Bei den Leuten tickt es oft anders als in der Politik

Publiziert in 19 / 2009 - Erschienen am 20. Mai 2009
Vinschgau – Der Aufmarsch der Schützen in Bruneck, Donato Seppis Kranzniederlegung, der offene Brief des Landtagspräsidenten Dieter Steger gegen alle Scharfmacher, scharfe Geschütze aus Rom von Biancofiore und Frattini, rechtsradikal getünchte Äußerungen auf mehreren Seiten, subjektive Kolumnen in großen italienischen Tageszeitungen und jede Menge von Stellungnahmen von Parteien und Politikern, die gebetsmühlenartig aufrufen, die Situation nicht weiter aufzuschaukeln und den ethnischen Frieden nicht zu gefährden. Der Nordtiroler Landeshauptmann Günther Platter hat sich am 12. Mai zur aktuellen „Südtirol-Debatte“ zu Wort gemeldet und eine Mäßigung angemahnt. Selbst Innenminister Moroni sah sich durch eine Anfrage von ­Biancofiore genötigt, im Parlament Position zu beziehen und die Wogen zu glätten. Soweit zu den Parteien und Politikern. Was aber denken die Leute? „Der Vinschger“ hat sich umgehört. von Günther Schöpf und Sepp Laner Renato Gallo, Schlanders: Bei den Diskus­sionen rund um das ethnische Zusammenleben ist es wie bei einer Ziehharmonika: Manchmal geht sie auseinander, manchmal zusammen. Derzeit geht sie wieder einmal ziemlich weit auseinander. Ich lebe seit fast 40 Jahren in Schlanders. Im Alltagsleben hatte ich in Bezug auf das Zusammenleben eigentlich nie Probleme ge­habt. In der Politik aber ging es periodisch auf und ab. Wenn die Schützen aufmarschieren, wollen sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Jeder, der eine Unform trägt, ganz egal welche und ganz egal wo, fühlt sich ein bisschen stolz, „besser“ und wichtiger. Es geht vielfach auch nur um Wählerstimmen. Das gilt auch für die Kammerabgeordnete Michaela Biancofiore. Der Schützenaufmarsch gab ihr sozusagen die Gelegenheit zu zeigen, dass sie in Rom nicht nichts macht. Zwischen den Interessen der so genannten normalen Leute und jenen der Politiker liegen oft Welten. Siegmar ­Trojer, Schlanders: Wir Südtiroler sind vielleicht die bestgeschützte Minderheit in Europa. Dank des Einsatzes tüchtiger SVP-Vertreter ist es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, in Rom eine starke Autonomie für unser Land zu erkämpfen. Südtirol hat derzeit auf fast allen Ebenen ein Höchstmaß an Lebensqualität aufzuweisen, ich nenne hier nur einige Stichworte wie Schulwesen, Universität, Sanität, Soziales, Landwirtschaft, ­Zivilschutz und viele weitere Bereiche. Den jungen Menschen in Südtirol wird viel geboten, sie haben viele Möglichkeiten. Schützenauf­märsche halte ich nicht für gut, denn man stößt die italienische Volksgruppe damit vor den Kopf. Provokationen führen zu übertriebenen Reaktionen und unsinnigen Aussagen. Wir stehen in Südtirol mit unserer Autonomie gut da und es sollte so bleiben wie es ist. Im Falle einer Abstimmung würde die Mehrheit der Südtiroler für die Beibehaltung des Status Quo plädieren. Giuseppe ­Pignati, Schlanders: Ich habe die jüngsten Diskussionen nur am Rande mitverfolgt. Grundsätzlich kann ich sagen, dass das ethnische Zusammenleben gut funktioniert. Ich lebe seit 33 Jahren hier, habe eine Arbeit, fühle mich wohl und habe kein Problem, mit allen einen Kaffee zu trinken, auch mit Schützen. Was die Politik betrifft, so ist das jedem seine Sache. Jeder hat seine eigene politische Idee und mich interessiert es wenig, zu welcher politischen Farbe sich jemand bekennt. Wenn