Das Herz Europas
Zu Besuch in Straßburg
Das Herz Europas
Mitarbeiterinnen von Herbert Dorfmann: Ute Schweigkofler (links) und die Vinschgerin Johanna Thöni (siehe auch Interview auf Seite 7).
Die aus Göflan stammende Rai-Journalistin Elisa Tappeiner im Gespräch mit Marc Angel.
Volles Haus: Das Parlament in Straßburg bei einer wichtigen Abstimmung.
Der der Vinschger-Vize-Chefredakteur Michael Andres im EU Parlament. Die Kugel aus Glas trägt den Namen „United Earth“, das Kunstwerk wurde von den polnischen Künstlern Beata und Tomasz Urbanowicz entworfen.
Herbert Dorfmann ist seit 2009 EU-Parlamentarier.
Interview mit Johanna Thöni im Rahmen der „European Garden Party“ der Europäischen Parlamentarischen Gesellschaft (EPG).
„Straßburg ist eine tolle Stadt. Die Zeit hier ist aber arbeitsmäßig intensiver“, erzählt die junge Vinschgerin.

Europäischer Geist 

Zu Gast im EU-Parlament.

Publiziert in 14 / 2023 - Erschienen am 1. August 2023

STRAßBURG - Es herrscht Trubel im Parlamentsgebäude in Straßburg: 12 Mal im Jahr finden hier viertätige Plenarsitzungen statt. An diesen besonders heißen Juli-Tagen ist es wiederum soweit. Und vor Ort ist auch die Bezirkszeitung der Vinschger. Dass die Pressereise just in diesem Moment stattfindet, wo eine der letzthin aufsehenerregendsten Abstimmungen auf dem Plan steht, ist ein willkommener Zufall. 
Als die Kampfabstimmung zu dem heiß diskutierten Naturschutzgesetz schließlich am 12. Juli um die Mittagszeit über die Bühne geht und das Ergebnis aufscheint, kommt Jubel in den Reihen der Befürworter auf. Intensiv hatten Sozialdemokraten, Grüne und Teile der Liberalen darum geworben. 336 EU-Abgeordnete stimmen dafür, 300 dagegen, 13 enthalten sich. Eine Abstimmung über die Ablehnung des Kommissionsvorschlags war zuvor bei 312 zu 324 Stimmen nicht angenommen worden. Es war auch eine Art Kräftemessen, insbesondere die Europäische Volkspartei (EVP) mit dem Südtiroler Parlamentarier Herbert Dorfmann wetterte gegen das Vorhaben. Auch der zweite Südtiroler Parlamentarier, Matto Gazzini aus Leifers, der 2022 als Lega-Abgeordneter nachrückte, warnt vor dem Gesetz. Die Gegner befürchten Einschnitte in die Landwirtschaft, damit könnten Entscheidungen von Ländern, Regionen und Gemeinden beeinflusst werden. Das sogenannte Renaturierungsgesetz ist Teil des Klimaschutzplans „Green Deal“. Dabei soll es unter anderem bis 2030 für mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresgebiete der EU sogenannte Wiederherstellungsmaßnahmen geben.

