Wo sind wir jetzt daheim?
„Das versunkene Dorf“
70% der Bevölkerung ist aus- oder abgewandert, 163 Wohnhäuser bzw. landwirtschaftliche Gebäude wurden gesprengt und 514 ha Kulturfläche wurden vernichtet. Das waren die Folgen der Seestauung in Graun und Reschen.
Die Filmvorführung in Meran nahm teilweise die Züge eines Alt-Grauner-Treffens an: links im Bild Josef Stecher aus Matsch (Jahrgang 1935), der 1949 seine Heimat Graun verlassen musste, rechts Herta Innerhofer (Wenter-Herta), die 1950 als damals 20-Jährige aufgrund der Seestauung nach Untermais zog. Es war dies ihr erstes Wiedersehen nach der Seestauung.
Der Reschensee im Jahr 2005.
Schon seit einigen Jahren wird der See von Seglern, Kitesurfern und Snowkitern (rechts) genutzt.
Peppi Plangger, einer der Zeitzeugen, die im Film zu Wort kommen, ist am 11. April 2014 gestorben.
Bei Alois Messmer war das Filmteam im Juni 2005 zu Gast. Am 2. April 2016 ist er in Moncovo gestorben.
Kurzdiskussion im Anschluss an die Filmvorführung mit (v.l.): Albrecht Plangger, Brigitte Maria Pircher, Theresia Theiner, ihr Enkel Fabian Oberhofer und Paul Warger.

Als das Wasser kam

Ein Dokumentarfilm, der berührt. Zeitzeugen kommen zu Wort. Brückenschlag bis zur heutigen Zeit.

Publiziert in 14 / 2018 - Erschienen am 17. April 2018

Graun/Reschen/Meran - Von niemandem, der gesehen hat, wie das Wasser kam und wie es alles, was für ihn bis dahin Heimat war, unter seinen Füßen wegspülte, darf man erwarten, dass er ihn mag, den Stausee am Reschen. Groß ist die Zahl jener, die aus Graun und Reschen „hinausgewassert“ wurden, nicht mehr. Einigen davon, aber auch so manchen Kindern und Enkelkindern von „Verjagten“, trieb es am vergangenen Donnerstag im Ariston-Kino in Meran das Wasser in die Augen. Es wurde der Dokumentarfilm „Das versunkene Dorf“ von Georg Lembergh und Hansjörg Stecher gezeigt. Bereits eine Stunde vor Aufführungsbeginn hatte es ein großes Gedränge an der Kinokasse gegeben. Zu jenen, die unbedingt eine Karte wollten, gehörten u.a. viele Vinschger aus der Gemeinde Graun. Die 370 Plätze waren im Nu vergeben. Rund 100 Personen mussten abgewiesen werden.

„…wie sie die Kirche sprengen“

„Meine Mama hat mir als Kind gesagt, ich soll schauen gehen, wie sie die Kirche sprengen. Ich bin dann runter gelaufen und wollte schauen, wie die Kirche zusammenbricht. Und was ist zusammengebrochen? Unser Haus.“ Das erzählt Theresia Theiner aus Graun im 83-minütigen Film. Sie ist nur eine von insgesamt über 25 Zeitzeugen, mit denen der in Wien und Tirol als freier Filmemacher lebende Georg Lembergh, dessen Großvater aus St. Valentin a.d.H. stammt, und der Historiker und Filmemacher Hansjörg
Stecher aus St. Valentin Interviews geführt haben. Der von Albolina produzierte Film lebt vor allem von berührenden Portraits und menschlichen Einzelschicksalen hinter der Tragödie, die sich Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre im Oberland abspielte. Lembergh und Stecher hatten sich bereits vor über 10 Jahren auf Spurensuche gemacht. Ihr Hauptanliegen war es, mit Zeitzeugen zu reden, so lange diese noch leben.

