„Gut aufgehoben“ reicht nicht
Kritischer Blick hinter die Behindertenwerkstatt in Prad
Dietmar Raffeiner

„Gleiche bleiben unter Gleichen“

Dietmar Raffeiner: „Es braucht mehr Einfühlungsvermögen und Phantasie.“ 

Publiziert in 15 / 2023 - Erschienen am 29. August 2023

Prad - Fast 41 Jahre lang hat Dietmar Raffeiner in der Behindertenwerkstatt in Prad als Betreuer und Begleitperson gearbeitet. Seit wenigen Monaten ist er in Pension.
der Vinschger bat ihn zum Interview.

der Vinschger: Offiziell ist die Behindertenwerkstatt eine „Tageseinrichtung für Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung“. Das klingt so, als müssten Menschen mit Beeinträchtigungen von sogenannten normalen Leuten abgesondert werden. Ist das tatsächlich so?

Dietmar Raffeiner: Menschen, die gesellschaftlich abgesondert werden, entwickeln sich hin zu Sonderlingen. Eine vom gesellschaftlichen Leben abgesonderte Einrichtung bleibt auf fast geschlossene Weise eben eine Sondereinrichtung. Seit vielen Jahren spricht man im Behindertenbereich von Integration, von gesellschaftlicher Teilhabe, aber wirklich weiter gekommen ist man mit diesem Vorhaben nicht. Die Klientinnen und Klienten, die einmal in einer solchen Sondereinrichtung angekommen sind, verlassen diesen Ort meistens zeitlebens nicht mehr. Eine solche Behinderten-Einrichtung wie in Prad funktioniert ähnlich wie eine Blase, wo man weitestgehend ohne wirkliche gegenseitige Herausforderungen auf gleichbleibende und gleichförmige Weise sich jeden Tag begegnet. Über kurz oder lang setzt sich dabei eine automatisierte Betreuungs- und Begegnungsform durch. Pädagogisch zeitgemäß ist eine solche, von der Gesellschaft abgeschottete Institution nicht, denn Pädagogik befasst sich ja mit dem Individuum und seinem Platz in der Gesellschaft. In solchen Einrichtungen haben Menschen mit Behinderungen wenig gesellschaftlichen Kontakt zu Menschen ohne Behinderungen. Gleiche bleiben weitgehend unter Gleichen, was im Kern Entwicklungen wenig umfassend fördert.

Diese Einrichtung nennt man eine geschützte Werkstätte. Was genau bedeutet geschützt?

Geschützte Werkstätten gibt es bereits seit 50 Jahren. Die sogenannte geschützte Werkstätte soll eine Art unterstützendes Sprungbrett sein, um Menschen mit Behinderungen ansatzweise ins Arbeitsleben zu integrieren. Wirklich ankommen auf dem Arbeitsmarkt tut aber kaum jemand. Das Ansinnen war, dass Menschen auf unterstützend geschützte Weise vorbereitet werden, auf das Leben da draußen. Nur, das Leben draußen ist ein völlig anderes als das Leben drinnen in einer begegnungsentfernten Abgesondertheit. Vielleicht wurde diese arbeitsorientierte Vorbereitung in einer geschützten Werkstätte wie in Prad aber auch von vorneherein viel zu wenig ins Auge gefasst. 2021 verabschiedete die Europäische Union eine neue Strategie zur Unterstützung von behinderten Menschen, die das Ende der Förderwerkstätten, sprich geschützten Werkstätten, vorsieht. Menschen mit Behinderungen sollen künftig auf dem Arbeitsmarkt ohne Umwege eingebunden werden. Dies ist sicher ein schwieriges Unterfangen, weil Menschen mit einer Behinderung in ihrer Art sehr unterschiedlich sind und längst nicht alle für eine Arbeitsintegration die Möglichkeiten mitbringen. Für einige, die die Werkstatt in Prad besuchen, wäre eine Arbeitsintegration von ihren vorhandenen Potentialen her aber sicher möglich, wenn auch betriebsmäßig eher in begleitender Form. Die Lebenshilfe Schlanders bietet das ja schon an, soviel ich weiß. 