„Das ist Demokratie“ 

„Das ist Demokratie“, betont Herbert Dorfmann nach der Abstimmung gegenüber dem der Vinschger. Man habe „die politische Mehrheit im Parlament nicht zusammenhalten können“. Einige aus den eigenen Reihen seien umgeschwenkt. „Ein politischer Erfolg für die anderen“, so Dorfmann. Dennoch müsse man festhalten: „Die Abänderungsanträge wurden fast alle angenommen, vom ursprünglichen Gesetzesentwurf blieb nicht mehr viel übrig“. Die vorgeschlagenen Regelungen seien laut Dorfmann „praxisfern und in Teilen verantwortungslos“. In Südtirol gebe es bereits funktionierende Landschaftsschutz-Richtlinien, Zwischenrufe aus der EU brauche es hierbei nicht. Da das Gesetz ein „absolutes Verschlechterungsverbot“ vorsehe, könnten sich selbst „bei den kleinsten Eingriffen Brüsseler Behörden einmischen“. Zudem sollen landwirtschaftliche Flächen außer Nutzung gestellt werden, was seitens EVP und Co. als Angriff auf die Bauern gewertet wird. Was das Gesetz betrifft, folgen nun Verhandlungen mit dem EU-Rat, auch dort hatte das Gesetz nur eine knappe Mehrheit. Der österreichische ÖVP-Mandatar Othmar Karas, der anders als seine Parteikollegen dem adaptierten Gesetzesvorschlag zustimmte, forderte einen überarbeiteten Vorschlag der EU-Kommission. „Der Rat ist gespalten, das Parlament genauso. Nun müssen sich alle zusammensetzen und schauen, warum es zu dieser Pattstellung kam. Man muss über die Sorgen der Menschen reden“, erklärt der 65-Jährige. Karas hat als erster Vizepräsident des Parlaments, zu dem er 2022 gewählt wurde, gleich mehrere wichtige Aufgaben: Die Vertretung der Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (EVP), den Dialog mit den nationalen Parlamenten zu führen sowie die Kommunikationspolitik des Parlaments. 

Politik im Zeichen Europas 

Es war Ute Schweigkofler, als Mitarbeiterin des EU-Abgeordneten Herbert Dorfmanns unter anderem für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, die das Treffen mit Karas organisiert hatte. Genauso wie mit dem Sozialdemokraten Marc Angel. Der Luxemburger, ebenfalls einer von 14 Vizepräsidenten/innen des Parlaments, berichtet von der täglichen EU-Arbeit, den verschiedenen Arbeitsgruppen. Hört man ihm zu, dann wird schnell klar, dass er – wie auch die weiteren Abgeordneten – den europä-ischen Geist lebt. Es sei auch eine Berufung für Europa zu arbeiten. Marc Angel hatte im Übrigen wie die weiteren Links-Kräfte ebenfalls für das Renaturierungsgesetz gestimmt. Die Gelegenheit zu einem Gespräch bekommt der Vinschger auch mit dem Italiener Nicola Danti von Italia Viva, der unter anderem über die Migration spricht: „Man darf nicht die Augen vor den Problemen verschließen. Wir müssen verhindern, dass Schlepper mehrere tausend Euro erhalten, um Menschen in Gefahr zu bringen“. Es brauche legale Migrationswege und eine europäische Zusammenarbeit. Angelika Niebler (EVP) von der bayrischen CSU findet in Gesprächen mit den Journalistinnen und Journalisten aus Südtirol lobende Worte für Dorfmann: „Er ist einer der einflussreichsten Parlamentarier und hoch angesehen. Das wollte ich loswerden“. 

Gartenparty in lockerer Atmosphäre

Das Standing des Südtiroler EU-Parlamentariers wird auch am Abend bei der „European Garden Party“ der Europäischen Parlamentarischen Gesellschaft (EPG) klar. Der Eisacktaler fungiert seit 2014 als Präsident dieser fraktionsübergreifenden Vereinigung von Mitgliedern des Europä-ischen Parlaments, deren Zweck und Ziel es ist, die persönlichen Beziehungen der Abgeordneten über Partei- und Staatsgrenzen hinweg zu fördern und so auch für ein besseres Verständnis für die unterschiedlichen politischen Positionen zu sorgen. In lockerer Atmosphäre treffen sich Abgeordnete, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, es herrscht internationales Flair in und rund um die Villa Schützenberger. Kommuniziert wird in verschiedenen Sprachen, die Mehrsprachigkeit wird gelebt. 