„Friedhof eben planiert“

Einige der Zeitzeugen, die im Film zu Wort kommen, sind mittlerweile nicht mehr da. So etwa Peppi Plangger aus Graun, der am 11. April 2014 an den Folgen einer starken Hirnblutung starb. Im Film erzählt er unter anderem: „Die Bevölkerung von Graun sollte auf dem Friedhof die Grabsteine und die schmiedeeisernen Kreuze sofort entfernen. Denn der Friedhof wird mit dem Bagger eben planiert und es kommt eine Betondecke drauf. Als das meine Großmutter hörte, hat sie die Hände zusammengeschlagen und gesagt: ‚Nein, das darf nicht sein! Die kommen ja am Jüngsten Tag nicht mehr durch den Beton!“ Paul Warger (Taufers) erinnert sich im Film, wie er mit zwei Koffern zu Fuß nach Schlinig ging, wo er vorher noch nie gewesen war und wo er die Leute fragen musste, „wou mir drhoam sein.“ Zum Thema Entschädigung sagt er: „Für die Wiese und den Acker oben, wie viel Geld haben wir da gekriegt? Es hätte sich nicht rentiert, nach Meran zu fahren, um das Geld zu holen. Die Fahrt wäre teurer gewesen als das, was man bekam.“ Karl Stecher aus St. Valentin zeigt ein Dokument und hält fest: „Das ist Stempelpapier zu 8 Lire. Und der Quadratmeterpreis ist mit 1 Lira abgefunden worden. Also ist dieses Stempelpapier 8 Quadratmeter wert.“ Zusätzlich zur Seestauung erinnert sich Hermann Stecher aus Reschen auch an die Zeit der Option: „Der eine war Dableiber und der andere wollte hinaus, vor lauter Propaganda.“ 

„Es war zum Weinen“

„Es war zum Weinen. Der Moment, wo du zum letzten Mal die Tür deines Vaterhauses geschlossen hast. Das war wirklich schrecklich. Und ich bin so gehangen am Daheim!“ Das sagt Alois Messmer, der nach der Seestauung in Moncovo in der Gemeinde Ton in Trient eine neue Heimat gefunden hat. Alois Messmer ist am 2. April 2016 gestorben. „Für Reschen und Graun ist es schlimm gewesen. Für die Leute dort. Weil auf der Ebene da waren alles Wiesen. Das ist ja eine schöne Fläche. Jaja, natürlich ... Der Fortschritt! Das ist der Preis des Fortschritts. Irgendwer muss ihn zahlen. Wen es trifft, den trifft es.“ Diese Aussage im Film macht Marcello Nart (Schluderns).
Brigitte Maria Pircher, die 2003 an der Uni Innsbruck die Diplomarbeit „Der Reschen-Stausee von seinen Anfängen bis heute“ geschrieben hat und mit der die Filmemacher zusammengearbeitet haben, meint im Film: „Ich glaube, dass der Grauner von damals ein traumatisierter Mensch gewesen ist, der keinerlei Hoffnung mehr in die Politik hatte, der sich komplett verarscht vorkam. Wenn er Hoffnung auf etwas setzte, dann wohl darauf, dass hier kein Stausee entstehen kann, weil man wohl nicht einfach ein Dorf unter Wasser setzen könne, nur um Strom für die norditalienische Industrie zu gewinnen.“ 

Ohnmacht und Leid

Die Erinnerungen der Zeitzeugen spiegeln über weite Strecken die Ohnmacht und das Leid der Menschen wider, dem sie ausgesetzt waren. Es war die faschis-
tische Regierung in Italien, die ab 1937 verstärkt auf das Vorhaben des Stauseebaus drängte. Erste Studien zur Nutzung der Wasserkraft im oberen Vinschgau hatte es übrigens schon 1911 gegeben. 1939 wurde der Projektvorschlag einer Tochtergesellschaft des Montecatini-Konzerns genehmigt. Es ging um das „nationale Interesse zur Stärkung der nationalen Industrie.“ Mit einem großen Staudamm sollten der Reschensee und der Mittersee um je 5 Meter Höhe zusätzlich aufgestaut werden. Damit würden die Orte Graun vollständig und Reschen zum Teil aufgegeben werden müssen. Im Februar 1943 wurde die Konzession erteilt. Im September 1943 (Kriegszeit) wurden die Arbeiten unterbrochen. 

Geld aus der Schweiz 

Nach Kriegsende fehlte für den Weiterbau das Geld. Es waren dann Schweizer Elektrizitätsgesellschaften, die nach dem Scheitern des Speicherkraftwerk-Projektes Rheinwald bei Splügen dringend „Winterstrom“ brauchten und der Montecatini eine Finanzierung von 30 Millionen Schweizer Franken gegen Lieferung einer bestimmten Strommenge anboten. Erst im März 1947 wurde die Bevölkerung von Montecatini- Vertretern über die Größe des Stausees und die Zeitpläne informiert. Die Enteignungen hatten bereits 1940/41 unter der faschistischen Regierung stattgefunden. Der Protest der Bevölkerung vermochte das Projekt nicht mehr aufzuhalten. Besonders vehement gegen das Vorhaben gewehrt hatte sich Pfarrer Alfred Rieper. Es ist ihm trotz aller Bemühungen „nur“ gelungen, etwas höhere Entschädigungen herauszuholen. Im Spätsommer 1950 hat die erste Vollstauung stattgefunden. Rund 100 Familien aus Graun und Reschen hatten vorab entscheiden müssen, ob sie vor Ort bleiben und an höherer Stelle neue Häuser bauen oder woanders hin umsiedeln wollten. Nur rund 35 der betroffenen Familien sind geblieben. Mit Ausnahme des Kirchturms von Graun wurden alle Gebäude in Graun und den Weilern Arlund, Piz, Gorf und Stockerhöfe (St. Valentin) abgetragen und überflutet. Dasselbe geschah auf dem betroffenen Gebiet in Reschen.