Ist es sinnvoll, Menschen mit Beeinträchtigungen an einem Ort zusammenzuführen und zu betreuen? 

In den Anfängen sah man im Angebot einer Behindertenwerkstatt unter Angehörigen von Klientinnen und Klienten hauptsächlich eine Form der persönlichen Entlastung. Man konnte tagsüber Menschen in eine solche Einrichtung bringen und sie waren dort im wortwörtlichen Sinne über 8 Stunden „aufgehoben“. Daraus entstand, wie es jemand bezeichnete, eine Art „Verwahranstalt“ ohne großen Entwicklungsanspruch. Diese kollektive Zusammenführung von Menschen an einem Ort lässt in der Tendenz den Einzelnen als Individuum verschwinden. Inmitten einer „Herde“ zu leben führt immer zu einem Konstrukt kollektiver Ausformungen. In einer solchen Institution wird eben jeder einvermengt. Geboren als Individuum, verblasst innerhalb eines Herdengeschehens vermehrt der Wille zur Eigenständigkeit. Förderung und Entwicklung von eigenen Möglichkeiten und Talenten erfordert aber Auseinandersetzungen mit dem Einzelnen. Eine Einrichtung, die auf die Außenwelt hin eher abgeschottet ist, macht Menschen tendenziell gefügiger und Eigensinn wird dann vorschnell als bloße Störung empfunden. Begabungen von Menschen kommen erst zum Vorschein, wenn diesen Begabungen Entfaltungsspielraum gegeben wird. Jeder, der mit behinderten Menschen arbeitet, sollte immer auch ein Begabungsentwickler von Einzelnen sein. Orte formen Menschen mit, je nach Angebot. Ist das Angebot ein karges, entstehen eben keine angestoßenen Entwicklungsschübe. Als Begleitperson von Menschen mit Behinderungen kann man nur dann zur Entwicklung beitragen, wenn man selber auch entwicklungsoffen und auf den Einzelnen hin neugierig ist. 

Kommt es unter betreuten Menschen zu Konflikten?

Wo über 50 Menschen täglich in einem Haus zusammenkommen, ist es nicht nur laut, sondern es kommt natürlich auch zu Konflikten. Es kommt zu Konflikten unter Klienten, zwischen Klienten und Betreuende und zwischen dem Betreuungspersonal. Manches hängt dabei sicher auch davon ab, wieviel persönliches Konfliktpotential jeder Einzelne mit in diese Einrichtung bringt und wie er jeweils imstande ist, damit um zu gehen. Persönliche Frustrationen sind da oft ausschlaggebend bei Konflikten. Leider ist der Hang zur Selbstreflexion in einer Institution wie ich sie erfahren habe, unter Betreuungsangestellten nicht sehr ausgeprägt. Dadurch kommt das abhanden, was man eine professionelle Haltung nennt. Manches driftet dann schubweise ins Private ab. Was in der Einrichtung in Prad fehlt, ist eine Führungsform als anwesende Metaebene, sprich übergeordnete Sichtweise. Inhaltliche Auseinandersetzungen als vertiefte Wahrnehmung über das, was man tut, gibt es so gut wie keine. Jedenfalls habe ich in den letzten Jahren keine solche erlebt. Die Gefahr des Wegschauens ist somit stetig auch vorhanden. Manchmal geschieht das Hinschauen zwar bei einer Supervision in kurzen Momenten, aber ohne einfordernde Nachwirkung.

Was geschieht mit Klienten und Klientinnen, die sich mit dem Betreuungsangeboten nicht oder nur schwer anfreunden können?

