10 Jahre Vinschger
Thomas Schuster

Aus der Ferne betrachtet

Publiziert in 25 / 2003 - Erschienen am 25. September 2003
Im Sommer 1993 arbeite ich, gerade volljährig, für ein paar Wochen in Berlin, als ich erfahre, der Wolfgang Meister suche mich dringend und ich solle ihn anrufen: gesagt, getan, und in einer Telefonzelle beginnt mein Abenteuer beim Vinschger, an keinem weniger bedeutenden Ort als in Berlin, Alexanderplatz. Wolfgang hilft gerade mit, eine Gesellschaft gründen, um eine Zeitung für den Vinschgau herauszugeben, und weil er mit mir in Kortsch Theater gespielt hat und mich nun so gut kennt, dass er mir ein Talent zum Schreiben zutraut, möchte er, dass ich einen gewissen Hansjörg Telfser kontaktiere, mir damals nur als Unterschrift in der eben verblichenen «Rundschau» bekannt. 14 Tage später, wieder zu Hause, suche ich Hansjörgs Nummer heraus; am nächsten Tag stehe ich in einer Art Rumpelkammer, von Hansjörg mit unverschämtem Optimismus als „Redaktion“ bezeichnet. Zwei alte Computer, zwei Stühle, das Telefon samt Nummer vom Hausherrn Hans Wielander geliehen und so viel Enthusiasmus in der Luft, dass man drei Zeitungen damit gründen könnte. Das gefällt mir und ich will unbedingt mit von der Partie sein. Hansjörg sagt mir einfach: „Was immer du willst, kannst du nur bringen.“ Verwirrt ob so viel Vertrauens in mich gehe ich nach Hause und komme anderntags mit dem einzigen zurück, was mir in meiner Verlegenheit eingefallen ist: ein Kommentar über den Film, den ich gerade im Kino gesehen hatte, «Jurassic Park». Immerhin schaffe ich es, einen Bezug zu Tangentopoli und zu den nahen Landtagswahlen herzustellen (Papier ist geduldig). Der Chef ist amüsiert bis zufrieden, ein Anfang ist geschafft. Zum ersten Redaktionsschluss sitze ich bis zum Morgen mit Hansjörg und unserem ersten Grafiker Alex Gamper vor den Computern und versuche, ihnen eine Hilfe zu sein. Ob ich das geschafft habe, weiß ich bis heute nicht, aber ich muss einfach miterleben, wie die erste Nummer abgeschlossen wird (Ich erinnere mich noch genau, wie ich mir damals dachte: in zehn Jahren kannst du sagen, du bist dabei gewesen. Was hiermit erledigt wäre). Mit dieser ersten Nachtschicht war auch mein weiterer Lauf in der Redaktion angedeutet: viel mehr Stunden dort zu verbringen, als jemals von mir verlangt und das selten bei Tageslicht. Die Zeitung wurde jahrelang stets erst spät abends fertig, wenige Stunden vor Drucktermin, und wenn ich noch dort arbeiten würde, wäre das wohl auch heute noch so, bin ich doch - höchst untirolerisch - ein echter Nachtarbeiter: erst abends beginnt mein Kopf so richtig zu laufen. Belohnt gemacht hat sich dieser Einsatz: rasch übergab man mir alle möglichen Geschichten, von Schloss Goldrain über die Obstgenossenschaften bis zum Malser Bauleitplan; keine zwei Jahre waren vergangen, und schon schlug man mir vor, nach Meran zu gehen, um dort unsere Tochterzeitung «BAZ» als neuer Chefredakteur aufzumöbeln. Ich wollte eigentlich nicht so recht, aber dann hörte ich so lange „Das schaffst du doch mit links“ von allen Seiten, bis ich das selber glaubte. Keine Frage, dass dann der unerfahrene Vinschger Bua, ohne richtige Rückendeckung im Verwaltungsrat (wo die mächtigen - und humorlosen - Meraner Verbandsobmänner das Sagen hatten) nach einem halben Jahr frustriert die Heimreise antrat. Diese Geschichte betrachtet Hansjörg heute als seinen größten Fehler. Da übertreibt er stark, ich könnte ihm größere Böcke aufzählen. Für mich war es die wertvollste Erfahrung meines damaligen Lebenslaufs, die Grenzen von Idealismus und Tatendrang aufgezeigt bekommen. Ab 1996, ich war in der Zwischenzeit Hansjörgs Vize, haben wir den Schritt vom Halbdilettantismus zur Professionalität begonnen, was erst heute seine Früchte zeigt. Klar bin ich neidisch, dass die Zeitung heute so ist, wie ich sie mir immer nur gewünscht habe, aber ich hoffe, alle heutigen Mitarbeiter, allen voran Hansjörg und Erwin, wollen meine Komplimente als ehrliche akzeptieren.Vielleicht war damals unser Fehler, unseren Erfolg daran zu messen, wie vielen wichtigen Leuten wir auf die Zehen getreten waren. Doch das Tal ist klein: der Sohn vom Assessor ist mit dir in die Schule gegangen und die Tochter vom Vereinsobmann siehst du hin und wieder und möchtest sie eigentlich näher kennenlernen... wenn du in eine Bar gehst, schaut dich der Wirt schief an und die Frau von wem auch immer kommt plötzlich nicht mehr im Geschäft deiner Eltern einkaufen (nie kann ich meinen Eltern genug danken: was Ihr nicht alles durchmachen musstet wegen meiner Schreibereien und sonstigen wirren Projekte!). Aber nur über das Schöne und Gute zu schreiben, wäre verlogen und außerdem wollte ich noch so viel anderes ausprobieren; so wurde nichts aus dem Weg nach Wien oder Hamburg, wo ich diese Karriere in der nötigen Anonymität hätte weiter pflegen können. Trotzdem wollte ich ein klein wenig von der Welt sehen, und so bin ich ab 1999 immer weniger im Vinschgau. 2000 gebe ich den Vizeposten ab. Die Prüfungen an der Uni wollen auch kein Ende finden, mein Kopf ruft irgendwann nach einer Pause und es wird Zeit, ein Handwerk zu lernen. Heute lebe ich einen Kindheitstraum aus und arbeite als Konditor im traumhaften Barockstädtchen Noto bei Syrakus, südlichstes Sizilien, zwischen fruchtbaren Hügeln voll Mandelbäumen, Zitrusfrüchten und Obstsorten wie aus 1001 Nacht. Mein Lehrmeister: Corrado Assenza, einer der drei, vier besten Zuckerbäcker Italiens (ihr seid übrigens alle herzlich eingeladen, einmal auf eine granita e brioche vorbeizuschauen). Mein Ziel heute: nicht mehr jenes, Menschen zu informieren, sondern sie zu verwöhnen. Bleibe ich hier, bleibe ich in diesem Handwerk? Ich weiß es noch nicht. Die gestandenen Leute halten mich für töricht, da für andere Ziele bestimmt: was ich ihnen antworten soll, weiß ich nicht. Südtirol selbst fehlt mir nicht besonders: da habe ich schon über zwanzig Jahre verbracht und dahin werde ich früher oder später wohl auch zurückkehren; ich sehe auch, dass dort alles ganz wunderbar ohne mich läuft. Aber in der alten Redaktion manchmal ein bisschen herumstirggn... hätte der Tag etwa 36 Stunden und könnte ich alle zwei Wochen die fast 2000 km nach Schlanders machen, wäre es ein Spaß, wieder für den Vinschger zu schreiben. Schließlich habe ich mitgeholfen, die Zeitung aus der Taufe zu heben, und ein klein wenig empfinde ich sie immer noch als mein.
Vinschger Sonderausgabe

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