Strom ahoi! …auf in die zweite Runde
„Segel hoch“ für die zweite Phase im Kampf um eine eigenständige Energieversorgung.

Der Vinschgau will auch die Stromverteilung an Land ziehen

Publiziert in 34 / 2008 - Erschienen am 1. Oktober 2008
Graun – Eine Strommenge von 1,3 Milliarden Kilowatt­stunden wird im Vinschgau pro Jahr von den großen Wasser­kraftwerken produziert. Der Großteil fließt allerdings über zwei Hochspannungsleitungen, die über das Stilfserjoch und über Ulten führen, in den ober­italienischen Raum ab. Der Strombedarf des ­Vinschgaus liegt bei 180 ­Millionen Kilowattstunden. Wenn es den Vinschger Gemeinden gelingt, selbst über soviel Strom zu verfügen, um diesen Bedarf zu ­decken, und wenn der Vinschgau noch dazu das Verteilernetz bekommt und den eigenen Strom selbst verteilen kann, rückt das gemeinsame Ziel, nämlich günstigere Strompreise für die Familien und die Wirtschaft, in greifbare Nähe. Zehn Jahre lang haben die Vinschger Gemeinden gekämpft und sich am Ende eine 8-prozentige Beteiligung an der Reschen­stausee-­Konzession erstritten. Bei der Marteller Konzession, die 2011 ausläuft, haben die drei An­rainergemeinden ­Martell, Laas und Latsch zusammen mit der Genossenschaft Vinschgauer Elektri­zitätskonsortium (VEK) den Fuß bereits in der Tür und auch bei weiteren Wasserableitungen (zum Beispiel ­Langtaufers oder Haidersee) will der Vinschgau nichts ver­säumen. Stand in der ersten Phase des Vinschger „Stromkrieges“ die Produk­tion im Mittelpunkt, so geht es in der jetzigen zweiten Phase um die Stromverteilung. ­Offiziell eingeläutet haben diesen „­zweiten Akt“ der Energie­fachmann ­Georg Wunderer aus Prad, der Bezirkspräsident Josef ­Noggler und der Grauner Bürger­meister Albrecht Plangger am 26. September auf einer Presse­konferenz im „Schlössl“ am ­Reschensee. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt des jahrelangen „Stromkampfes“ ist die Tatsache, dass die 13 Vinschger ­Gemeinden im Vergleich zu früheren Zeiten viel mehr zusammenhalten und zu­sammenarbeiten, und das nicht nur in der Energiefrage. Zur gemeinsamen Fahrt auf der „MS Hubertus Interregio“ vom Alt-Grauner Kirchturm bis zum „Schlössl“ und zur anschließenden Kundgebung hatten sich nicht nur viele Bürgermeister eingefunden, sondern auch zahlreiche Vertreter von E-Werken, Fernheizwerken und Energie­genossenschaften sowie weitere Akteure im Energie­sektor. „Energie im Vinschgau – ­lokal organisiert“. Unter diesem Motto blickte Georg Wunderer auf die Geschichte der Seestauung am Reschen zurück, an die ­ersten Versuche zum Aufbau ­einer eigenständigen Energieversorgung von zehn ­Jahren und an die nie erloschene Hoffnung auf eine Wiedergutmachung des rücksichtslosen, jahrzehntelangen Raubbaus. Es sei gelungen, die Bevölkerung des ganzen Tales für das Thema Energie hellhörig zu machen und im Sog dieser „Vinschger Energiethematisierung“ sei eine Reihe neuer energiewirtschaftlicher Unternehmungen entstanden. „Ab 1998 bis jetzt sind im Vinschgau zu den damals bestehenden 7 Unternehmungen weitere 20 dazu gekommen,“ so Georg Wunderer. Es entstanden genossenschaftlich organisierte Wasserkraftwerke, Fernheizwerke, Biogasanlagen, Anlagen zur Nutzung der Windkraft und weitere energiewirtschaftliche Unternehmungen. Den Jahresumsatz der ein­heimischen Energieunter­nehmer bezifferte Wunderer mit 22,5 Millionen Euro. Die 13 Energiegenossenschaften im Tal bedienen derzeit 3.894 Mitglieder. Wärmeabnehmer gibt es 3.000, Stromabnehmer 7.000. Das Ziel der Vinschger Energieakteure war laut Wunderer von Anfang an, eine eigenständige und flächen­deckende Energieversorgung im Tal zu erreichen. Daher gelte es jetzt, das ENEL-Verteilernetz zu übernehmen. Außerdem fordert der ­Vinschgau, an den Großableitungen in dem Maß beteiligt zu werden, dass der gesamte lokale Strombedarf im Sinne der ­Wiedergutmachung gedeckt werden kann. Nachdem es gelungen ist, in Graun mehrere Energie-Genossen­schaften zu gründen, „hat sich die finanzielle Situation der Gemeinde schlagartig ge­ändert,“ sagte Albrecht Plangger. Früher hätte die Gemeinde bei jeder Kleinigkeit den Hut aufhalten müssen. Leicht sei der „Stromkampf“ nicht gewesen, aber man habe doch einiges erreicht, speziell im Bereich der Produktion, „auch wenn 100 andere Gemeinden nichts unternommen haben und am Ende viel früher ‚absahnten’ als wir hier im Vinschgau. Und wenn wir uns nicht ­wehren, kann uns bei der Marteller Konzession dasselbe passieren.