ich selbst ein Problem habe, weiß ich mich zu wehren und gehe notfalls auch bis zum Landeshauptmann Luis Durnwalder. Magdalena Meauschek Carusi, geboren in Zirl, Tirol, seit 1972 in Latsch: Ich habe nie das Gefühl ge­habt, dass es uns schlecht geht, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es uns besser gehen wird, welche Zugehörigkeit oder Regierungsform wir auch wählen. In meiner Verwandtschaft sind viele bei den ­Schützen und es kam mir immer so selbstverständlich vor, dass man in Tracht zu Festlichkeiten oder Prozessionen geht. Hier in Südtirol zieht’s mir immer die „Ganslhaut“ auf. Für mich sind diese Aufmärsche Provokationen, die Provokationen nach sich ziehen. ­Historische Relikte zu beseitigen, auch die der Faschisten-Zeit, bedeutet, sich nicht mehr mit ihnen beschäftigen zu können. Denk-Mäler müssen zu Mahn-Mälern werden. Außerdem haben viele derzeit über etwas anderes nachzudenken. Franz Pircher, Göflan: Im Grunde haben wir in Südtirol keine großen Probleme. Ich bin zwar selbst Schütze, an großen Aufmärschen aber nehme ich nicht teil. Wenn man bedenkt, dass es ca. 5.000 ­Schützen gibt und in ­Bruneck rund 2.000 dabei waren, hat immerhin gut die Hälfte gefehlt. Was das Thema der Selbstbestimmung betrifft, so gibt es viele offene Fragen: Wollen wir zurück zu Tirol? Wollen wir ein völlig eigenständiges Land werden? Für welche Vorschläge gibt es bei wem Mehrheiten und in ­welchem Ausmaß? Die Autonomie hat uns unter dem Strich viel gebracht, einiges ist allerdings noch zu erkämpfen. Die Leute interessieren sich derzeit weniger für große politische Diskussionen und Debatten um Ortsnamen, sondern viel mehr für die wirklichen Probleme: Habe ich morgen noch eine Arbeit? Wie viel bekomme ich morgen noch für die Milch oder die Äpfel? Bekomme ich als Handwerker morgen noch Aufträge? Was die faschistischen Relikte betrifft, so sollte überall eine mehrsprachige Erklärung angebracht werden, damit jeder versteht, was er vor sich hat und damit sich jeder seine eigenen Gedanken zu diesen „Erinnerungen“ aus unseligen Zeiten machen kann. Helmut Moser, Kastelbell: Die Schützen ge­hören zweifellos zu unserer Geschichte, zu unserer Tradition und zu unserem Brauchtum. Schütze ist man aber nicht nur, weil man eine Tracht trägt, sondern Schütze-Sein beginnt im Kopf. Der Aufmarsch in Bruneck war des Guten zuviel. Es reicht, wenn die Schützen in einem Zeitrahmen von jeweils 5 Jahren mit einer Demonstration ein deutliches Zeichen setzen, wie dies im Vorjahr in Bozen getan wurde. Solche Zeichen sind wichtig, damit die Politik in Rom immer wieder wachgerüttelt wird, und zwar nach dem Motto: „Hoppla, die da oben sind hellwach und passen gut auf, dass ihnen die Autonomie nicht geschnitten oder gar genommen wird.“ Was gewesen ist, ist gewesen, darf aber nicht vergessen werden. Faschistische Relikte sollten meiner Meinung nach verschwinden. Nichts halte ich aber auch von übertriebenen Reaktionen und gegenseitigem Aufstacheln. Auch die Schützen lassen sich leider immer wieder politisch missbrauchen. Was wir in Südtirol derzeit brauchen, sind nicht endlose Diskussionen, sondern gute Köpfe, die ihr Denken in andere Dinge investieren, zum Beispiel in neue Ideen in der Wirtschaft, im Fremdenverkehr, im Export und in anderen Bereichen. Für wenig hilfreich halte ich das Festhalten an der festgefahrenen Parteipolitik. Eine gute Idee muss immer Vorrang haben, egal von welcher Partei oder