„A jeds ondere Leidn hatt i liabr“
Ingeborg Forcher

Betroffene lernen, sich selbst zu helfen

Publiziert in 35 / 2007 - Erschienen am 10. Oktober 2007
Sie ziehen sich zurück, vermeiden jeden sozialen Kontakt, ­schämen sich wegen ihrer Krankheit, die sie oft selbst nicht verstehen, fühlen sich von ­anderen nicht verstanden, glauben nicht an die Möglich­keiten der Hilfe und leiden im Stillen. Jahrelang. So mancher sieht keinen Ausweg mehr. Dann heißt es in der Todesanzeige: „Plötzlich und unerwartet von uns gegangen.“ Obwohl mittler­weile viele über die Krankheit der Depression Bescheid wissen und auch darüber informiert sind, dass es Hilfe gibt und dass man helfen kann, bleibt die Dunkelziffer jener, die sich als Betroffene keinen Rat mehr wissen, erschreckend hoch. Dies sagt Ingeborg Forcher aus Galsaun, die seit 10 Jahren die Selbsthilfegruppe für Depression und Angststörung leitet und sich auf diesem Gebiet im Laufe der Jahre aus- und weitergebildet hat. Anlässlich des Welttages der psychischen Gesundheit, der am heutigen 10. Oktober begangen wird, hat „Der Vinschger“ mit Ingeborg Forcher gesprochen. „Der Vinschger“: Psychische Erkrankungen, allen voran die Depression, gelten schon seit Jahren als Volkskrankheiten. Werden die Menschen tatsächlich immer öfter depressiv? Ingeborg Forcher: Dass heutzutage viele Menschen an Depressionen leiden, ist eine Tatsache. Der Vinschgau ist da keine Ausnahme. Das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung heraus nur allzu gut bestätigen. Das große Problem ist, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Kranken, die es in Süd­tirol gibt, behandelt wird. Der Brunecker Primar Roger Pycha schätzt, dass in Südtirol über 22.000 Menschen über Monate oder Jahre das tiefste seelische Dunkel durchleben. Rund 40 Prozent der depressiven Menschen wollen oder finden keine fachliche Hilfe. Warum sind es so viele, die ihre Krankheit einfach in sich hineinschlucken? Ingeborg Forcher: Viele Menschen, die eine persönliche Krise oder psychische Probleme haben, fühlen sich als Versager. Sie schämen sich und ziehen sich immer mehr in die Einsamkeit zurück. Ihre Angst, in ihrer Umgebung auf Unverständnis zu stoßen, ist groß. Groß ist daher auch oft die Angst, zum Haus- oder Facharzt zu gehen. In einigen Fällen wird die psychische Krankheit selbst von Ärzten einfach nicht erkannt oder nicht ernst genommen. Was geschieht mit solchen Menschen? Ingeborg Forcher: In solchen Fällen ist es leider so, dass das Risiko, chronisch zu erkranken, steigt. In den schlimmsten aller Fälle suchen die Betroffenen einen Ausweg im Suizid. Wie verzweifelt manche Menschen sind, beweisen sie nicht selten mit Aussagen wie „Keiner, der nicht selbst so leidet, weiß, was ich durchmache“, „Mich kann sowieso keiner verstehen“, „Mir kann niemand helfen“. Den Ausdruck „A jeds ondere Leidn hatt i liabr“ höre ich sehr oft. Was kann die Selbsthilfegruppe, die Sie seit 10 Jahren leiten, für Betroffene tun? Ingeborg Forcher: Die Selbsthilfegruppe, die sich jeden 2. und 4. Freitag im Monat von jeweils 19 bis 21 Uhr in der Psychosozialen Beratungsstelle der Caritas in Schlanders trifft, zeigt den Betroffenen in erster Linie Wege auf, um das eigene Wohlbefinden wieder zu gewinnen. Neue Teilnehmer werden herzlich aufgenommen. Ihnen wird Aufmerksamkeit, Respekt und Verständnis entgegen gebracht. Jeder kann bestimmen, ob er sprechen oder schweigen will, ob er das Erlebte mitteilen oder um Hilfe fragen möchte. Niemand wertet, niemand gibt unerwünschte Ratschläge. ­Außerdem sind die Betroffenen selbst die besten Experten ihres Leidens. Wenn sie anderen gegenüber sitzen, die dasselbe durchmachen, ist es leichter, sich zu öffnen, denn man weiß, dass man verstanden wird. Das ist bei Ärzten, Psychologen und Psychiatern oft anders, wenngleich ich ­deren Arbeit als unbedingt notwendig und hilfreich erachte. Wir