Kirchturm von Alt-Graun saniert Ein „Korsett“ für den einsamen Wächter
Das Bild links zeigt den Turm während der Sanierungsarbeiten

Die nächsten 100 Jahre können kommen

Publiziert in 27 / 2009 - Erschienen am 15. Juli 2009
Graun – Er ist das beliebteste ­Fotomotiv des ganzen Vinschgaus. Und dennoch steht er irgendwie einsam da, der Kirchturm von Alt-Graun: innen hohl, der Glocken ledig, inmitten gestauter Wellen und doch laut mahnend. Ein Wächter im Wind und ein Wächter gegen den Wind, damit dieser die Erinnerungen an das ertränkte Leid niemals verweht. Nun hat das Grauner Wahrzeichen ein neues „Korsett“ und ein neues Dach bekommen, damit es die nächsten 100 Jahre übersteht. Dass das alte Dach im Jahr 1899, also vor genau 110 Jahren, neu eingedeckt wurde, belegt ein Dokument, das am 1. Juli 2009 zusammen mit weiteren Urkunden, Schriften, Münzen, Briefmarken und alten Ansichtskarten bei der Öffnung der Turmkugel entdeckt wurde. Da kam selbst der Pfarrmessner Alois Prieth arg ins Staunen. Die Tränen kamen ihm, als er am Tag darauf auf den Turm von Alt-Graun stieg. Zum letzten Mal war er als 14-jähriger Bub vor 59 Jahren in den Dachstuhl geklettert, um die große Glocke zu läuten. ­Kurze Zeit nachher wurde gestaut. „Als man am 18. Juli 1950 die Glocken abseilte, war rund um den Turm schon überall Wasser,“ erinnert sich Alois Prieth. von Sepp Laner Der Messner steigt zusammen mit Bürgermeister Albrecht Plangger, mit Florian Eller und Peppi Plangger vom Museum Vinschgauer Oberland, und mit Raymund, dem jüngsten Sohn des Bürgermeisters, über die Stiegen des Gerüstes hinauf bis zum neu eingedeckten Dach des Turms. „Die Farben sind immer noch schön“, freut sich der 73-jährige Messner, als er an den Ziffernblättern vorbeikommt. Eines der Ziffernblätter war im Vorjahr arg beschädigt worden, weil Unbekannte heimlich eine Tiroler Fahne ausgehängt und die Fahne mit einer Metall­stange beschwert hatten. Diese Stange schlug – gebeutelt vom Wind - gegen das Ziffernblatt und zog das jahrhundertealte Fresko stark in Mitleidenschaft. Abgesehen von diesem be­sonderen Vorfall war es aber vor allem der Zahn der Zeit, der am ehemals romanischen Kirchturm, erbaut um 1350, stark genagt hatte. An gleich mehreren Stellen taten sich Sprünge im Mauerwerk auf, sodass die Gemeindeverwaltung allen Grund hatte, sich Sorgen zu machen. Es stand die Statik insgesamt auf der Kippe. Um den Turm zu konsolidieren, schlugen die von der Gemeinde beauftragten Techniker vor, ihn mit so genannten Schleudern aus rostfreiem Stahl (Inox) zu sichern. Ihm also im unteren Drittel ein „Korsett“ zu verpassen, wie sich Bürgermeister „Abi“ ausdrückt. Zumal der Turm seit einiger Zeit im Landesbesitz steht, wandte sich die Gemeinde im Frühjahr 2008 an die zuständigen Ämter in Bozen: Amt für Bauerhaltung und Denkmalamt. Das Amt für Bauerhaltung wollte die Arbeiten zwar unverzüglich in Angriff nehmen, doch diese mussten dann infolge der Schneeschmelze und des schnellen Anstiegs des Stauseespiegels um ein Jahr verschoben werden. Den Graunern blieb nichts anderes übrig als zu ­hoffen, dass der Turm stehen bleibt und die Risse im Gemäuer – die vom Ufer aus mit freiem Auge nicht einsehbar waren – sich nicht weiter auftun. Turm hat schon viele „Wetter“ überstanden Nach all den „Wettern“, die er vor und nach der Seestauung überstanden hatte, ließ sich der Turm auch während dieses Jahres nicht beugen. Heuer im Frühjahr nun eilte man ihm endlich zu Hilfe. Als erstes musste die Freiwillige Feuerwehr Graun an die Schläuche. Es galt, das künstliche Becken rund um den Turm auszupumpen. Reich an Fischen war das Becken nicht, es mussten nur drei Stück in den Stausee umgesiedelt werden. Umso „reicher“ aber war das Becken an Schlamm. Eine rund 80 Zentimeter dicke Schlammschicht fanden die Wehrleute vor. Der Schlamm war vom Karlinbach über das Elektrizitätswerk in das Becken gespült worden. Dies deshalb, weil das Entsandungsbecken des Kraftwerkes Graun 2008 wegen Ausbaggerungsarbeiten außer Betrieb gewesen war. Mehrere Tage lang war die Feuerwehr mit dem Auspumpen beschäftigt. Weil der