Stadt mit viel Symbolkraft

Eine internationale Stadt ist auch Straßburg selbst. Rund 280.000 Menschen leben in der Hauptstadt der französischen Region Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine im Nordosten Frankreichs. Die Stadt an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland ist symbolträchtig. Die Straßen in Straßburg sind zweisprachig ausgeschildert, die „Grand‘Rue“ heißt etwa „Langstross“ (Lange Straße). Die Europabrücke verbindet das deutsche Kehl und Straßburg, eine Tram fährt direkt in die 40.000 Einwohner-Stadt nach Baden-Württemberg. Der Rhein bildet die Grenze zwischen Deutschland und der Hauptstadt des Elsass/Alsace. „Die Stadt blickt auf eine bewegte Geschichte“, betont der deutsche Stadtführer im alemannischen Dialekt. So gehörte Straßburg von 1871 bis 1918 zum Deutschen Kaiserreich, 1918 wurde die Stadt wieder französisch, von 1940 bis 1944 wurde Straßburg von Deutschen Truppen besetzt. 
1949 unterschrieben zehn Staaten in London die Satzung des Europarates. Auf Vorschlag des englischen Staatssekretärs für Außenpolitik Ernest Bevin wurde der Sitz der Organisation in Straßburg vorgesehen, um die deutsch-französische Annäherung zu symbolisieren. Erstmals wurde 1958 in Straßburg die „Europäische Parlamentarische Versammlung“ abgehalten, 1962 wurde diese in „Europäisches Parlament“ umbenannt.

Eine Hauptstadt Europas 

1998 wurde das heutige Parlamentsgebäude in Straßburg erbaut, der Glaspalast an den Ufern der Ill (Elsass) wirkt bereits aus der Entfernung beeindruckend. Heute befinden sich in Straßburg neben dem Europarat und dem Parlament zahlreiche weitere europäische Einrichtungen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der Europäische Bürgerbeauftragte und die Eurokorps. Aufgrund dessen versteht sich die Stadt als Hauptstadt Europas. Dass das Herz Europas auch in Straßburg schlägt, wird an solchen Plenartagungen klar, wenn nicht nur die 705 Abgeordneten des EU-Parlaments sich hier aufhalten, sondern sozusagen ein ganzer Apparat mit Tausenden von Personen von Brüssel nach Straßburg verlegt wird. Und auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Europäischen Parlaments freuen sich immer wieder auf die Tage in Straßburg, auch wenn es eine stressige, arbeitsintensive Zeit bedeutet. Spaziergänge an den Uferpromenaden, durch das Gerberviertel „Petite France“, verlieren auch bei ihrem zigsten Besuch nicht an Charme. 

„Der Vinschgau ist ein gutes Beispiel“ 

der Vinschger: Herr Dorfmann, Sie agieren unter anderem als Koordinator der Europäischen Volkspartei EVP im Landwirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments. Ein bestimmendes Thema sind nach wie vor die Pestizide, auch bei uns im Vinschgau. Die Landwirtschaft steht oft unter Beschuss. 

Herbert Dorfmann: In einem Gebiet, wie eben dem Vinschgau, wo es viele Dauerkulturen gibt, ist es natürlich eine wichtige Frage, wie man den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduzieren kann. Daran arbeitet auch die EU seit Jahren. Ich denke aber, dass wir das Problem nicht lösen, wenn wir meinen, man muss in der Landwirtschaft zurück zu den Wurzeln. Wir müssen auch produzieren und die Herausforderungen mit Blick nach vorne angehen. Wir brauchen neue Pflanzenschutzmittel, die weniger problematisch sind. Die Landwirtschaft selbst hat das größte Interesse daran, nachhaltig zu produzieren. Der Großteil der Bauern ist auch sehr empfänglich für diese Botschaften. Die Landwirte denken oft mehr in Generationen als andere Sparten. Wenn wir auf den Vinschgau blicken, dann gibt es hier unzählige Höfe, die seit Generationen bestehen. Kein Bauer hat das Interesse, seinen Hof und seinen Boden zu zerstören, damit den Kindern nichts mehr übrigbleibt. 