sehen uns keineswegs als Konkurrenz zu den Fachleuten, sondern als Ergänzung und zusätzliche Hilfe. Gibt es nicht auch innerhalb der Gruppe Hemmschwellen? Ingeborg Forcher: Natürlich gibt es bestimmte Schwellen. Wenn die Teilnehmer aber fühlen, dass sie ihre eigenen Erfahrungen ungezwungen mit anderen Menschen, die ja auch Betroffene sind, austauschen und besprechen können, entsteht ein Klima des gegenseitigen Respekts. Am meisten wird geschätzt, dass jeder ­akzeptiert wird und zwar so, wie er ist, und dass jeder sagen darf, wie schwer es zum Beispiel ist, am Morgen aufzustehen, ohne sich erneut Kommentare von anderen Menschen anhören zu müssen wie etwa: „Es braucht nur ein wenig guten Willen“ oder „Siehst du nicht, wie schön das Wetter heute ist?“. Außerdem können wir in der Gruppe einfache Tipps und Ratschläge zur Bewältigung des Alltags geben. Oft handelt es sich nur um Kleinigkeiten, die für die Betroffenen aber sehr wichtig sind. Ich nenne ein Beispiel: Für eine Frau, die ­depressiv ist, kann das Einkaufen zum Horror werden. Wir raten daher, den Menschenrummel am Vormittag zu meiden und am Nachmittag einzukaufen, wenn es ruhiger ist. Kann man mit Reden allein wirklich viel bewirken? Ingeborg Forcher: Reden ist ungemein wichtig. Mir ist völlig klar, dass der Betroffene zur Überbrückung von akuten Phasen Medikamente, sprich Antidepressiva, braucht. Ich sehe in diesen Medikamenten eine Krücke, ohne die der Betroffene kaum wieder auf die Beine kommt. Auch die Notwendigkeit von Fachtherapien, speziell der Gesprächstherapie, stelle ich keinesfalls in Frage. Im Gegenteil, oft sind es wir in der Gruppe, die den Betroffenen Therapien anraten und ihnen auch Adressen von Fachstellen und Fachärzten geben. Reden hat aber auch in der Gruppe einen sehr großen Stellenwert. Schon allein deshalb, weil das Schweigen die depressive ­Störung aufrecht hält. Kann auch das Reden mit Angehörigen und Freunden hilfreich sein? Ingeborg Forcher: Natürlich, nur geschieht das viel zu selten. Viele stehen dem Problem mit einer gewissen Ohnmacht gegenüber. Oft wird nur das getan, was nicht geschehen sollte: Man wartet und wartet und man hofft, dass es dem Betroffenen irgendwann von selbst besser geht. Das ist falsch, denn wenn Dinge, die lange Zeit verschwiegen wurden, mit jemandem besprochen werden, tut sich eine neue Sichtweise auf. In der Depression ist der Betroffene weder imstande, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen noch die Beziehung zu sich selbst zu finden. Solange er seine Seele nicht wiedergewinnt, ist er kein wirklicher Mensch, ist er „nicht da“. In seinem Herzen aber bleibt die Sehnsucht: Wer hört mir zu? Wem kann ich mein Herz ausschütten? Wer kann mich annehmen mit meinem Leid und meinem Schmerz? Was Betroffene suchen, ist der Zuhörer: Gibt es ihn? Es gibt aber auch Betroffene, die Angst haben, sich in der Gruppe sehen zu lassen bzw. sich dort zu äußern. Ingeborg Forcher: Natürlich gibt es auch Leute, die davor Angst haben, zu unseren Gruppentreffen zu kommen. Dies ist auch der Hauptgrund dafür, dass wir seit heuer im Krankenhaus in Schlanders jeden Montag von 17 bis 19 Uhr kostenlose Einzelgespräche anbieten. Diese Form der Einzelgespräche wird landesweit nur hier im Vinschgau angeboten. Nehmen die Betroffenen dieses Angebot auch wahr? Ingeborg Forcher: Seit Jänner bis jetzt waren es 19 Personen. Die Zahl mag niedrig klingen, aber wenn man bedenkt, dass hinter jeder einzelnen Person die Entscheidung steht, sich anzumelden und auch hinzugehen, ist die Zahl 19 hoch. Für den Betroffenen ist es wichtig, den ersten Schritt heraus aus der Isolation zu wagen. Wie viele Personen kommen zu den Gruppentreffen? Ingeborg Forcher: In ersten Jahren nach der Gründung, die am 26. November 1997 erfolgt ist, sind bis zu 15 Personen und mehr zu den Treffen gekommen, und zwar Menschen aller Altersklassen