feine, wasserundurchlässige Gletscherschlamm partout nicht austrocknen wollte, musste ein Weg bis zum Turm aufgeschüttet werden. Im Anschluss daran ging es Schlag auf Schlag: Der Turm wurde eingerüstet und die vom Land beauftragte Spezial­firma Ebensperger Albrecht aus ­Glurns begann sogleich mit der Sanierung der Statik des Turms. Das Unternehmen brachte Inox-Schleudern an und legte den unteren Bereich des Turms somit in ein festes „Korsett“. Weiters wurde der wasserfeste Verputz im untersten Bereich ausgebessert. Damit das Wasser in Zukunft bei Wasserschwankungen im Inneren des Turms abfließen kann, wurden außerdem zwei Entlastungsbohrungen durchgeführt. Dank des Gerüstes konnten auch die Fachleute des Denkmalamtes den Turm näher betrachten. Sie stellten fest, dass weitere Konservierungsmaßnahmen notwendig sind, vor allem an den Turmfassaden. Mit diesen Arbeiten betraute das Denkmalamt die Re­staurierungswerkstätte Hubert Mayr aus Percha. Das Unter­nehmen besserte sämtliche Riss­bildungen aus und schloss sie mit Spezialharz. Weiters wurden die Fassaden vom Moos befreit und alle Schadstellen am Verputz ausgebessert. Die Gesimse unterhalb des Daches galt es ebenfalls zu reinigen. Vom Mooswuchs befreit, gereinigt und an Hohlstellen neu verputzt wurden auch alle vier Ziffernblätter. Neue Schindeln aus Lärchenholz Bei der Begutachtung des Daches wurde festgestellt, dass die alten Lärchenschindeln, einst mit roter Farbe gestrichen, das Bürsten und Reinigen nicht „überlebt“ hätten. Man entschloss sich daher, das Dach gänzlich zu erneuern. In Absprache mit dem Denkmalamt und Pfarrer Stefan Hainz wurde vereinbart, für die Neueindeckung gespaltene Schindeln aus Lärchenholz zu verwenden. Neu eingedeckt hat das Dach die Firma „Gamperdach“ aus Lana im Auftrag des Landesamtes für Bauerhaltung. Die Dachkonstruktion war noch gut und konnte belassen werden. Lediglich der Turmbaum (Turmspitze), der die Jahreszahl 1899 trug, war auszutauschen.Wann genau der Turm erbaut wurde, soll nun mit Hilfe so genannter Gerüsthölzer erforscht werden, die im Mauerwerk gefunden worden sind. Geplant sind dendrochronologische Untersuchungen. Es ist dies eine Datierungsmethode, bei der die Jahresringe von Bäumen anhand ihrer unterschiedlichen Breite einer bestimmten, bekannten Wachstumszeit zugeordnet werden. Es kann nicht nur das Jahr genau bestimmt werden, sondern sogar die Jahreszeit, während der das Gerüstholz gefällt wurde. Bürgermeister Albrecht ­Plangger dankt im Namen der Gemeindeverwaltung und aller Grauner den zuständigen Landesräten Florian Mussner und Sabina Kasslatter Mur sowie auch allen beteiligten Ämtern und Firmen für die erfolgreiche Sanierung des Turms. Ein besonderer Dank gelte der Feuerwehr Graun für ihren Einsatz. Urkunden, Münzen und vieles mehr Gestaunt haben der Bürgermeister, der Pfarrmessner Alois Prieth sowie Vertreter des Museums Vinschgauer Oberland, als am 1. Juli um 14.58 Uhr beim Spenglermeister Alfons Egger in Mals die vergoldete Turmkugel geöffnet wurde. Die Öffnung war notwendig, weil die Kugel zwei Einschusslöcher aufwies, die geschlossen werden mussten. Peppi Plangger und Florian Eller vermuten, dass die Einschusslöcher vom Bombenabwurf herrühren, den die Amerikaner am 19. März 1945 ausführten und bei dem fünf Menschen getötet wurden. ­Kurze Zeit vor dem Bombenabwurf war in der Nähe der Alt-Grauner Kirche ein ­amerikanisches Flugzeug notgelandet, das mit dem Abwurf der Bomben zerstört werden sollte. Laut Peppi Plangger war dieses Flugzeug von der Bevölkerung teilweise „ausgeschlachtet“ worden: „Der Gummi der Räder wurde abgehackt, um die Holzschuhe zu besohlen.