Wie kann man die Reduzierung der Pflanzenschutzmittel vorantreiben?  

Indem wir auf neue Technologien setzen und daran forschen. Es gilt, Pflanzen zu züchten, die resistent gegen Schädlinge sind. Durch schorfresistente Apfelsorten kann man zum Beispiel schon eine Vielzahl an Pflanzenschutzmitteln weglassen.  

Brauchen wir mehr Bio? 

Der Vinschgau ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Bio-Produkion ausgedehnt werden kann. Aber Vorgaben mit gewissen Prozentsätzen seitens öffentlicher Institutionen sind hier völlig fehl am Platz. Wie hoch der Bio-Anteil ist, dies muss der Markt regulieren. Der Vinschgau zeigt, dass sich Dinge durchaus entwickeln, wenn sich auch der Markt entwickelt. 

Viele Landwirte tun sich finanziell immer schwerer, insbesondere in der Berglandwirtschaft. Was macht die EU? 

Natürlich ist es schwierig, vor allem in der Berglandwirtschaft. Ohne EU-Beiträge gäbe es viele Höfe nicht mehr. Die Förderungen waren in den letzten Jahren attraktiv, können sich aber nach wie vor sehen lassen. Die Entwicklung in der Landwirtschaft, auch was die Bergbauern betrifft, ging in den vergangenen Jahren steil nach oben, diese Entwicklung gilt es weiterzuführen. Es muss das Bestreben sein, sich in Sachen Förderungen mehr auf die kleinen Betriebe zu konzentrieren und nicht auf die großen. 

Ein derzeit polarisierendes Thema in der Landwirtschaft sind die Raubtiere. Sind Lösungen in Sicht? 

Die Zeiten ändern sich, es war vor einigen Jahren auf europäischer Ebene noch ein No-Go den Schutzstatus des Wolfes in Frage zu stellen. Mittlerweile ist dies anders, die EU-Kommission lehnt Wolfsentnahmen aufgrund eines Managementplans nicht mehr grundsätzlich ab. Ich bin überzeugt, dass wir innerhalb weniger Jahre zu einem flexibleren Raubtier-Management kommen werden. Ich verstehe natürlich die Bauern und Schafzüchter, die nach schnellen Lösungen rufen, es ist ein Drama, wenn die Tiere gerissen werden. Aber es wird was passieren. Man kann das Problem jedoch nicht auf EU-Ebene lösen, solange sich nicht auch die Mitgliedsstaaten klar bekennen. Insofern liegt hier der Ball durchaus auch bei den Staaten und den Regionen. 

Stichwort Nationalpark Stilfser Joch: Hier wird Rotwild geschossen, da die Dichte zu hoch sei und es zu Schäden am Wald und an landwirtschaftlichen Kulturen komme. Auch hier gibt es Kritik seitens einiger Tierschützer. Diese behaupten, die Natur könne sich von alleine regulieren. 

Am Beispiel Nationalpark Stilfser Joch wird doch klar, dass der Glaube mancher Naturfetischisten, dass sich alles von alleine regelt, ein Irrglaube ist. Natürlich regelt die Natur an und für sich alles alleine, aber wir leben in Südtirol nicht in einem reinen Naturraum, sondern auch in einem Kulturraum. Man muss ein Gleichgewicht finden, zwischen Naturraum und Kulturraum. Natürlich könnte man den Hirschbestand durch Wölfe im Nationalpark regeln, aber dann wäre es ein reiner Naturraum. In einem Kulturraum sollte man auch Tierarten wirtschaftlich halten können. Man hat im Nationalpark gesehen, seit man Hirsche dort schießen kann, sind diese nicht ausgestorben. Wenn man in Zukunft Wölfe und Bären regulieren kann, dann werden auch diese nicht aussterben. Das Gejammere und Getöse einiger Tierschützer, dass bei einem kontrollierten Abschuss die Raubtiere aussterben, ist einfach Blödsinn. 