Es kommen kaum Klienten und Klientinnen mit einer festen Angebotsvorstellung in die Einrichtung. Von daher wird eine solche, wenn überhaupt, erst vor Ort entwickelt. Auch längst nicht alle Angehörigen von Klienten haben eine solche Vorstellung. Was der Einrichtung in Prad fehlt, ist eine übergeordnete verbindliche Idee. Und es fehlt auch an Struktur. Es fehlt zum Teil auch an Angeboten, die von einem schnellen Beschäftigt-werden zu einem kontinuierlichen Schaffen führen. Betreuungspersonal, das sich immer wieder in seinem Tun selbst hinterfragt, ist eine Grundbedingung für menschliche Weiterentwicklungen. Generell sind Klienten für viele Angebote offen. Die meisten wollen auch wirklich etwas tun.

Wie erleben die Klienten und Klientinnen die Zeit, während der sie sich nicht in der Werkstatt aufhalten können? Kommen sie nach den Wochenenden gerne zurück?

Den meisten Klienten macht es nichts aus, über ein paar Tage nicht in der Werkstatt zu sein. Aber durchgehend kommen alle gerne in die Werkstatt. Für sie gibt es, bis auf wenige Ausnahmen, ja kaum Alternativen zwischen dem Leben in der Werkstatt und dem Leben zu Hause. Es gibt auch wenige Klienten, die in ihren bewohnten Dörfern am Leben dort aktiv teilnehmen, oder gar in Vereinen eingebunden sind. Die Mehrheit der Menschen, die die Werkstatt besuchen, verlassen ihr Zuhause im eigenen Wohngebiet kaum. Ins dörfliche Leben eingebunden sind sie deshalb nicht, obwohl gerade dörfliche Vereine für sie als Form der Einbindung günstig sein könnten. Mit ein wenig Phantasie ließe sich da einiges machen, auch wenn es zum Beispiel nur darum geht, eine Vereinsfahne bei Festveranstaltungen durchs Dorf zu tragen. 

Der Schriftsteller und Maler Georg Paulmichl, der am 18. März 2020 gestorben ist, hat viele Jahre in der Werkstatt gearbeitet. Seine Werke haben internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten. Es gibt bis heute Stimmen, wonach Paulmichls Texte nicht ausschließlich von ihm selbst geschrieben wurden, sondern dass auch Sie als langjähriger Betreuer mitgewirkt haben. Wie sind die Texte konkret entstanden?

Die ersten Texte mit Georg Paulmichl sind noch in der Behindertenwerkstätte in Tschengls entstanden. Georg Paulmichl war jemand, der einen starken Mitteilungsdrang hatte. Aus diesem seinen Mitteilungsdrang heraus sind in einer gegenseitigen Herausforderung zwischen Georg und mir die ersten Texte entstanden. Fast immer war es ein Textthema, das er gedanklich mit in die Werkstatt brachte. Dies konnte ein Schützenaufmarsch im Dorf sein oder eine erlebte Taufe, um zwei Beispiele zu nennen. Viele seiner Themen waren hauptsächlich dörfliche Themen. Weiterentwickelt wurden diese Themen dann gemeinsam zwischen mir und ihm in einem Frage- und Antwortgeschehen. Wesentlich für mich war dabei vor allem das Zuhören auf sein Erzähltes hin. Daraus entwickelten sich wiederum Fragen meinerseits. Das Zuhören ist ja kein passiver Akt. Zuhören heißt, den anderen willkommen heißen in seinem Gesagten. Zuhören ist immer auch ein Schenken, ein Geben, eine Gabe. Es verhilft dem anderen erst zum Sprechen. Das Zuhören geht in gewisser Hinsicht dem Sprechen voraus. Zuhören ist der Resonanzraum, in dem der andere erst zu sprechen beginnt. Ich höre zu, damit der Andere spricht. Ich stelle dem anderen Fragen, damit er weiterspricht. Aus diesem Zuhören, Sprechen und Fragen sind die Texte in einer sich öffnenden, gemeinsamen Resonanz entstanden. Die Resonanz ist kein Echo des Selbst, sondern ihr wohnt immer auch die Dimension des anderen inne. Sie bedeutet Zusammenklang. Innerhalb dieses gemeinsamen Zusammenklangs sind Georg Paulmichls Texte entstanden. Wer den reinen authentischen Georg Paulmichl in seinen Texten sucht, wird ihn nicht finden. In ihm sprachen der Vater, die Mutter, seine erlebte Umgebung im Kindergarten, in der Schule, im Dorf, in der Behindertenwerkstätte, in der Kirche mit und in ihm sprachen auch das Fernsehen, das Radio, erzählte Geschichten und auch ich. Sein ist immer Mit-Sein, weil das Mit das Sein ausmacht, schrieb einst der französische Philosoph Jean-Luc Nancy. 

