„Bikegeisterung“ hat den Vinschgau erfasst
Publiziert in 25 / 2015 - Erschienen am 8. Juli 2015
Der Bike-Tourismus hat im Vinschgau Fuß gefasst. Daraus ist seit 15 Jahren eine „Frischzellenkur“ für die Vinschger Wirtschaft geworden.
Es ist schwer vorstellbar. „Zwischen 5 und 8 Prozent Nächtigungen gehen im Vinschgau auf das Konto der Biker.“ Nur? Das fragen sich alle, die beim 1. Ortler Bike Marathon inmitten der 1.550 Starter gestanden sind. Woher sind dann die täglichen 800 bis 1.200 Fahrer bei den vier „Trail Days“ des weltgrößten Serienproduzenten „Specialized“ im Tarscher Tal gekommen? Und die Teilnehmer bei sieben Tage „Women Camp“ oder der dreitägigen „Trail Trophy“ in Latsch? Bei seiner groben Schätzung bezog sich Vinschgau Marketing-Direktor Kurt Sagmeister ausdrücklich auf jene Gruppe Biker, deren Hauptreisemotiv das Biken ist. Trotzdem ist es kaum zu verstehen. Dabei hat man ja nur jene Zeitgenossen auf zwei Rädern vor Augen, die als Cross Country-Fahrer Forstwege beleben und Almen stürmen oder als Enduro-Biker gern 500 bis 700 Meter hochtreten, um über „geile Trails“ abzufahren. Von der kleinen Gruppe der Könner, der „Freerider“, geht aber jene unbezahlbare Tourismus-Werbung aus, der der Vinschgau den Ruf als Biker-Paradies verdankt. Wenn er eine Gegend „unendlich flowig“ nennt, hat der Mountainbiker das größtmögliche Kompliment gemacht.
„Matze“ entdeckt das Mountainbiken
Das englische Wörtchen „flow“ für fließen und strömen steht für Streckenbeschreibung und Lebensgefühl zugleich. Es ist vielen Zufällen, dem Obstbau in der Talsohle, den Aufstiegsanlagen auf beiden Talseiten und der Sonneneinstrahlung zu verdanken, dass die Gemeinde Latsch zum Trail-Paradies im Biker-Paradies Vinschgau wurde. Sogar der Fußball spielte eine Rolle. Dem Goldrainer Martin Gruber, in Biker-Kreisen „Matze“ genannt, hatte man von einer Knieoperation abgeraten und das Radfahren empfohlen. Das war 1986. Weil der Fußballer Matze es nicht schaffte, vom Weiler Ratschill noch bis nach St. Martin zu treten, versuchte er durch‘s „Mühlental“ nach Goldrain abzufahren. Es war das entscheidende Erlebnis. Gruber verließ den Arbeitsplatz in der Bank. Er verwendete seine EDV-Kenntnisse, um Karten zu entwerfen, über „Global Positioning Systems“ (GPS) Routen aufzuzeichnen und sie den Hotels anzubieten. Das war um die Jahrtausendwende. Drei Jahre später sammelten Gruber und Siegfried Rinner, der spätere Direktor des Bauernbundes, Gleichgesinnte um sich, gründeten den Verein „Mountainbiker.it“ und ließen Friedrich Haring vom „KulturforumVinschgau“ um eine Ausbildungsförderung beim Europäischen Sozialfond (ESF) ansuchen. Der erste „Radwanderführer-Kurs“ ging 2004 über die Bühne. Man wagte es nicht, den Ausdruck „Bike Guide“ zu übernehmen. Ebenfalls um 2000 hatte der Tourismuseinsteiger Roman Schwienbacher in Tarsch begonnen, sich mit Biken und GPS zu befassen. In Latsch stellte der Hotelier Martin Pirhofer Angebote für Biker und Golfer ins Netz. Mit den Golfern fiel er auf die Nase, ans Biken verlor er sein Herz.
