Stilfs: von Stammbäumen und Genforschern

Ein Paradies der Genforscher

Publiziert in 19 / 2002 - Erschienen am 10. Oktober 2002
[F]Genetische Bevölkerungsinseln, Gründerpopulationen, Erbmaterial und Stammbäume: In Stilfs läuft derzeit die Pilotphase des medizinischen Forschungsprogrammes GenNova, von dem sich Genforscher Aufschlüsse und neue Erkenntnisse über Volkskrank- heiten wie Alzheimer, Parkinson, Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen erwarten. Stilfs könnte es zu einer gewissen Berühmtheit bringen, so wie das kleine sardische Bergdorf Talana, das schon jetzt auf jeder medizinischen Landkarte verzeichnet ist. von Stefan Schwienbacher [/F] In der Ordination der Hausärztin Raffaela Stocker in Stilfs herrscht Hochbetrieb. Ein Arzt und drei Medizinstudenten aus München untersuchen täglich Freiwillige, füllen mit ihnen umfangreiche Fragebögen aus, leiten EKGs ab, messen Blutdruck und nehmen Blut ab. Stilfs stellt bevölkerungsgeschichtlich eine sogenannte Gründerpopulation dar, genau das macht es für die Genforschung, eine der umstrittensten und zugleich vielversprechendsten modernen Wissenschaften, so interessant. Fünfhundert Stilfser sollten sich an dieser bis Ende Dezember laufenden Studie zur Gesundheitsforschung beteiligen, so das Wunschziel der Projektleiter. Mehr als Zweihundert haben sich bisher bereits gemeldet. Am 8. September wurde das Projekt GenNova im Haus der Dorfgemeinschaft vorgestellt. Der Stilfser Bürgermeister Josef Hofer, der Pusterer Peter P. Pramstaller, Neurologe am Bozner Krankenhaus, Genforscher und wissenschaftlicher Leiter der Studie sowie Gerd Klaus Pinggera, Dorfchronist und von der Schule freigestellt für die genealogisch-historische Beleuchtung der Stilfser, richteten sich - angesichts der Tatsache, dass im Dorf gerade ein Feuerwehrfest gefeiert wurde - auf maximal fünfundzwanzig Interessierte ein. Dass dann hundertfünfundzwanzig zur Informationsveranstaltung gekommen sind, hat Pramstaller überrascht: "Nach meinem Gefühl ist das Projekt mit großem Zuspruch aufgenommen worden.“ Dass die Stilfser seiner Begeisterung für die Genforschung offen gegenüberstehen, freut ihn umso mehr, als er überzeugt davon ist, dass medizinische Forschung aus den Krankenhäusern und Universitäten hinausgehen muss in die Peripherie, um dort, wie jetzt in Stilfs, in Zusammenarbeit mit den Gemeindeärzten und den Bewohnern innovative Forschung zu betreiben. Dass dabei die Wahl auf Stilfs fiel, haben die Stilfser wohl weniger ihrer exotischen Einmaligkeit zu verdanken, über die sie sich in letzter Zeit angeblich selbst am meisten lustig machen, als vielmehr dem Zusammentreffen mehrerer günstiger Umstände. Abgesehen davon, dass irgendwo begonnen werden muss, hat Stilfs den Vorzug, dass es mit Gerd-Klaus Pinggera über einen Historiker verfügt, der auf dem Gebiet der Stammbaumforschung und mit seiner Stilfser Dorfchronik wertvolle Vorarbeit geleistet hat. Er muss im Rahmen des GenNova Projektes den geschichtlichen Nachweis dafür liefern, dass die Stilfser auf wenige Gründerväter und Gründermütter zurückgehen. Also nachweisen, dass Stilfs die Voraussetzungen für eine Gründerpopulation erfüllt. Hier ist die modernste Wissenschaft gerade auf Dörfer wie Stilfs angewiesen, wo die Leute jahrhundertelang mehr oder weniger unter sich geblieben sind. Eine wichtige Rolle spielen auch die Vinschger Ärzte für Allgemeinmedizin