Wie stressig sind die Tage in Straßburg? 

In Straßburg finden jährlich 12 viertägige Plenartagungen statt. Wenn wir hier sind, ist es schon sehr stressig. Aber mir gefällt es auch gut, ich sehe kein Problem, wenn die Agenda ordentlich gefüllt ist. 

Wo fühlen Sie sich wohler, in Straßburg oder Brüssel? 

Für mich persönlich macht die Fahrt nach Straßburg oder Brüssel nicht viel Unterschied was die Anreise betrifft, für manche Kollegen aus anderen Ländern ist das natürlich schwieriger. Sicherlich kann man die Aufteilung der Parlamente hinterfragen, aber dies ist historisch gewachsen. Straßburg ist eine Symbolstadt für die Zusammenarbeit in Europa.

Kandidieren Sie bei den EU-Wahlen 2024? 

Wir haben mit den Landtagswahlen im Oktober erstmal ein wichtiges Wahlereignis in Südtirol, dann werden wir schauen, ob die Voraussetzungen stimmen. Es hängt von der Partei ab, aber auch von möglichen Allianzen.  

Wie blicken Sie auf ihre Partei, Stichwort Grabenkämpfe? 

Ich bin mittlerweile nun doch schon lange dabei. Die SVP war schon immer eine Partei, wo kontroverse Ideen Platz hatten. Als Sammelpartei will man das ganze Spektrum von Mitte links bis Mitte rechts abdecken, natürlich führt das auch zu Konflikten. Ich würde mir manchmal wünschen, dass diese Konflikte nicht so sehr auf persönlicher Ebene ausgetragen werden, sondern es mehr um die Inhalte geht.

Die EU-Vinschgerin Johanna Thöni  

An Gesetzesvorschlägen arbeiten, Verordnungen studieren, bei Verhandlungen assistieren: die aus Langtaufers stammende Johanna Thöni arbeitet als Assistentin des Südtiroler EU-Abgeordneten Herbert Dorfmann. Thöni sowie ihre Kolleginnen, die Rittnerin Ute Schweigkofler, die Grödnerin Vera Sordini und der Nonsberger Mauro Agosti, kümmern sich um verschiedene Aufgaben. Die Vinschgerin, die neben Deutsch auch fließend Italienisch, Englisch und Französisch spricht, ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin Dorfmanns unter anderem im Ausschuss für Regionalentwicklung und EU-Haushalt sowie im Ausschuss für Wirtschaft und Währung und Steuerfragen aktiv. 

der Vinschger: Wie kamen Sie zu dieser spannenden Arbeit? 

Johanna Thöni: Ich habe in Bozen das Masterstudium für Verwaltung und Politik öffentlicher Institutionen/Public Management absolviert. Bereits damals interessierte ich mich sehr für die politische Arbeit auf EU-Ebene und das EU-Management – wie alles funktioniert und was es mit den Gesetzgebungen auf sich hat. Der Wunsch wurde schließlich immer konkreter, vor rund 10 Jahren zog ich erstmals nach Brüssel, besuchte dort eine Sommerschule und absolvierte diverse Praktika. Es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick. In Brüssel herrscht jedoch ein echter Wettbewerb, zweimal musste ich die Zeit in Belgien unterbrechen und wieder nach Hause ziehen. Seit 2019 bin ich fix in Brüssel als Mitarbeiterin von Herrn Dorfmann. 

Wie sehen Sie Ihre Zukunft? 

Ich möchte in Brüssel bleiben, unsere Arbeit ist aber immer mandatsgebunden, im nächsten Jahr stehen die Wahlen an. Es bleibt somit spannend. 

Sie kommen aus dem idyllischen Langtauferer Tal. War Brüssel ein Kulturschock? 

