„Es ist ein Abschiednehmen auf Raten“

Publiziert in 7 / 2016 - Erschienen am 24. Februar 2016
In Südtirol gibt es ca. 10 000 Menschen, die derzeit an einer Demenzerkrankung leiden. Betroffen von der Krankheit sind durchschnittlich jedoch drei Personen pro Patient, denn eine Demenzerkrankung greift tief in das Familiengefüge ein und verändert auch das Leben der Angehörigen. der Vinschger hat mit Anna (Name von der Redaktion geändert), der Tochter einer an Demenz erkrankten Frau über ihr „Abschiednehmen auf Raten“ gesprochen. der Vinschger: Wie hat sich die beginnende Demenz bei Ihrer Mutter manifestiert? Anna: Uns Kindern ist aufgefallen, dass die alltäglichen Verrichtungen unserer Mama immer schwerer gefallen sind. Unser Vater musste sie viel unterstützen, zum Teil Arbeiten wie Einkaufen, Kochen und im Haushalt übernehmen. Wir haben es anfänglich auf das hohe Alter, ihr schlechtes Hören und Sehen zurückgeführt. Dann hat sie aufgehört, zu telefonieren und eines Tages sagte sie zu mir: „Ich wusste gar nicht, dass ich eine Tochter habe; wo warst du denn die ganze Zeit?“ Von da an hat sich ihr Zustand zunehmend verschlechtert. Sie bekam Schluckbeschwerden, die keine organische Ursache hatten. Mama hat unseren Vater nicht mehr als Partner akzeptiert, hat von ihm kein Essen und keine Medikamente angenommen. In unruhigen Nächten hat sie nicht mehr ins Bett gefunden. Am meisten zu schaffen machte uns Mamas Wesensveränderung. Sie wurde depressiv und manchmal gar etwas aggressiv, meist dann, wenn sie merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Wie hat Ihre Familie darauf reagiert? Schon bald haben wir gelernt, dass wir uns auf keine Diskussion mit Mama einlassen dürfen, wir haben ihr Recht gegeben und akzeptieren gelernt, dass es nichts mehr bringt, Fertigkeiten zu üben, die nicht mehr möglich sind. Wir mussten es stehen lassen, wie es ist. Auf keinen Fall darf man etwas persönlich nehmen. Dann haben Sie Unterstützung geholt? Auch das haben wir schnell gelernt: man schafft die Pflege bei aller Liebe nicht allein. Und man muss es auch nicht alleine schaffen. Es gibt viele Angebote, wie die Haus- und Altenpflege, eine ­Badante oder das Pflegeheim. Vorerst war es der Hauspflegedienst, der uns unterstützt hat, denn unser Vater war völlig überfordert. Alles ging auch an seine Substanz. Nach der endgültigen Diagnose Demenz haben wir in der Familie beschlossen, um einen Platz im Altersheim anzufragen. Die erste Zeit im Pflegeheim war sehr schwierig, denn Mama wollte immer heim, aber nicht zu uns, sondern in ihr Heimathaus. Es brauchte viel Überredungskunst, sie war geplagt von Unruhe und Orientierungslosigkeit. Wie geht es Ihrer Mama heute? Nach zwei Stürzen mit Oberschenkelhalsbruch als Folge sitzt sie im Rollstuhl und ist ein totaler Pflegefall. Das Kauen funktioniert nicht mehr so gut, aber sie ist bei gutem Appetit. Sie erkennt uns nicht mehr und die Sprache ist vollständig weg. Oft ruft sie nach ihrer Mama oder sie spricht in Wortfetzen. Manchmal habe ich das Gefühl, sie führt einen Dialog mit nicht anwesenden Personen, aber natürlich in völlig unverständlichen Satzfetzen. Wie wichtig ist das Gespräch in der Familie? Das Wichtigste! Die Familie muss zusammenhalten, muss sich ausführlich über die Krankheit informieren und über deren Verlauf Bescheid wissen. Es darf nicht sein, dass sich die Geschwister uneinig sind und sich gegen­seitig etwas vorwerfen. Das kostet unnötige Kraft. Was hilft Ihnen persönlich in dieser schwierigen Zeit? Wie schützen Sie sich selbst, um nicht daran zu zerbrechen? Der Glaube hilft mir. Ich kann meine Mama lieben und sie so annehmen, wie sie ist. Im Gespräch mit anderen betroffenen Angehörigen habe ich gelernt, wie ich mich in bestimmten Situationen verhalten soll. Wenn ich meine Mama im Pflegeheim besuche, bin ich ganz für sie da, wenn ich es verlasse, kann ich abschalten, weil ich sie gut aufgehoben weiß. Trotzdem ist es für mich immer ein Abschiednehmen auf Raten. Eine große Stärkung ist, wie schon erwähnt, die Einigkeit in der Familie, und vieles muss man tatsächlich oft auch mit Humor nehmen! Was raten Sie Familien, die noch nicht von der Krankheit Demenz betroffen sind? Man sollte in gesunden Tagen mit den eigenen Kindern darüber reden, was einem im Fall einer Erkrankung wichtig ist, man kann den Kindern auch mitteilen, wie man betreut werden möchte, dass sie keine Skrupel haben sollten, den betroffenen Elternteil einem Pflegeheim anzuvertrauen. Wichtig wäre es, einen Sachwalter zu bestimmen, ein Testament zu schreiben oder wenn möglich, in guten Zeiten alle Erbangelegenheiten zu regeln. Zum Thema Geld: ein Platz im Pflegeheim kostet einiges. Was kommt da auf die Familie zu? Die Kosten für die Pflege sind nicht zu vernachlässigen. Zum Pflegegeld und zur Rente kann das Ersparte der Eltern weiterhelfen; ansonsten müssen die Kinder für den Rest aufkommen. Interview: Ingeborg Rechenmacher
Vinschger Sonderausgabe

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