Ähnliche „Unterstellungen“ gab bzw. gibt es auch bei den Texten von Elmar Rufinatscha für die Rubrik „Elmars Blick auf die Dinge“ im der Vinschger. Stammen alle Sätze zu 100 Prozent von Elmar?

Es gibt wahrscheinlich keinen Menschen, dessen Gesagtes zu 100 Prozent vom jeweils Sagenden selbst stammt. Wer den Eigenanteil von 100 Prozent in einem Menschen sucht, der wird ihn nicht finden. Alle Redewendungen und alles Sprechen aus seiner Lebensumgebung spricht z.B. gedanklich automatisiert in Menschen jeweils mit. Jeder, der redet, greift auf Mitgehörtes und Mitgesprochenes zurück. Dies ist auch bei Elmar Rufinatscha so. Wir sind fast alle Nachplapperer und Mitplapperer. Es gibt keine zwischenmenschlichen Begegnungen in einer überfüllten Behinderteneinrichtung, die frei von gegenseitiger Beeinflussung sind. Die Aussagen kommen von Elmar selbst, und ich half mit, sie in eine lesbare Form zu bringen. Das Entscheidende ist, dass Texte Menschen anregen und erreichen und das ist durch diese Glossen mehr als gelungen. Die vielen Rückmeldungen zeugen davon. Die Anregung zum Schreiben hat Elmar eingefordert und zwar mit Nachdruck. Sein Ansinnen war es, durch seine Gedanken für die Außenwelt lesbar zu werden. Wesentlich dabei war, dass er die Themen jeweils selbst hervorbrachte. Natürlich habe ich ihm zu seinen Themen auch Fragen gestellt. Gewisse seiner Aussagen habe ich auch nicht niedergeschrieben, weil sie zu sehr das Private berührt haben. In diesem Sinn habe ich manchmal auch selektiv eingegriffen. Erstaunlich für mich war beim Schreiben mit Elmar, was er an Gedachtem jeweils hervorgebracht hat. Er ist ein feiner und manchmal auch tiefgehender Beobachter und beim Schreiben ein von Stimmungen getragener Mensch. Wie bei Georg Paulmichl, so war auch das Schreiben mit Elmar ein resonantes Zusammenspiel. Er wollte ausdrücklich sein Gesagtes der Öffentlichkeit preisgeben und nicht bloß in der Werkstatt gehortet wissen. Elmar ist einer der wenigen in der Werkstatt, der eine starke Einbindung ins dörfliche Vereinsleben hat. Insofern ist er sprachlich sehr viel mehr Eindrücken und Erfahrungen ausgesetzt, als die meisten Klienten in der Werkstatt. Oft und oft wurde Elmar auf der Straße angesprochen, wegen der Glossen im der Vinschger. Dadurch war er dann nicht mehr bloß irgendein Namensloser aus der Behindertenwerkstatt.

Was hat sich in der Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung im Laufe der vergangenen Jahrzehnte geändert?