(lacht) Nein, nein. Brüssel ist schon eine spezielle Stadt und sehr international, oft chaotisch. Aber ich denke auch wir Vinschger, insbesondere im oberen Vinschgau, sind sehr offen und aufgrund der Grenznähe durchaus auch international.  

Was verbindet Sie noch mit dem Vinschgau? 

Alles, ich bin immer wieder stolz, wenn ich nach Hause komme. Hier habe ich Familie, Freunde, Bekannte. Drei bis viermal im Jahr bin ich daheim in Südtirol, diese Zeit genieße ich. Die Mama kocht, ich bin in den Bergen unterwegs. Es ist einfach fein bei uns. 

Können Sie sich vorstellen nach Südtirol zurückzukehren? 

Natürlich stellt sich die Frage nach einer Rückkehr, insbesondere wenn man eine Familie gegründet hat. Mein Partner und ich fühlen uns in Brüssel derzeit sehr wohl und heimisch. Vor einem Jahr kam unsere Tochter zur Welt. Vorerst möchten wir somit hierbleiben. Mein Lebensgefährte, ein Nordire, ist ebenfalls im EU-Bereich tätig. 

Was wären Hindernisse für eine Rückkehr in den Vinschgau? 

Natürlich ist es die Frage, welche berufliche Chancen es gibt. Da wäre dann Bozen interessanter, aber mittlerweile auch mit Homeworking gibt es immer mehr Möglichkeiten. 

Mit welchen Sprachen wächst die Tochter auf? 

Mit Deutsch, Englisch und Französisch. Daheim spreche ich mit ihr ausschließlich Vinschgerisch. Das lasse ich mir nicht nehmen (lacht). 

Es heißt oft, Brüssel ist politisch vom Vinschgau weit entfernt. 

Das stimmt keineswegs. Hier werden Themen behandelt, die alle europäischen Bürgerinnen und Bürger betreffen, es sind durchaus Südtiroler Themen, insbesondere auch Vinschger Themen. Schließlich befinden wir uns einer Grenzregion. Ein Beispiel ist doch der Stellenwert einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Viele Probleme gilt es grenzüberschreitend zu lösen, ich denke dabei oft an den Reschenpass, der sicher nicht optimal angebunden ist. Weitere Themen sind das Geoblocking, insbesondere wir deutschsprachigen Südtiroler ärgern uns, wenn wir Filme oder Nachrichten aus dem benachbarten deutschsprachigen Ausland online schauen möchten, über Ländersperren. Ein weiteres bedeutendes Thema ist derzeit sicherlich das Raubtier-Management. 

Wo gibt es im Vinschgau politisch und gesellschaftlich Nachholbedarf? 

Ich glaube, dies ist schwierig zu beurteilen, wenn man nicht selbst hier lebt, stets vor Ort ist und die politischen Gegebenheiten und Probleme kennt. Ich komme heim in den Vinschgau und genieße die Zeit, für mich ist es wie Urlaub. Daher maße ich mir nicht an, ein Urteil darüber zu treffen. 

Wie erleben Sie die Zeit in Straßburg? 

Es ist eine tolle Stadt. Die Zeit hier ist aber arbeitsmäßig immer intensiver. 

Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?  

Es gibt stressigere Tage und auch angenehmere Tage, wie wohl in den meisten Berufen. Die Arbeit ist jedenfalls sehr vielfältig. Oft müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden. In unserer Arbeit geht es insbesondere darum, an Gesetzesvorschlägen zu arbeiten, Inhalte zu analysieren, als Assistentin bei Verhandlungen dabei zu sein, den Abgeordneten zu begleiten. In den Plenarwochen in Straßburg, wenn die Abstimmungen stattfinden, gilt es Tendenzen zu erkennen, Abstimmungen zu analysieren, um den Abgeordneten auf etwaige Passagen, die besonders kritisch sind, hinzuweisen. Wir arbeiten sozusagen inhaltlich wissenschaftlich im Hintergrund.

Michael Andres
Michael Andres
Vinschger Sonderausgabe

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