“ Jetzt aber wieder zurück zur Turmkugel: Im Inneren befand sich ein mit Draht verschnürtes, im oberen Teil der Kugel befestigtes und mit einer wasserfesten Plane umwickeltes Päckchen. Eines der gefundenen Schriftstücke bezeugt, dass die Kugel im Jahr 1934 vergoldet und das Dach im selben Jahr neu angestrichen wurde. Die letzte Neueindeckung geht auf 1899 zurück. Dies belegen etliche weitere Dokumente. Entdeckt wurden weiters rund zwei Dutzend Münzen aus Kaisers Zeiten (Kreuzer, ­Groschen, Gedenkmünze für Franz Joseph I.), Briefmarken, alte Postkarten von Graun, Zeitungsausschnitte wie etwa eine Ausgabe des Volksblattes Wien vom 17. Juni 1899 sowie ein Brief der Grauner Rosenkranz-Bruderschaft mit Santiago de Compostela, datiert mit 1809 (Tiroler Freiheitskampf). Die Weiheurkunde dieser Bruderschaft, gegründet am 12. August 1685, ist übrigens im Museums Vinschgauer Oberland im alten Gemeindehaus in Graun ausgestellt. Nun sollen alle Dokumente näher untersucht und historisch ausgewertet werden, so zum Beispiel auch das Verzeichnis der Eheschließungen aus dem ersten Quartal des Jahres 1899. Mit der wissenschaftlichen Aufbereitung wird sich der 80-jährige Historiker Elias Prieth, ein Bruder des Messners, befassen. Turmkugel wird später aufgesetzt Für eine fachgerechte Sichtung, Aufbereitung, Sicherung und Dokumentation der Fundstücke braucht es natürlich seine Zeit. Und zumal die historischen Dokumente und Unterlagen zusammen mit Informationen über die heurige Turmsanierung für spätere Generationen in der Turmkugel aufbewahrt werden sollen, wird diese zu einem späteren Zeitpunkt auf dem Turm aufgesetzt. Als das Päckchen einst geschnürt wurde, ahnte wohl noch niemand, dass Graun eines Tages im Wasser versinken würde. Der letzte Gottesdienst in der alten Kirche wurde am 9. Juli 1950 gefeiert. Am 16. Juli läuteten zum letzten Mal die Glocken, zwei Tage nachher wurden sie vom Turm geholt und zur neuen Kirche gebracht. Der erste Sprengversuch der Kirche am 23. Juli 1950 missglückte. Der 55 Meter hohe Turm ist bis heute ein stummer Zeuge dieser leidvollen, unseligen und unvergessenen Jahre. Eine damals ausgewanderte Graunerin, die seit 53 Jahren in Österreich lebt, schrieb: „Und ist die Fremde noch so schön, zur Heimat wird sie nie.“ Anschaulich und beein­druckend dargestellt werden die Seestauung und deren Folgen – nicht nur Graun wurde unter Wasser gesetzt, sondern zum Teil auch Reschen sowie die uralten Weiler von Arlund, Piz, Gorf und Stockerhöfe – im Museum Vinschgauer Oberland. Es ist jeden Mittwoch von 16 bis 17 Uhr geöffnet. Rund 70 Prozent der Bevölkerung ist infolge der Stauung aus- oder abgewandert, 163 Wohnhäuser bzw. landwirtschaftliche Gebäude wurden gesprengt. „Der Thurm besitzt hohen Kunstwerth“ Um den zuständigen Landes­ämtern, den beteiligten Firmen und allen, die bei der Turm-Sanierung mitgeholfen haben, zu danken, lud Bürgermeister Albrecht Plangger am 9. Juli zu einer schlichter Feier beim „Interregio-Stein“ ein. Gekommen sind unter anderem Architekt Andrea Sega (Amt für Bauerhaltung), Ingenieur Michael Hofer, Gemeindeverwalter und –arbeiter sowie weitere Beteiligte. Gleichzeitig wurde das Becken rund um den Turm „geflutet“, sodass dieser alsbald wieder im Wasser stand. Auch aus einer Urkunde, gefunden in der Turmkugel, unterzeichnet von P. Michael Winkler (Pfarrer St. Katharina Graun) und datiert mit 19. Juli 1899, las der Bürgermeister vor. Darin heißt es wörtlich: „Der Thurm besitzt hohen Kunstwerth, weshalb die KK Centralkommission für Kunst und historische Denkmale 770 fl Gulden zur Reparation und aus Staatsgeldern gibt, mit welchem Gelde in diesem Jahre ein neues Dach mit neuem Knopf und Kreuz hergestellt wird. Das alte Dach ist derart morsch, dass sein Alter auf 300 – 400 Jahre geschätzt wird.“ Dass der Kirche die Pfarre Graun als letztes Bollwerk an der Grenze zum Protestantismus in der Schweiz besonders am Herzen lag, geht aus der Urkunde ebenfalls hervor: „Alle Einwohner der Pfarre Graun sind römisch-katholisch. So muss es immer bleiben....“ Die Einwohner der Pfarre Graun seien sehr religiös. „Die Pfarre Graun hat gegenwärtig bei 40 lebende Priester, darunter 26 aus Graun, Graun wurde von einem Bischof eine Priestermutter genannt. Möge das für immer bleiben.“ Die Leute seien zwar nicht reich, „aber auch nicht arm, sie sind arbeitsam und sparsam.“ Gemäß der staatlichen Volkszählung 1890 zählte die Gemeinde Graun 628 Seelen, Reschen 426 und Langtaufers 399.
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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