In den Anfangsjahren waren in der Werkstatt ausschließlich Betreuer und Betreuerinnen, die vom Handwerk herkamen. Es waren also Betreuungspersonen, die mit ihren Angeboten Menschen handwerklich erreichen wollten. Die Hand ist das Organ der Arbeit, der Handlung und des Handwerklichen. Heute sind die Begegnungsformen in der Werkstatt handloser geworden. Wer handelt und hantiert, bricht immer wieder mit dem Bestehenden und setzt etwas Neues in die Welt. Auffallend für mich ist, dass Begegnungen mit Klienten manchmal kaum noch über Formen der Beaufsichtigung hinausgehen. Anfangs der 1980er Jahre wurde die Werkstatt von Tschengls nach Prad in die ehemalige „Bohnefabrik“ verlegt. Damals gab es wirklich rege Begegnungsformen zwischen den Werkstattbesuchern und den Bewohnern dort in der St. Antonstraße. Die Werkstatt war dort, gesellschaftlich betrachtet, nicht ein völlig isolierter Teil des Dorfes, wie sie es eben heute ist. Die Umgangsformen gegenüber Klienten haben sich auch gewandelt. Die Begegnungen sind autoritärer und einengender geworden. Man traut Klienten oft zu wenig zu. Zudem denken heute Angestellte, die Klienten begleiten, selbstbezogener als dies in den ersten Jahren der Fall war. Das Soziale ist heute weniger eine persönliche Haltung als vielmehr eine institutionell simulierte. 

Gibt es Betreuungsmodelle, die anderswo erfolgreich funktionieren und von denen der Vinschgau bzw. ganz Südtirol etwas lernen könnte?

Ich glaube, es braucht weniger übernommene Modelle, als vielmehr Begleitpersonen im Behindertenbereich mit vermehrtem Einfühlungsvermögen und vermehrter Phantasie, die sich getrauen, Neues auszuprobieren. Es geht also um Haltungen, die den begleiteten Menschen zumindest in Ansätzen gerecht werden. Was nützt ein übernommenes Modell, wenn die Phantasie im Umgang mit Klienten vor Ort eine kümmerliche ist, oder etwas anderes als die Tagverwaltung von Menschen gar nicht gewollt wird. Im letzten Herbst kam ein junger Betreuer mit einem für mich zwischenmenschlich fast einzigartigen Einfühlungsvermögen in die Werkstatt und zeigte auf, wie einfühlsames Verhalten gegenüber schwerbehinderten Menschen aussehen könnte. Dieser Mann hat deutlich werden lassen, dass es nicht um Modelle geht, sondern um lebendige zwischenmenschliche Beziehungen. Er war voller Motivation, aber diese sprang auf sein Team nicht über und so war er nach einem halben Jahr wieder weg. Eingefahrene Verhaltensmuster immer wieder neu zu überdenken, ist die Essenz einer motivierenden Auseinandersetzung mit Klienten, ansonsten nimmt eine endlose Wiederholung von stereotypen Betreuungsformen überhand, die keine schöpferischen Beziehungen entstehen lassen.

Was sollte sich im Verhalten von uns normalen Leuten im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen ändern?

Wesentlich hierfür wäre eine Umgangsform mit beeinträchtigten Menschen, die nicht infantilisierend ist. Leider ist diese infantilisierende Umgangsform eine sehr verbreitete. Die Umgangsformen sind zu klamaukhaft und nicht wirklich im tieferen Sinn begegnend, sondern oft weitgehend ein rein oberflächliches Geplänkel. Solche Begegnungen tragen keine nachhaltige Essenz in sich. 

Welches Gesamtresümee ziehen sie aus ihrer langjährigen Betreuertätigkeit in der Werkstatt?