wie Raffaela Stocker (Stilfs), Hansjörg Gluderer (Schlanders) und einige andere, die mit Projektleiter Peter Pramstaller bereits jahrelang zusammenarbeiten. Sie beteiligen sich unmittelbar an der Forschung und werden im Bereich Genmedizin weitergebildet, um so die Forschungsergebnisse wieder dorthin zu bringen, von wo sie ausgegangen sind: in die Arztpraxen. Für die genetische Ursachenforschung sind geografische und genetische Bevölkerungsinseln wie Stilfs von großem Vorteil. Das Erbgut seiner Einwohner weist nämlich große Ähnlichkeiten auf und, was noch wichtiger ist, wie Pramstaller betont, "die Umwelteinflüsse sind dieselben, d.h. gleiche Luft, gleiches Wasser, nahezu gleiche Ernährungsweise. Wenn man solche Untersuchungen in Großstädten durchführen würde oder in geografischen Gebieten mit reger Zu- und Abwanderung, wäre es sehr viel schwieriger, herauszufinden, welche Gene für die Krankheiten, die wir untersuchen, verantwortlich sind." Südtirol ist in diesem Zusammenhang ein ideales Forschungsgebiet. Zum einen ist es eine sprachliche Bevölkerungsinsel innerhalb Italiens, zum anderen existieren innerhalb dieser wiederum geografische Inseln in den Tälern und, in gesteigertem Maße, in den Hochtälern, in deren Dörfern die Bevölkerung sowohl hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes als auch ihrer Stammbäume überschaubar und gut erforscht ist. Ähnliche Mikroisolate, so der medizinisch wissenschaftliche Fachausdruck für solche Bevölkerungsinseln, finden sich aber nicht nur in Südtirol, sondern auf dem ganzen Globus. Etwa im sardischen Bergdorf Talana mit seinen tausend Einwohnern, in dem drei von vier Taleanern von acht Stammvätern und elf Stammmüttern abstammen, auf die fast die gesamte Erbinformation des Dorfes zurückgeht. Talana ist mittlerweile in medizinischen Kreisen zur Berühmtheit gelangt und einer der weltweit ersten Genforschungsparks befindet sich dort. Weitere von der Genforschung entdeckte Bevölkerungsinseln liegen in Island, in Estland oder auf Tonga, einem pazifischen Inselreich. Sie erlauben, im Unterschied zu GenNova, Biotechnologieunternehmen die anonymisierten Ergebnisse auszuwerten oder an die Pharmaindustrie zu verkaufen. Die Stilfser, um wieder zur Genforschung in Südtirol zurückzukehren, die sich zu der rund zwei Stunden dauernden Untersuchung gemeldet haben, stellen der Forschung ihre Krankenakten, Blutproben, einen detailliert ausgefüllten Fragebogen sowie die Ergebnisse des Gesundheits-checks zur Verfügung. Jeder Stilfser erhält dadurch auch eine kostenlose Vorsorgeuntersuchung. Diese gesammelten Daten in Kombination mit der bevölkerungsgeschichtlichen Arbeit Gerd Pinggeras bilden das Rohmaterial für die eigentliche Genforschung. Mit den Blutproben werden dann in einem neu eingerichteten Genlabor im Gebäude der Eurac in Bozen Untersuchungen an der DNA durchgeführt. Pramstaller weist aber darauf hin, dass hier keine DNA Tests im Sinne von Diagnosen gemacht werden. Der einzelne wird über seine Testergebnisse nichts erfahren, also nichts darüber, wie sein Erbmaterial ausschaut. Für die Wissenschaft interessant ist das Datenmaterial des ganzen Dorfes. Die Daten der einzelnen Personen werden bei der eigentlichen DNA Analyse mit einem Nummerncode verschlüsselt. Diesen Verschlüsselungscode kennt, so schreibt das Gesetz vor, nur ein Datenschutzbeauftragter und der Studienleiter Peter