Brücke zur Gegenwart

Trotz der verheerenden Folgen der Seestauung (70% der Bevölkerung ist aus- oder abgewandert, 163 Wohnhäuser bzw. landwirtschaftliche Gebäude wurden gesprengt und 514 ha Kulturfläche vernichtet) wollten sich Lembergh und Stecher nicht ausschließlich auf diese dramatischen und tragischen Episoden beschränken, sondern den Blick auch auf die Gegenwart werfen und in die Zukunft richten. „Das ist auch der Grund dafür, warum es nicht möglich war, alle Zeitzeugen, mit denen wir Interviews geführt haben, im Film zu Wort kommen zu lassen“, sagte Lembergh dem der Vinschger. Aus dramaturgischen Gründen hätte man nur einige der Zeitzeugen erzählen lassen können, „wobei wir aber natürlich allen, die mit denen wir gesprochen haben, gleichermaßen zu Dank verpflichtet sind.“ Dass Zeitzeugen, die sich erwartet hatten, ihren Erinnerungen im Film wiederzufinden, nach der Vorführung nicht bereit waren, auf die Bühne zu kommen, darf man ihnen nicht verübeln. 

„Eine andere Beziehung“

Über die Bemühungen, die Stauhöhen zeitlich so festzulegen, dass sich der „trockene“ See nicht mehr regelmäßig zum Leidwesen der Bevölkerung und der Feriengäste in eine „Staubwüste“ verwandelte, berichtet im Film der ehemalige Grauner Bürgermeister Albrecht „Abi“ Plangger.  Auch den famosen „Stromkrieg“ lässt er Revue passieren: „Ich musste immer zuerst das Land niederkämpfen und dann die Edison. Aber ich habe nie aufgegeben, und wichtig ist, der See gehört uns eigentumsmäßig. Wenn du heute im Grundbuch die Grundparzellen vom See anschaust, dann steht irgendwo ganz am Ende: 3,3% Gemeinde Graun. Für uns hat dieses Eigentum einen Wert. Wenn du im Grundbuch stehst, dann gehört es dir. Und weil es dir gehört, musst du zu einer anderen Beziehung kommen.“ 

„Einen Schritt weiter“

Mit klaren Wünschen für die Zukunft wartet der junge Fabian Oberhofer auf: „Ich persönlich hoffe, dass die neue Kitestation eine Art Prototyp wird. Dass man sich traut, mit dem Reschensee einen Schritt weiterzugehen und ihn zu nutzen. Ich glaube, das kann ein Schritt sein. Wo man sieht, dass das mit dem See funktionieren kann. Vielleicht wird die Oma die Station noch erleben. Dann wird sie sicher mal etwas trinken kommen.“ Für den Schriftsteller Sepp Mall gehört der See zur Landschaft: „Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass ich dadurch, dass der See für mich etwas Tolles war, etwas Schönes, Spannendes, Abenteuerliches, dass ich irgendetwas verrate, von dem, was meine Vorfahren erlitten haben. Das war einfach so. Ich verstehe sehr gut, dass jemand, der die Landschaft von früher erlebt hat, das ganz anders sieht. Für mich gehört der See einfach zu dieser Landschaft. Ohne den See wäre das nichts!“ Der Film, der im Rahmen von „Bolzano Filmfestival Bozen“ gezeigt wurde und auch bei den Vorführungen in Brixen und Bozen jeweils sehr viele Besucher anlockte, soll in Zukunft auch auf Rai Südtirol sowie im Schönherr-Kino in Schlanders gezeigt werden. Für Lembergh ist der Film ein Beispiel dafür, „wie man aus Profitinteressen über einzelne Menschen einfach darüberfährt.“ Solche Katastrophen sind in der Vergangenheit oft geschehen, „und sie geschehen auch heute noch, überall auf der Welt.“

Josef Laner
Josef Laner

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