und mit allen Krankheitsbildern, die von der Schizophrenie über die Angststörung und Depression bis hin zu Panikattacken reichten. Ich selbst habe seinerzeit unter Panikattacken gelitten. Dies war auch der Grund, warum ich mich immer stärker mit den Themen rund um die psychische Gesundheit befasste und weiterhin befasse. Was hat sich in den 10 Jahren geändert? Ingeborg Forcher: Zu Beginn waren psychische Erkrankungen noch weitgehend tabu. Oft hatten weder der Betroffene noch die Angehörigen und Bekannten Mut genug, das Thema überhaupt anzusprechen, geschweige denn Hilfe zu suchen. Mittlerweile sind psychische Erkrankungen immer mehr zu einem Thema der Medien geworden. Dennoch bin ich immer wieder überrascht, wie viele Leute es auch heute noch gibt, die nicht informiert sind. Auch heute noch glauben Betroffene, dass es keinen Ausweg aus ihrem Leidensweg gibt und dass es nicht möglich ist, ihnen zu helfen. Im Gesundheitswesen hat sich in den letzten 10 Jahren ebenfalls einiges getan, wenngleich ich beobachte, dass so manche Dinge nur auf dem Papier existieren. Im Alltag ist es leider noch allzu oft so, dass ein Betroffener beim besten Willen nicht weiß, wohin oder an wen er sich wenden kann. Auch über viele andere Dinge wissen viele nicht Bescheid. So sind sogar Betroffene manchmal nicht darüber aufgeklärt, dass z.B. Antidepressiva eine Erst-Verschlechterung zur Folge haben und dass sich der Gesundheitszustand erst in einer zweiten Phase bessert. Neigen eher Männer zu Depressionen oder Frauen? Ingeborg Forcher: Aufgrund meiner Erfahrungen sind Frauen öfter betroffen. Frauen, die zum Beispiel auf Bergbauernhöfen leben, wo die Männer noch nach althergebrachter Tradition „reg­ieren“. Ich könnte da so einige Beispiele aufzählen. Einmal hat ein Bergbauer seiner Frau, die unter schweren Depressionen litt, vorgeschrieben, allein mit dem Zug zur psychischen Behandlung nach Schlanders zu fahren. Heim gefahren ist sie auch allein. Das mag zwar etwas banal klingen, ist er aber nicht. Wenn bei Frauen, die ohnehin depressiv sind, zum Beispiel noch die Wechseljahre dazu kommen, gerät der Mann nicht selten völlig aus dem Häuschen. Und wenn die Frau in ihrer depressionsbedingten Konzentrationsschwäche auch nur einmal vergisst die Suppe zu salzen, fragt der Mann: „Jo konnsch iatz kochn a nimmr?“. Betroffen sind natürlich auch Männer, Jugendliche und zunehmend auch Kinder. Ich hoffe sehr, dass sich die Dinge mit dem Aktionsprogramm „Europäische Allianz gegen Depression“, an dem auch Südtirol beteiligt ist, weiter verbessern. Dieses Aktionsprogramm sieht auch eine stärkere Einbindung der Hausärzte vor. Das halte ich für besonders wichtig. Was hat sie in der Gruppe bzw. bei Einzelgesprächen besonders positiv beeindruckt? Ingeborg Forcher: Das Schönste, was ich oft mit nach Hause nehmen durfte, war der Gesichtsausdruck der Betroffenen. Nicht der schwere, hoffnungslose Ausdruck, den sie hatten, als sie kamen, sondern jener, mit dem sie gingen. Interview: Sepp Laner „Niemand vermag besser zu trösten, als wer Gleiches erfahren und durchlitten hat“ Selbsthilfegruppe für ­Depression und Angststörung Treffpunkt für die Selbsthilfegruppe (SHG): Beratungsstelle der Caritas in Schlanders jeden 2. und 4. Freitag im Monat von 19.00 – 21.00 Uhr. Auskunft, Anmeldung und Erstgespräch bei Ingeborg Forcher, Tel. 0473 624558. Der Einstieg in die SHG ist jederzeit möglich, die Teilnahme ist kostenlos. Jeden Montag Einzelgespräche im Krankenhaus Im Krankenhaus von Schlanders (1. Stock, Zimmer 1006) werden jeden Montag von 17.00 bis 19.00 Uhr kostenlose Einzelgespräche für Betroffene, Interessierte und Patienten angeboten. Für die Einzelgespräche ist eine Anmeldung erbeten. Nähere Informationen bei Ingeborg Forcher, Tel. 0473 624558.
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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