Pramstaller. "Man könnte zwar theoretisch den Schlüssel lösen, um von der Nummer auf die untersuchte Person zurückzukommen, doch abgesehen davon, dass der Datenschutz hier streng geregelt ist, ist unser Ziel nur die reine Wissenschaft," räumt Peter Pramstaller Bedenken bezüglich der Datensicherheit aus. "Was wir machen ist reine Ursachenforschung, das hat nichts mit Stammzellen, klonen oder Genmanipulation zu tun. Das, was da an Zukunftsszenarien herumgeistert, maßgeschneiderte Kinder auf Wunsch mit blauen Augen, dem Gehör von Mozart und schön wie ..., ist alles Quatsch. Der Mensch ist wesentlich mehr als die Summe seiner Gene." Erst vor zwei Jahren entschlüsselten amerikanische Forscher das menschliche Genom, also die Gesamtheit aller Gene. Knapp 32.000 Gene besitzt der Mensch, nicht wesentlich mehr als eine Fliege, und nahezu gleich viele wie ein Schimpanse. Wie diese Gene, deren genetischer Speicher drei Milliarden Bausteine enthält, zusammenwirken, welche Verbindungen sie zueinander eingehen, ist ein höchst komplexes Gebilde und noch weitgehend unbekannt. In genau diese Nische möchte das GenNova Projekt vordringen. "Südtirol kann international mitspielen", ist Peter Pramstaller überzeugt. Er sieht im GenNova Projekt die einmalige Chance Südtirol als Standort für Genforschung zu etablieren. Südtirol hat das, wovon amerikanische Forscher nur träumen können: Stammbäume, die bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen und Dörfer wie Stilfs. Auf die Frage, was im Idealfall das Ergebnis dieses Projektes wäre, antwortet Pramstaller: Stilfs könnte ein Modell sein, wie man komplexer Krankheitsbilder untersucht. Wenn man zeigen könnte, dass es für eine bestimmte Krankheit, wie z.B. Bluthochdruck, eine genetische Ursache gibt, die vielleicht in Wechselwirkung mit einem bestimmten Umweltfaktor steht, und die dafür verantwortlichen Genabschnitte herausfinden würde, hätte man schon Großes geleistet." [K] Das GenNova Projekt GenNova ist ein bevölkerungsbezogenes Forschungsprojekt, seit Januar 2002 angesiedelt an der Europäischen Akademie (Eurac) in Bozen, mit dem Ziel genetische und umweltbedingte Krankheitsursachen zu erforschen, um häufige Volkskrankheiten wie Parkinson und Alzheimer, Prostata- und Brustkrebs, Bluthochdruck und Herzinfarkt, früher zu erkennen, neue Behandlungsmethoden und auf längere Sicht neue Medikamente zur Vorbeugung zu entwickeln. Finanziert wird diese Studie vom Assessorat für Gesundheitswesen und der Sparkassenstiftung. Zeitlich ist diese Genstudie auf fünf Jahre angesetzt; in Stilfs läuft derzeit die Pilotphase. Bewährt sich diese, so wird das Projekt auf ganz Südtirol ausgedehnt. Wissenschaftlicher Leiter von GenNova ist der Neurologe und Genforscher Peter Pramstaller. Begleitet wird es von international renommierten Genforschern aus Italien, Deutschland, Österreich und den USA. Eingebunden in das GenNova Projekt sind vor allem auch die Ärzte für Allgemeinmedizin vor Ort. Im Vinschgau sind dies: Erich Doná (Kastelbell), Hansjörg Gluderer (Schlanders), Helmuth Rauner (Glurns), Ugo Marcadent (Latsch), Toni Pizzecco (Latsch), Monika Scherer (Laas), Bettina Skocir (Prad), Josef Stocker (Mals), Raffaela Stocker (Stilfs), Oswald Tappeiner (Schlanders), Stefan Waldner (Graun), Wunnibald Wallnöfer (Prad). [/K]
Stefan Schwienbacher
Vinschger Sonderausgabe

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