70 Jahre Option: Ein Beispiel aus Schlanders
Rosl Pircher mit Waltraud und Sepp Unterlechner sowie ihrem Enkel Richard.

Ein bewegendes Schicksal aus der Optionszeit

Publiziert in 30 / 2009 - Erschienen am 2. September 2009
Schlanders/Steiermark – Je älter sie wird, umso mehr sehnt sie sich nach ihrer alten ­Heimat „Schlanders in Südtirol“. Jahr für Jahr stärker fiebert sie den Urlaubstagen entgegen, in ­denen sie seit Jahrzehnten zu ihren Verwandten nach ­Schlanders kommt. Ihre ­Heimat hat Rosl Pircher, ge­borene Holzknecht, Anfang 1940 zusammen mit ihren Eltern, Geschwistern und ihrer eigenen Familie verlassen. „Damals hieß es: wer nicht auswandert, muss Italiener werden. Das wollte mein Vater aber keineswegs und so hat er sich entschlossen, für Deutschland zu optieren,“ erinnert sich Rosl Pircher. Die 92-Jährige sitzt mit ihrem schneeweißen Haar im Garten ihrer Verwandten Waltraud und deren Mann Sepp Unterlechner in Schlanders. Nur wenn sie von der Optionszeit und anderen Schicksalsschlägen erzählt, wird ihr Gesichtsausdruck ­etwas ernst. Sonst hat sie stets ein zufriedenes Lächeln im ­Gesicht. Waltraud, eine Tochter von Rosl Pirchers Cousin Alois Gamper, sagt seit jeher Tante Rosl zu ihr. Sie hat noch gut vor Augen, wie ihr Vater Alois die Tante Rosl seit 1958 immer mit dem Traktor am Bahnhof in Schlanders abgeholt hat. „Bei Luis und Gretl haben wir viel Suppe gegessen. Wir wurden immer großherzig aufgenommen, auch in harten Zeiten“, erinnert sich Rosl. Auch mit ihrer Cousine Agnes in Holzbrugg (sie ist ebenfalls 92 Jahre alt) und deren Verwandten ist Rosl seit jeher eng verbunden. Als Rosl Pircher mit ihrer Familie auswanderte, war sie 23 Jahre alt. Schon zu ­dieser Zeit hatte sie einige harte Schicksalsschläge hinter sich. Wie viele andere Buben und ­Mädchen musste auch sie ihr Brot schon in jungen Jahren als Dienstmädchen (Dirn) bei verschiedenen Bauern in verschiedenen Orten auswärts verdienen, damit in ihrer eigenen Familie ein Teller weniger gedeckt werden musste und sie auch die Eltern und Geschwister mit ihrem Verdienst ­(Naturalien, Lebensmittel) unter­stützen konnte. Im Alter von 15 Jahren ­arbeitete sie auf einem Bauernhof in Kortsch. Sie wurde mit 17 ­Jahren schwanger und brachte 1935 ihren Sohn Franz auf die Welt. Auf die Frage, ob sie in den Vater des Kindes verliebt war, antwortet sie: „Nein, der Vater von Franz war Knecht auf diesem Hof. Er hat mich genötigt, heute würde man ­sagen vergewaltigt.“ Der Vater von Franz wurde krank, „und weil der Bauer keine Arzt­spesen zahlen wollte, ist er zwei ­Wochen nachher gestorben.“ Ende der 1930er Jahre wohnte Rosl mit ihrem Kind in ­Göflan und arbeitete auf einem Bauern­hof. Dort lernte sie ­ihren Mann Ferdinand Pircher kennen, den sie 1939 ­heiratete. Die Hochzeitsreise dauerte ­einen Tag und führte das junge Paar zur Wallfahrtskirche nach ­Riffian. Ferdinand, 1905 geboren, ­wurde schon im Alter von 3 Jahren von seiner Mutter „abgegeben“, und zwar auf einen Bauernhof nach Mölten, wo er bei einer Landwirtfamilie aufwuchs. Später kehrte er in den Vinschgau zurück. Als er eines Tages zum Arzt nach ­Meran musste, lernte er in einem Gasthaus zufällig seinen ­Bruder kennen. Sie hatten ­einander zuvor nie gesehen und nichts voneinander gewusst. „Ferdinand hat mich sehr gemocht und auch meinen Sohn Franz so aufgenommen als wäre es sein eigenes Kind“, erzählt Rosl. Als es mit der Südtiroler Schicksalsfrage „Gehen oder bleiben“ ernst wurde, standen für Rosls Vater Franz Holzknecht zwei Dinge fest: Ja wir gehen, aber nicht nach Deutschland, sondern in die Steiermark. Rosl: „In die Steiermark deshalb, weil mein Vater dort während des Ersten Weltkrieges im Einsatz stand und das Land von daher kannte. Er erinnerte sich, dass die Steiermark landschaftlich unserer Heimat hier in Südtirol sehr ähnelt und dass die Leute auch dort vorwiegend Landwirtschaft betreiben.“ Die Lage zur Zeit der Option war laut Rosl sehr schlimm: „Den Leuten ­wurde gedroht, dass sie Italiener ­werden müssten, falls sie sich als Dableiber de­klarierten. Ich weiß noch gut, wie beim ­Unterschnatzhof abends ­heimlich Deutschunterricht gegeben wurde. Die Lehrerin wurde angezeigt und dann ­irgendwie verschleppt.“ Auch wirtschaftlich war die Situa­tion damals mehr als schwierig, „mein Vater war Tagelöhner und hatte oft keine Arbeit. Unter­stützung gab es keine.