„Gezielt helfen, statt zu hoffen“
Präzisionsonkologie als nächste Generation der Krebsmedizin.
Meran/Vinschgau - Keine andere Erkrankung nimmt derzeit so stark zu wie die Tumorerkrankung. Die Krebsforschung ist daher gefordert, noch genauere und schnellere Diagnosemethoden und Therapien zu entwickeln. Unter den zahlreichen Wissenschaftlern weltweit befindet sich auch der aus Meran stammende Andreas Seeber. Er ist derzeit damit beschäftigt, im Burgenland ein Tumorzentrum aufzubauen. Der 1984 geborene Onkologe hat in Meran das Realgymnasium besucht und anschließend in Innsbruck Medizin studiert, wo er später auch seinen PhD in Krebsforschung absolvierte. Immer wieder zieht es den engagierten Wissenschaftler nach Meran ins Krankenhaus, wo seine praktische Ausbildung begann. Im November konnte er nun auch seine Habilitation in Italien abschließen. Die Bezirkszeitung der Vinschger konnte bei dieser Gelegenheit ein ausführliches Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Andreas Seeber über seine Studien, seine Forschungsprojekte und seine mögliche Rückkehr nach Südtirol führen.
der Vinschger: Herr Seeber, Sie haben im Oktober beim 11. Treffen des Südstern Health and Science Forum Südtirol einen Vortrag zur Präzisionsonkologie gehalten. Wie sind Sie eigentlich zum Studium der Medizin und Spezialisierung Innere Medizin mit Schwerpunkt Onkologie gekommen?
Andreas Seeber: Ich wollte schon früh etwas tun, das Sinn stiftet und Menschen direkt hilft. Während meines Studiums habe ich rasch gemerkt, dass mich die Onkologie besonders fasziniert – weil sie Medizin, Wissenschaft und Menschlichkeit in einzigartiger Weise verbindet. Jede Krebserkrankung ist anders, jeder Patient hat eine Geschichte, und das fordert uns, individuell zu denken und zu handeln. Diese Mischung aus Empathie, Verantwortung und Wissenschaft hat mich nie mehr losgelassen.
Welches ist Ihr Antrieb, sich so stark für die Forschung und Umsetzbarkeit im Klinikalltag einzusetzen?
Forschung ist kein Selbstzweck – sie soll das Leben der Patientinnen und Patienten verbessern. Mich motiviert der Gedanke, dass neue Erkenntnisse aus dem Labor eines Tages einem Menschen helfen können, länger oder besser zu leben. Das treibt mich an, auch nach langen Tagen noch dranzubleiben.
Wie hat sich die Onkologie in den letzten zehn Jahren verändert und welche Rolle spielt heute die molekulare und präzisionsbasierte Onkologie in der Behandlung von Krebserkrankungen?
Früher war Krebsbehandlung vor allem Chemotherapie, Bestrahlung und Operation. Heute verstehen wir Tumoren als hochkomplexe, genetisch unterschiedliche Erkrankungen. Dank moderner molekularer Diagnostik können wir gezielt jene Schwachstellen im Tumor finden, die wirklich entscheidend sind. Das heißt: Wir behandeln nicht mehr „den“ Krebs, sondern den individuellen Tumor eines Menschen. Das ist Präzisionsonkologie – maßgeschneiderte Therapie statt Gießkannenprinzip.
Sie haben in Innsbruck das Molekulare Tumorboard mitaufgebaut. Was genau passiert dort, und warum ist das so wichtig?
Im Molekularen Tumorboard sitzen Ärztinnen, Molekularbiologen, Humangenetiker und Pathologen gemeinsam am Tisch und analysieren die komplexen genetischen Daten eines Tumors im Detail. Ziel ist, für jeden Patienten die bestmögliche, individuell angepasste Therapie zu finden. So entstehen oft Behandlungswege, die es vor wenigen Jahren noch gar nicht gab. Es ist Teamarbeit auf höchstem Niveau – und gleichzeitig ein Symbol für moderne, vernetzte Medizin.
Welche Ihrer Forschungsprojekte liegen Ihnen persönlich besonders am Herzen und warum?
Besonders spannend finde ich unsere Projekte zu neuen genetischen Veränderungen bei Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Hier versuchen wir, Muster zu erkennen, die erklären, warum manche Therapien bei bestimmten Patienten wirken und bei anderen nicht. Wenn wir das verstehen, können wir gezielt helfen, anstatt zu hoffen. Und genau das ist der Kern der Präzisionsonkologie.
Wie kann man modernste Forschung – Genetik, künstliche Intelligenz, molekulare Profilierung mit der Realität im Klinikalltag verbinden und wird der klassische „Chemo-Ansatz“ irgendwann überholt sein?