Das Bike-Testival
war der Durchbruch
Eine entscheidende Zeitmarke für den Biketourismus im Vinschgau war das Jahr 2005. Martin Pirhofer eröffnete das erste Bike-Fachgeschäft in Latsch. 2005 stellte der Tourismusverein Vinschgau stolz das Interreg-Projekt „Rad&Bike-Arena“ vor. Zur selben Zeit wurden die ersten zehn „Radwanderführer“ im Biker Park von Latsch ausgebildet, darunter Siegfried Weissenhorn aus Mals und Klaus Nischler aus Naturns. Und das Rad drehte sich weiter. Es entstanden Radvereine und Bike-Sektionen in Sportvereinen. Tausende Biker erklommen beim „Stelvio Bike“-Tag das Stilfserjoch. Mit der Vinschgerbahn nach Mals und mit dem Rad nach Meran wurde zur immergrünen Attraktion. Der Vinschgau wurde zum beliebten „Transalp-Korridor“. Den Durchbruch zum Biketourismus in der Gemeinde Latsch brachte aber das erste Bike-Testival. Martin Pirhofer schaffte es auf der Lenzerheide, den Herausgeber des Magazins MountainBIKE für den Standort Latsch zu begeistern. Über die Südtiroler Marketinggesellschaft (SMG) und mit Unterstützung des Schlandersers Kurt Ratschiller wurde die große Produktshow nach Latsch geholt. Das war 2006. Im selben Jahr gründete Matze die Gesellschaft VinschgauBIKE. „Zweifellos hat sich der knorrige Bike-Maniac aus Goldrain um den Biketourismus in Südtirol sehr verdient gemacht“, wird Rolf Glaser 2011 in seinem Buch „Vinschgau. Das Trailparadies“ schreiben. Matze war ständig um die Ausbildung von weiteren Vinschger Bikeguides bemüht. Sogar Betreiber von 4-Sterne Häusern in Latsch und Naturns nahmen teil.
Rebellion der Grundbesitzer
Zur selben Zeit machte sich Martin Pirhofer unbeliebt, weil er das Projekt „Rad&Bike-Arena“ kritisierte: „Es geht nichts weiter, obwohl wir im Tal die besten Voraussetzungen hätten.“ Der „größte Bike-Guide Europas“ - „Piri“ misst zwei Meter - gründete mit fünf bikeverrückten Touristikern das „Biker Eldorado“, nach dem Motto „Hier guidet der Chef persönlich“. Die Gründerwelle schwappte weiter. Durch die Eröffnung der „Ötzi Bike Academy“ in Naturns ermöglichte Klaus Nischler die Bike-“Highline Meran(o)“ zwischen Marzoneralm und Vigiljoch. In Mals wurde Siegi Weissenhorn mit seiner Schule „Südtirol Bike“ zum „Alpencross-Shuttle-Unternehmer“. In der neuen Ausgabe seines Buches „Mountainbiken im Vinschgau“, wird er mit „Stellungswechsel“ Routen zwischen Stellungen des 1. Weltkrieges vorstellen. 2009 brachte Josef Bernhart (EURAC) den GPS-Mountainbike Cup nach Latsch. Zur selben Zeit kämpfte man gegen die Landplage der „Downhiller“– Im nordwestlichen Vinschgau, in der Ferienregion Reschenpass, entdeckte man das „Enduro-Biken“. Bei vier Aufstiegsanlagen, Panoramarunden mit traumhaften Tiefblicken auf die Seen bot sich das an. Im Unteren Vinschgau tobte indes der „Kartenstreit“. Grundbesitzer hatten gegen Martin Grubers Routenkarte rebelliert, aber es kam zu einer Einigung und zur Einsicht, dass nur der Biketourismus ein echtes Wachstumssegment darstellt. In Latsch wurde das aus der Schweiz importierte „Trail Tolerance“ zum Konzept. Die Beschilderung wurde zum Modell für Südtirol. Martin Gruber durfte im Auftrag der Gemeinde Schlanders zwei Bike-Wege schaffen, die längst Legenden sind. Siegi Rinner hatte Recht: Der Biketourismus ist die Frischzellenkur für die Vinschger Wirtschaft.
