ersten Tag an wohl gefühlt hier und nie geweint“, erklärt die Mutter. Sie und ihre Familie versuchen den Kindern jene Zuwendung zu geben, auf die sie sehr lange verzichten mussten.
Besonders der kleinere der zwei Buben sucht ständigen Körperkontakt mit den Eltern.
Wie alle anderen Adoptiveltern durften sich Heidi und Ulrich Linser ihre Kinder nicht aussuchen.
„Das ist auch gut so“, meint Heidi Linser, „es ist eine Bestimmung, welches Kind mit welchem Geschlecht und Aussehen man bekommt.“ Eines ist sicher: aus Russland kommen mehr Buben als Mädchen als Adoptivkinder ins Ausland. Erwachsene Buben müssen in Russland drei Jahre Militärdienst leisten und haben weniger Zukunftsperspektiven, da sie sehr oft dem Alkohol verfallen, so Frau Linser.
Russische Frauen sind in hohen Positionen vertreten, sie sind Richterinnen, Staatsanwältinnen, Heimleiterinnen.
Sebastian, das Christkind
Es hört sich an wie eine moderne Weihnachtsgeschichte: Mitten in der Heiligen Nacht des Jahres 1999 fahren Annelies und Oskar Stecher vom Mailänder Flughafen Richtung Heimathof am Schlanderser Sonnenberg. Auf dem Rücksitz schläft Sebastian Marian, ihr Adoptivkind aus Rumänien, mit dem sie einige Stunden zuvor in Bukarest abgeflogen sind. Das kinderlose Ehepaar Stecher hat Sebastian eine Woche zuvor in Brasow, einer rumänischen Kleinstadt, 3 Autostunden von Bukarest entfernt, adoptiert.
Der heute 10jährige Junge, dreizehntes Kind einer rumänischen Mutter, kommt bald nach seiner Geburt in ein Kinderheim. „Sebastian hat Glück gehabt“, meint Annelies Stecher. „Ich habe nachts viele Kinder allein auf der Straße gesehen.“
Im Heim bleibt Sebastian bis 2 Monate vor seiner Adoption. Dann kommt er zu einer Pflegefamilie. Zum Zeitpunkt der Übergabe an seine neuen Eltern spricht der viereinhalbjährige Junge weder seine Muttersprache, noch kennt er Spielzeug oder hat soziale Kontakte gehabt. Er wiegt 12 Kilo, ist ungepflegt und hat eine chronische Mandelentzündung, die ihm das Essen erschwert. Am meisten plagt Sebastian die Angst, allein gelassen zu werden; das monotone Hin- und Herwiegen, das bei hospitalisierten Heimkindern auffällig ist, behält er für längere Zeit.
Annelies und Oskar Stecher empfinden viel Liebe und Dankbarkeit für ihren Sohn und sie hüten ihn wie ihren Augapfel. Auch die Familien auf den Nachbarhöfen haben sich mit dem Ehepaar über den Nachwuchs gefreut. In der Grundschule von Kortsch ist Sebastian angenommen und beliebt.
Eine Integrationslehrerin hilft ihm über kleine schulische Schwächen hinweg.
Am liebsten beschäftigt sich der aufgeweckte Junge mit seinen Katzen, einem Kitz und einem kleinen Kälbchen.
Anna Maria und Michael – ein Geschwisterpaar
Als ein Geschenk Gottes betrachten Monika und Herbert Habicher ihre beiden Adoptivkinder Anna Maria und Michael. Die 14jährige Tochter und der 13jährige Sohn sind ein echtes Geschwisterpaar aus Ungarn, ihr 16jährige Bruder Josef lebt in einer Adoptivfamilie in Bozen. Anna Maria war zum Zeitpunkt der Adoption 3 Jahre, Michael 2 Jahre, beide blass und ihrem Alter entsprechend klein.
Monika und Herbert Habicher legen sehr viel Wert darauf, dass ihre Kinder einen engen Kontakt zu ihrem Bruder Josef haben. Die Familien laden sich zu Festen ein und machen Ausflüge zusammen.
An ihren Aufenthalt in Ungarn erinnert sich Monika gern. Sie hat die Menschen im Heim als kinderlieb und verantwortungsbewusst empfunden, die unter den gegebenen Umständen das
Beste für die Kinder getan haben. Die zwei Mittelschüler kennen ihre Geschichte von Erzählungen und Bildern. Sie fühlen sich in Südtirol zuhause, möchten ihr Geburtsland aber irgendwann einmal besuchen. Anna Maria, ein hübsches, schlankes Mädchen liebt das Reiten und Zeichnen und hört am liebsten Musik der boygroup „Tokio Hotel“. Michael, der zu einem kräftigen Jungen herangewachsen ist, ist ein begeisterter Fischer und mag Ska-Bands.
Ingeborg Rainalter Rechenmacher