Die klassische Chemotherapie wird sicher noch eine Weile eine wichtige Rolle spielen, aber sie wird immer gezielter eingesetzt. Forschung und Klinik müssen dabei Hand in Hand gehen. Moderne Technologien wie KI helfen uns, Datenmengen zu verstehen, die früher unmöglich auszuwerten waren. Das Ziel ist nicht, die Medizin zu „technisieren“, sondern sie menschlicher zu machen – weil wir dank besserer Daten individuellere Entscheidungen treffen können.
Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungszentren – etwa mit Innsbruck, nationalen oder internationalen Partnern, und könnte Forschung auch am Standort Krankenhaus Meran betrieben werden?
Forschung braucht Vernetzung, keine geografischen Grenzen. Vieles kann heute auch außerhalb von Universitätskliniken passieren – wenn der Wille, die Struktur und die Zusammenarbeit da sind. Gerade in der Onkologie profitieren alle, wenn Wissen geteilt wird. Mein Ansatz ist immer: Forschen dort, wo Patienten sind.
In welchen Fachgremien sind Sie überall vertreten? und in wie viele Publikationen scheinen Sie zurzeit auf?
Ich bin in mehreren wissenschaftlichen Fachgesellschaften und internationalen Netzwerken aktiv, zum Beispiel in der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie oder in der Austrian Breast & Colorectal Cancer Study Group sowie im internationalen Precision Oncology Alliance. Ich habe mittlerweile sehr viele wissenschaftliche Publikationen verfasst oder mitverfasst. Aber am Ende zählt nicht die Zahl, sondern was die Ergebnisse für unsere Patientinnen und Patienten bedeuten.
Wie schaffen Sie es, Ihren Beruf als Arzt, Forscher, Dozent mit Ihrer Familie in Einklang zu bringen?
Das ist manchmal eine Herausforderung – aber meine Familie gibt mir Kraft. Ich habe zwei kleine Kinder, und sie erinnern mich täglich daran, worum es im Leben wirklich geht. Sie helfen mir, Abstand zu gewinnen, und gleichzeitig sind sie meine größte Motivation, mich für die Medizin von morgen einzusetzen. Letztendlich sind aber die Nächte oft kurz, da ich viel arbeite, wenn meine Kinder schlafen.
Wenn Sie auf Ihre bisherige Laufbahn zurückblicken: was gibt Ihnen Ihre größte Genugtuung?
Wenn ein Patient sagt: „Danke, dass Sie mich verstanden haben“, dann ist das der Moment, in dem alles Sinn ergibt – die langen Nächte, die Forschung, der Stress. Und wenn aus Forschungsergebnissen tatsächlich neue Therapien entstehen, ist das natürlich ein besonderer Moment der Freude.
Was möchten Sie jungen Ärztinnen und Ärzten mitgeben, die sich heute für die Onkologie interessieren?
Habt keine Angst vor der Komplexität und den raschen Veränderungen. Onkologie ist herausfordernd, aber unglaublich erfüllend. Es geht nicht nur um Medikamente, sondern um das Begleiten von Menschen in schwierigen Lebensphasen. Wer sich darauf einlässt, bekommt unendlich viel zurück.
Könnten Sie sich vorstellen, früher oder später nach Südtirol zurückkehren und eventuell auch als Primar in Meran zu arbeiten?
Südtirol ist und bleibt meine Heimat, und ich fühle mich der Region sehr verbunden. Ich verfolge mit großem Interesse, wie sich das Gesundheitswesen und die Onkologie hier entwickeln. Für mich ist wichtig, dass moderne Medizin, Forschung und Menschlichkeit zusammenkommen – wo auch immer das möglich ist. Wenn ich eines Tages dazu beitragen kann, dieses Ziel auch in Südtirol zu stärken, wäre das natürlich etwas sehr Schönes.
Ist die Gehaltssituation in Österreich wesentlich anders als in Südtirol?
Ja, es gibt Unterschiede, und Österreich steht mittlerweile deutlich besser da – aber Geld war für mich nie die Hauptmotivation. Wichtig ist, dass man gute Bedingungen hat, um Medizin auf hohem Niveau machen zu können: Zeit für Patienten, Raum für Forschung, und Teams, die zusammenhalten.
Welche Vision haben Sie für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass Präzisionsonkologie kein Zukunftsbegriff mehr ist, sondern Alltag, dass jeder Patient Zugang zu einer individuellen, modernen Behandlung hat, egal wo er lebt. Und dass wir Ärztinnen und Ärzte den Mut behalten, menschlich zu bleiben, auch wenn die Medizin immer komplexer wird.
Was macht Andreas Seeber, wenn er nicht forscht oder arbeitet?
Dann bin ich am liebsten mit meiner Familie unterwegs – mit unseren Kindern auf dem Spielplatz, beim Puzzlebauen oder wenn wir gemeinsam kochen. Ich koche leidenschaftlich gerne und liebe es, mit meiner Verlobten neue Dinge zu entdecken – neue Städte, besondere Orte, spannende Ausblicke. Diese gemeinsamen Erlebnisse geben mir Energie und Inspiration für alles andere.