Die Wanderer nicht verschrecken
„Wir wollen unsere Hauptzielgruppe, die Wanderer, nicht verschrecken“, betonte Vinschgau Marketing-Direktor Kurt Sagmeister. Es sei in Zukunft wichtig, die Biker zu lenken. Dass sie leicht lenkbar sind, meinte „Matze“ Gruber in Goldrain. „Heute ist nicht mehr nötig, groß die Werbetrommel für einen bestimmten Weg zu schlagen“, ergänzte das Urgestein der Biker-Szene im Vinschgau. „Mehr bewirkt, wenn gelesen wird, man ist dabei, die Wege zu pflegen.“ Eher unerwartet schloss er seine Überlegungen: „Wir dürfen auf keinen Fall die Wanderer vergessen.“ 2014 hat eine Umfrage unter den Lesern von „Bike – das Mountainbike Magazin“ ergeben, dass 38 Prozent (der befragten Biker) ihren Italien-Urlaub am Gardasee verbracht haben. Um 8 Prozent weniger als 2013. Im Vinschgau haben 16 Prozent geurlaubt (keine Vergleichszahlen zu anderen Jahren). Starke Abnahmen ergab die Umfrage in allen anderen oberitalienischen Regionen. In verschiedenen Interneteintragungen häuften sich Hinweise auf inkompetente Service-Stellen, Unfreundlichkeit, überlaufene Gegend und schlechtes Kartenmaterial, bezogen auf das Gebiet um das „Mamma-Revier Gardasee“ (O-Ton Martin Gruber). Einen Überblick zu bekommen über die Anteile an Nächtigungen der Mountainbiker oder Gelegenheitsbiker zu den Wanderern im Vinschgau ist unmöglich – zumindest noch. Punktuelles Nachfragen unter Tourismusvereinen oder Betrieben ergab in den meisten Fällen nur vorsichtige Schätzungen.
Erfahrungen des Unteren Vinschgaus nutzen
Übereinstimmend wurde die Arbeit der fünf Bikerschulen in Mals, Goldrain, Latsch und Naturns als hervorragend und als Grundlage für den Bike-Tourismus gesehen. Marita Holzner stellte im Tourismusbüro von Partschins fest: „Der Wanderer fragt, wo er hingehen könnte, der Biker fragt eher nach einem Gartenschlauch, um sein Bike zu säubern“. Der Biker sei informiert und könne mit modernen Medien umgehen. Sie finde es gut, dass im untersten Vinschgau der Sonnenberg dem Wanderer und der Nörderberg dem Biker vorbehalten bleibe. Priska Theiner stellte in Kastelbell viel Bewegung fest, seit der Nörderberg für Biker erschlossen worden ist. In Schlanders häufen sich begeisterte Rückmeldungen über den „Holy Hansen-Trail“ am Nörders- und den „Propain-Trail“ am Vetzaner Sonnenberg. David Stocker, Tourismusverein Latsch-Martell, weiß um die Pionierarbeit, die in Latsch für den ganzen Vinschgau geleistet worden ist. Den Anteil der Biker schätzt er auf 20 bis 30 Prozent. Peter Pfeifer kennt in Prad „motivierte Betriebe“ und nennt sein Dorf einen „hervorragenden Ausgangspunkt“ für Biker. Man sei dabei, Grundnutzungsgenehmigungen einzuholen. Silvia Tumler in der Ferienregion Obervinschgau merkt, dass Biker die Obervinschger Landschaft mehr und mehr schätzen, und stellt ein starkes Aufkommen des Bike-Tourismus fest; Hauptgast sei aber immer noch der Wanderer. In der Ferienregion Reschenpass weiß Uli Stampfer, wie man die Fehler vermeiden und sich positive Erkenntnisse aus dem Unteren Vinschgau zunutze machen kann. „Wir haben großes Potential durch die Weitläufigkeit der Gegend, die Pässe und Übergänge in der Nähe, durch die Via Claudia Augusta, die alten Militärstraßen und die Aufstiegsanlagen auf die Haideralm, in Schöneben, in Nauders und am Mutzkopf“, stellte er fest. Welche Rolle der Zukunftsmarkt des Elektrobikes im Vinschgau spielen wird, ist nicht Gegenstand dieser Ausführungen. Ein Ausstrahlen des Biketourismus in die Seitentäler ist vorstellbar.
Günther Schöpf