Im Kulturkampf
Musikkapellen ringen ums Überleben
Bezirkskapellmeister Dietmar Rainer

„Die Kultur ist das letzte Rad in der Gesellschaft … 

…und die kulturellen Amateurvereine sind das allerletzte Reserverad“

Publiziert in 11-12 / 2021 - Erschienen am 1. April 2021

Naturns/Vinschgau - „Der Kulturkampf“ wurde im 19. Jahrhundert ausgetragen und es ging um mehr Einfluss des Staates auf die katholische Kirche. Im Kulturkampf unserer Tage geht es um‘s Überleben aller Kulturbereiche und um einen neuen Stellenwert von Kultur. Im Ringen um das Musizieren in Gemeinschaft ließ „Der Vinschger“ den Bezirkskapellmeister Dietmar Rainer und stellvertretend für die Musikkapellen im Vinschgau die junge Obfrau der Bürgerkapelle Latsch, Anna Pedross, zu Wort kommen.

Dietmar Rainer klang nicht sehr optimistisch, als er für den der Vinschger auf die Auswirkungen der Covid-Pandemie in der Vinschger Musiklandschaft zurückblickte. Auch eine gewichtige Portion Ärger schwang mit. Als Bezirkskapellmeister im Musikbezirk Schlanders seit 2016, Vorstandsmitglied im Bezirk Schlanders des Verbandes Südtiroler Musikkapellen seit 2010 und seit damals auch Kapellmeister der Musikkapelle Naturns stellte er fest, dass für Illusionen inzwischen kein Platz mehr sei. Seit einem Jahr hätten seine Schüler keine öffentlichen Auftritte in der Jugendkapelle. Diesen Nachwuchs weiterhin zu motivieren und für die Kapelle zu erhalten, werde zur größten Herausforderung der Zukunft.

der Vinschger: Wann wurde das Virus das erste Mal Thema bei Ihnen in Naturns? Was hatten Sie gerade vorbereitet oder geplant? 

Dietmar Rainer: Das weiß ich noch sehr genau! Wir waren mitten in einer außergewöhnlich motivierten Probenphase auf das Frühjahrskonzert im April und die Konzertwertung im Mai 2020. Wir hatten sehr produktive Gesamtproben hinter uns und bei einer der letzten Registerproben am 9. März war plötzlich klar, dass diese Probe keinen Sinn mehr haben würde. Einige Tage davor mussten unter anderen schon die Bürgerkapellen von Schlanders und Latsch ihre Konzerte kurzfristig absagen, außerdem waren die Schulen bereits geschlossen. Meine Dirigierschüler hatten sich gründlich auf eine Probe mit der Musikkapelle Mals als Übungskapelle vorbereitet, die Malser waren mitten in der Vorbereitung auf eine Konzertwertung im Allgäu, auch diese Probe - naturgemäß ebenso das Wertungsspiel - musste abgesagt werden. Ich und die meisten meiner Kollegen waren blauäugig genug, damit zu rechnen, dass die Auftritte irgendwann im April/ Mai nachgeholt werden könnten. Wer hätte geahnt, dass uns diese Katastrophe jetzt - ein Jahr später - noch umfassend beschäftigt.

Sie haben dann wie lange ab März 2020 nicht mehr geprobt und wie wurden die Lockerungen im Sommer genützt? 

Sobald die ersten Lockerungen eingetreten sind, haben sehr viele Kapellen die Chance genutzt, im Rahmen der Möglichkeiten eine Aktivität zu starten. Die Rahmenbedingungen waren und sind in jedem Ort und jedem Verein divergent. Man denke an die unterschiedlichen Gegebenheiten in Bezug auf die Größe des Probelokals, die klimatischen Bedingungen im Hinblick auf die Proben und Auftritte im Freien usw. In Naturns haben wir uns ziemlich bald während des ersten Lockdowns für ein Programm ohne Publikum entschieden, nämlich eine Videoproduktion mit verschiedenen Ensembles an schönen Plätzen in und um Naturns. Das war für die musikalische und soziale Entwicklung des Vereines enorm wichtig. Andere Kapellen konnten die kurzfristigen Sommerlockerungen für Abendkonzerte und dergleichen nutzen, leider hatten nicht alle die Möglichkeit für eine musikalische Aktivität aufgrund widriger Voraussetzungen. 

Gegen Jahresende begann das Virus wieder zu wüten. An das Neujahrsspielen in den Dörfern war nicht mehr zu denken. Haben die entgangenen Spenden bei Ihnen in Naturns sehr zu Buche geschlagen?