“ Zurücklehnen dürfe sich der Vinschgau nicht, „denn in der jetzigen zweiten Phase geht es darum, die Stromverteilung an Bord zu holen.“ Oberstes Ziel muss es laut Albrecht Plangger und Josef Noggler sein, den ­Familien und Betrieben im ganzen ­Vinschgau reduzierte Tarife anbieten zu können. Plangger: „Die derzeitige Reihenfolge heißt leider Land, Edison und erst dann Gemeinden. Diese Rangliste ist falsch und gehört auf den Kopf gestellt, der erste Platz muss der örtlichen Bevölkerung eingeräumt werden, wie das zum Beispiel in der benachbarten Schweiz der Fall ist“. Nur wenn der Vinschgau das Verteilernetz bekommt, wird es laut Noggler und Plangger gelingen, den Strom künftig zu Tarifen anzubieten, wie sie derzeit zum Beispiel die Genossenschaft Energie-Werk-Prad anwendet. Wie berichtet, ist Landesrat Michl Laimer grundsätzlich damit einverstanden, dass der Vinschgau die Verteilung übernimmt. Leicht aber dürfte dieser Kampf dennoch nicht werden. Wie VEK-Präsident Josef ­Noggler informierte, hat das VEK nun mit Florian Pinggera auch eine erste Fachkraft verpflichten können. Das VEK ist nicht nur im Stromsektor ­tätig, sondern auch in anderen Energiebereichen, so etwa im gemeinsamen Hackschnitzelankauf für die Fernheizwerke im Tal. Die Beteiligung an der Reschensee-Konzession bringt laut Noggler pro Jahr rund 1,5 Millionen Euro in die Gemeindekassen. Das sei auch recht und billig, denn im landesweiten Vergleich der Einkünfte pro Familie seien die Vinschger Gemeinden „ziemlich weit ­hinten“ zu finden. Besonders arg sei es um Martell bestellt, „sodass vor allem diese Gemeinde allen Grund hat, an der Wasserkraftnutzung in ihrem Tal endlich angemessen beteiligt zu ­werden.“ „Energie im Vinschgau – ­lokal organsiert“ heißt auch die ­Broschüre, die im „Schlössl“ vorgestellt wurde und die in Kürze in alle Vinschger Haushalte flattern wird. Die Bro­schüre gewährt einen gediegenen Einblick in den „Stromkrieg“ und in die derzeitige Energie­situation im Vinschgau. Weiters zeigt sie die Vielfalt der Nutzung lokaler Ressourcen auf: Wasserkraft, Biomasse, Wind, Fotovoltaik, Biogas. Zudem enthält die Broschüre Stellungnahmen sowie auch Interviews mit Georg Wunderer, Josef Noggler, Albrecht Plangger und dem Fernwärme-Kämpfer Siegfried Stocker. Die Protagonisten nehmen teilweise kein Blatt vor den Mund. So wird etwa dem Landes­hauptmann vorgeworfen, dass bei ihm „nicht selten ein zu starkes zentralistisches Denken und Handeln überwiegt.“ Es bleibe zu hoffen, dass es nicht zu einer totalen Vereinnahmung der Energieressourcen aus den Großableitungen durch die SEL AG kommt. „Das Vinschger Energiemodell“ Rudi ­Rienzner, der frühere Direktor der Stadtwerke Brixen und der jetzige Geschäftsführer des Raiffeisen Energie­verbandes (Promotor, Ideator und Obmann dieses Verbandes ist Georg Wunderer), lobte die Ideen, den Zusammenhalt und die Kraft der Vinschger in der Energiefrage. Er sprach vom „Vinschger Modell“, das mittlerweile nicht nur in anderen Landes­teilen Schule gemacht hat oder macht, sondern auf das man sogar in Brüssel aufmerksam geworden ist. Verwunderlich ist laut Rienzner, warum das Land bei der erneuerbaren Energie, etwa bei den Fernheizwerken, stark auf eine dezentrale Versorgung setzt, „im Stromsektor aber bei der Dezentralisierung bremst.“
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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