welchem Politiker sie kommt. Die Parteipolitik ist sicher ein Grund dafür, warum immer mehr Menschen von der Politik immer weniger wissen wollen. Gianni ­Bodini, Schlanders: Die Selbstbestimmung soll nur kommen. Vielleicht ist das ­Thema dann vom Tisch. Bis vor etwa zehn Jahren hat die SVP gut gearbeitet, dann hat sie es verpasst, den Menschen mitzuteilen, dass sich die Zeiten geändert haben, dass die Grenzen gefallen sind und dass wir zu Europa gehören. Sie haben zu sehr an sich gedacht. Ich habe mit Politik an sich nichts zu tun. Meine einzige politische Leistung ist, darauf bin ich stolz, zusammen mit meiner Frau unseren Sohn so erzogen zu haben, dass er beide Sprachen spricht und sich in beiden Kulturen wohl fühlt. Marion Bernhard, Latsch: Ich habe mich mit den Ereignissen und mit der Frage der Selbstbestimmung nicht sonderlich beschäftigt. Vor kurzem bin ich von einer Afrika-Reise zurückgekommen. Ich frage mich hier in diesem reichen und schönen Land: haben wir denn keine anderen Probleme? Luciano Gusella, vor 60 Jahren in Latsch geboren: Die ganzen Kundgebungen und Aufmärsche auf beiden Seiten sind nichts als Provokationen und bringen nichts. Wenn man unter Selbstbestimmung die Gründung eines Freistaates meint, bin ich dafür. Sepp Rinner, Latsch: Die Selbstbestimmungsfrage ist total überholt. In ein paar Jahren sind wir europäisch und daran müssen wir uns gewöhnen. Dann zahlen wir überall die gleichen Steuern. Bisher sind wir mit unserer Autonomie gut gefahren und ich traue es unseren Politikern zu, dass sie sie auch weiterhin verteidigen und ausbauen. Gerlinde ­Stecher, Laas: Mit dem ­Thema Selbstbestimmung habe ich mich kaum befasst. Die Protestaktionen befremden mich irgendwie. Kürzlich hat mich ein komisches Gefühl beschlichen, als ich bei einer Laufveranstaltung auf den Trikots junger Südtiroler gelesen habe: Einheimische zuerst. Andreas ­Pirhofer, Tarsch: Grundsätzlich bin ich für das Recht auf Selbstbestimmung. Das mit den Aufmärschen finde ich angebracht. Wir müssen Zeichen setzen und uns verteidigen. Der Staat beweist immer wieder, dass er mit zweierlei Maß misst, dass er übermächtig ist, siehe Beispiel Donato Seppi in Bruneck. Zumindest die Schützen zeigen Zivilcourage. Sicherlich darf man nicht übertreiben. Protestieren ist eine Sache, protestieren, um zu provozieren aber abzulehnen. Miroslava ­Cervenáková, ­Slowakei, ­Lehrerin, seit 8 Jahren in Südtirol, betreibt eine Bar in Latsch: Ich habe von den Protesten und Diskussionen in den Zeitungen gelesen. Dort steht viel, wie auch bei uns viel über die ungarische Minderheit geschrieben wird, aber geschehen ist kaum etwas. Ich bin nicht beunruhigt, weil ich überzeugt bin, dass die vernünftigen Menschen auch in Südtirol in der Überzahl sind. Uns drücken andere Sorgen. Wir erfahren bei der ­Wohnungssuche, dass wir mit Einwanderern aus Afrika in einen Topf geworfen werden. Marion Veith, Prad: Eigentlich bin ich froh zu einem selbstbewussten Volk zu gehören, das seine Identität sucht. Die Kundgebungen und Auf­märsche drücken diese Suche zu einem großen Teil auch aus. Warum soll man dies nicht ausleben? Schade ist, dass bei uns alles so schnell ins Negative abgleitet und sich beide Seiten gegenseitig Vorwürfe machen. Relikte und Denkmäler ge­hören zur Geschichte, in der wir geworden sind, was wir heute sind.
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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