Der erneute Lockdown im November war für mich und viele meiner Kollegen viel dramatischer als der erste. Mit der Musikkapelle Naturns habe ich zum Beispiel ein sakrales Konzertprogramm für das erste Adventwochenende geplant, sogar mit Live-Stream, für den Fall, dass kein oder nur eingeschränkt Publikum ins Konzert kommen darf. Die technischen Voraussetzungen waren abgeklärt, die ersten Registerproben mit hoch motivierten Musikant*innen schon absolviert. Drei Tage vor der ersten Gesamtprobe kam dann das abrupte Ende. Das war auch der Moment, an dem sich zum ersten Mal Mitglieder Sorgen um die eigene Gesundheit machten. Trotz penibel eingehaltener Sicherheitsprotokolle bei den Proben, fühlten sich nicht mehr ausnahmslos alle wohl und in erster Linie ältere Musikanten wollten lieber abwarten, was sich dann per se erledigt hat. In der Advent- und Weihnachtszeit wurden als „Zuckerle“ für die geplagten Seelen der Menschen kleinste Bläsergruppen zugelassen. Vielleicht konnte die Sehnsucht nach weihnachtlichen Klischees mit Christbaum und Bläsermusik und der Traum von etwas Normalität damit kurzfristig gestillt werden. Aus musikalischer Sicht ein schwieriges Unterfangen, nach so vielen Monaten der Untätigkeit. Der schöne Brauch des Neujahr-Anspielens musste ausfallen, an ein „von Haus zu Haus gehen“ war verständlicherweise nicht zu denken. Abgesehen von der Pflege der Tradition und der Kameradschaft, sowie dem Kontakt zur Dorfbevölkerung ist anzunehmen, dass den Vereinen dadurch auch ein beträchtlicher, finanzieller Schaden entstanden ist.

Welche Rolle spielt ein Bezirkskapellmeister in dieser Notsituation für die einzelnen Kapellen des Bezirks?

Die primäre Aufgabe eines Bezirkskapellmeisters ist die Organisation der Aus- und Weiterbildung der Kapellmeister im Bezirk und die Mitarbeit in der Fachgruppe Musik des Verbandes Südtiroler Musikkapellen. Die Fortbildungen sind normalerweise immer Praxis orientiert, so dass wir seit Beginn der Pandemie sämtliche Kurse absagen mussten. Der Kapellmeisterlehrgang konnte glücklicherweise weitergeführt werden Zwei talentierte und motivierte Abgänger der Ausbildung stehen in den Startlöchern; sie haben schon die Zusage, eine Kapelle leiten zu dürfen und warten sehnlichst darauf, endlich mit der Tätigkeit beginnen zu dürfen. Erstaunlicherweise haben trotz der aktuellen Lage auch im laufenden Schuljahr junge Dirigenten-Anwärter die Ausbildung begonnen und wir hoffen auf weiteren Andrang im Herbst. Die Anmeldungen laufen bereits. In der Fachgruppe Musik des Verbandes versuchen wir, trotz allem, Veranstaltungen für die Zukunft zu organisieren, wenngleich es durchaus frustrierend ist, Woche für Woche bestehende Angebote absagen zu müssen. 

Wie schaffen Sie es derzeit, die Gemeinschaft Musikkapelle im Bezirk und - in Ihrem Fall - in Naturns zusammenzuhalten und zu motivieren?

Ganz ehrlich – alle Tätigkeiten auf Bezirksebene stehen aktuell ganz weit hinten auf der Prioritätenliste. Nicht umsonst wurden landesweit sämtliche Bezirksversammlungen für 2021 ersatzlos gestrichen. Ich denke, jede Musikkapelle, jeder Chor, jeder Theaterverein muss enorm viel Kreativität aufwenden, den Verein in irgendeiner Form am Leben zu halten. Da gibt es kein Patentrezept. Am meisten Kopfzerbrechen bereitet mir derzeit der musikalische Nachwuchs. Der größte Teil meiner Schüler hatte seit Weihnachten 2019 keinen öffentlichen Auftritt mehr in der Jugendkapelle. Diese Generation weiter zu motivieren und an der Stange zu halten wird eine große Herausforderung. Zumal in den Musikschulen für alle Instrumente Ensemblespiel erlaubt ist, außer für die Bläser. In den Kapellen ist angesichts der laufenden Entwicklung an einen baldigen „Restart“ nicht zu denken. Das vergangene Jahr hat uns schonungslos gezeigt, dass die Kultur das letzte Rad in der Gesellschaft ist und die kulturellen Amateurvereine das allerletzte Reserverad. Vielleicht kann es gelingen, dass wir uns bei den hoffentlich bevorstehenden Öffnungen etwas vordrängeln. Bis dahin bleibt uns nur, alle denkbaren Kanäle zu aktivieren, mit den Mitgliedern im Verein in Kontakt zu treten bzw. zu bleiben. Und sobald wir wieder dürfen, muss die Aktivierung der Spielfreude kompromisslos im Vordergrund stehen.

Günther Schöpf
Günther Schöpf
Vinschger Sonderausgabe

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