“ Maria Pircher, die erste Tochter von Rosl und Ferdinand, kam am 11. März 1940 in ­Innsbruck zur Welt. Wenige Tage zuvor war Rosl hochschwanger zusammen mit ­ihrem Mann und ihrer Familie und vielen ­weiteren Optanten in ­Schlanders aufgebrochen, um in der Fremde eine neue ­Heimat zu finden. Mehrere Tage lang waren die Vertriebenen in einem Gasthaus in Innsbruck einquartiert. Rosl: „Ich wäre gerne in ­Innsbruck geblieben, die Geburt war schwer und für das Kind und mich die Weiterreise sehr beschwerlich. Doch die Eltern waren für den nächsten Transport schon eingetragen und aufgrund der Gefahr, dass wir uns aus den Augen ver­lieren, setzten wir gemeinsam die Reise fort. Wir landeten zunächst in Graz, da wollte mein Vater nicht bleiben, weil er dort Bombardierungen be­fürchtete.“ Schließlich fand die Familie in der Nähe von Feldbach­ in der Oststeiermark eine Unterkunft. Die Aus­wanderer hatten das Glück, in ein leer stehendes Bauernhaus einziehen zu können, wo sie 12 Jahre lebten und wo weitere Kinder zur Welt kamen. Die Männer fanden großteils Arbeit im Straßen- und Gleisbau oder in der Landwirtschaft. Rosl Pircher arbeitete unermüdlich für die Versorgung der Familie und verdiente die ­Miete durch Mitarbeit in der Landwirtschaft, wo sie wohnten. Nach zwei weiteren Umsiedel­ungen kamen Rosl und ­Ferdinand 1971 nach St. ­Marein bei Graz „Dort hatten wir erstmals eine eigene Wohn­ung. Mein Sohn Franz hat die Anzahlung dafür bestritten.“ Schon allein dieser Satz sagt aus, wie schwer und entbehrungsreich der Aufbau eines neuen Zuhauses fernab der Heimat war. 1941 kam als drittes Kind Rosa auf die Welt, die im Alter von 9 Monaten starb. 1942 wurde Alois geboren, er verstarb mit 51 Jahren. Hermann erblickte 1944 das Licht der Welt. Er lebt seit einer Querschnittlähmung im 24. Lebensjahr in ­Stuttgart. 1952 kam das letzte Kind ­Rosmarie zur Welt. Rosls Mann Ferdinand, der kurz vor dem Ende des ­Zweiten Weltkrieges noch zum „Volkssturm“ beordert wurde, ist 1977 nach langer schwerer Krankheit (Rosl pflegte ihn 2 Jahre lang) gestorben. Trotz aller Schicksalsschläge, Entbehrungen und Wirren harter Zeiten ist Rosl Pircher keine unglückliche Frau: „Ich hatte immer das Gefühl, dass mich alle Leute mögen. Es gibt eigentlich nichts, wovon ich ­sagen muss, das habe ich falsch gemacht. Die Entscheid­ung, auszuwandern, war aufgrund der damals gegebenen Um­stände richtig.“ Beim Vormarsch der Russen in der ­Steiermark zu Kriegsende flüchtete die Familie allerdings wieder bis nach Osttirol. Rosl und ihre Angehörigen ­haben sich von dort aus beim ­Cousin Luis erkundigt, ob sie wieder nach Südtirol kommen könnten. Doch er hat ihnen aufgrund der schwierigen Sicher­heitslage abgeraten, den Schritt über die Grenze zu tun. Hat sie später nie daran gedacht, nach Südtirol zurückzukehren? Rosl: „Anfangs und auch später haben wir schon mit diesem Gedanken ge­spielt. Aber es ist uns all­mählich ­besser gegangen, sodass wir entschieden haben, in der ­neuen Heimat zu bleiben.“ Während der so genannten Feuernacht im Jahr 1960 hielt sich ihr Vater in Schlanders auf. „Ich war damals 11 und ­erinnere mich noch gut, welch große Angst Vetter Franz ausstand, weil er befürchtete, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können“, erzählt ­Waltraud. Schließlich war es Rosl, die ihren verängstigten Vater am Brenner abholte. Als ihre eigenen Kinder schon alle außer Haus waren, ­brachte ihr das Leben nochmals 2 ­Kinder, die sie neben der ­Pflege ihres Mannes groß zog: ihre Enkelkinder Regina (geb. 1959) und Richard (geb. 1971). Ihre nun schon hochbetagten Jahre verbringt Rosl seit langem im Familienverband mit ihrer Enkeltochter Regina und ihrer Tochter Maria und so freut sie sich über jeden Tag, „den mir der Herrgott schenkt“, wie sie zu sagen pflegt. Wenn das Wort Carabinieri fällt, wird Rosl Pircher noch immer etwas stutzig. Dies ist wohl auch der Grund, warum sie auf die Frage, was sie von einer Rückkehr von Südtirol zu Österreich hält, etwas zögert, dann aber doch deutlich sagt: „Etwas besseres als die Rückkehr könnte nicht passieren.“ Besonders freut sie sich in ­jedem Jahr auf ihre „Urlaubstage“, wenn ihr Enkelsohn Richard mit seiner Großmutter für 8 Tage in ihre Heimat fährt, wo auch er sich im Kreise ­seiner Verwandten im ­Vinschgau schon „zu Hause“ fühlt.
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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