Erstmals bin ich froh, nicht mehr Teil dieser Werkstatt zu sein. Der Abgang fiel mir sehr leicht. Es war für mich höchste Zeit, einen anderen Lebensrhythmus zu erfahren. Durch den Abstand auf das Vergangene hin, wird in meinem Erkennen manches klarer. Eine wesentliche Erkenntnis dabei ist, dass es in dieser Werkstatt keine übergeordnete tragende Idee gibt, die inhaltlich eine vorausschauende Verbindlichkeit aufweist. Qualität im Umgang mit behinderten Menschen wird nicht nachhaltig eingefordert. Es fehlt ein gemeinsames Hinschauen im vertieften Sinne. Dabei geht es nicht um einen repressiven Blick, der bloß überwacht, sondern um einen, der die Potenziale von Klienten erkennt. Auch ich war kein ständiger Hinschauer und habe mich manchmal auch in Beliebigkeiten verloren. Die Stammrolle als Betreuer, als Betreuerin bekommt man, wenn man das Hierarchiekonstrukt der Bezirksgemeinschaft in einem Prüfungsverfahren erklären kann und weniger, weil man den individuellen Ausdruck und das eigene Möglichkeitsvermögen von Klienten in einem umfassenderen Sinne zu erkennen vermag. Auffallend für mich war auch immer wieder, dass Klienten in der Werkstatt nicht überfordert sind, sondern eher oft unterfordert. Der ganze Tagesablauf in der Einrichtung ist zu sehr aufs Aufgehoben-Sein hin angelegt und somit kein Modell, das als Idee wirklich darüber hinaus möchte. Die Frage ist, wie man aus solchen Selbstbezogenheiten hinaus kommt? Was es dazu braucht sind Menschen, die das wollen und sich immer wieder kritischen Fragen reflektierend auch stellen. Zu lange Jahre an einem solchen Ort zu arbeiten, lässt die eigene Sensibilität für Menschen schwinden und führt dann eher dahin, dass man an einem solchen Arbeitsplatz nicht mehr macht, als eben das Notwendige. 

Haben sie Vorschläge oder Anregungen an die Adresse der Politik? Am 22. Oktober wird ja der Landtag neu gewählt.

Anregungen an die Politik zu geben hieße, zu verkennen, dass für kaum einen Politiker oder eine Politikerin ein solcher Ort wie die Behindertenwerkstätte wirklich von Interesse ist. An solchen Orten und drum herum sammelt sich auch kein nennenswertes Wählerpotential an. Zudem funktioniert eine solche Einrichtung wie in Prad in Sachen „Aufgehoben-Sein“ ja recht gut und trotz EU- Beschluss wird es diese Einrichtung in dieser „menschenaufgehobenen“ Form noch lange geben. Zudem war meine Erfahrung auch die, dass man durch neue Ideen nicht unbedingt herausgefordert werden möchte. Klopft zum Beispiel die Design Akademie Bozen an die Tür, um etwas gemeinsam zu entwickeln, so wird dies weitgehend als Störung empfunden. Der Mensch, so scheint es, ist tendenziell auf den Erhalt des Status Quo geeicht. Dies erfordert am wenigsten Anstrengung und überlässt alles dem Gewohnten. 

50 Mal den Spiegel vorgehalten

Es war im Juli 2021, als wir den ersten Beitrag der Rubrik „Elmars Blick auf die Dinge“ veröffentlichten. Ausgabe für Ausgabe hat Elmar Rufinatscha aus Taufers im Münstertal seither der Gesellschaft sozusagen den Spiegel vorgehalten. Sein 50. Beitrag ist der letzte. Er geht jetzt mit dem „Textschreiben in Pension“. Von Anfang an ist es Elmar gelungen, seine Welt, sein Leben und seine Sicht auf die Dinge in einfachen, ehrlichen und nahezu kindhaften Sätzen auf den Punkt zu bringen. Er schrieb immer so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Mittlerweile ist Elmar, der in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Prad lange Zeit von Dietmar Raffeiner - er ist seit kurzem in Pension - individuell gefördert und betreut wurde, nicht nur in Prad und seiner Heimatgemeinde Taufers im Münstertal als „Textschreiber“ bekannt und geschätzt, sondern weit darüber hinaus. Das der Vinschger-Team bedankt sich im eigenen Namen und im Namen der Leserinnen und Leser bei Elmar Rufinatscha für seine originellen, einzigartigen und wertvollen „Blicke auf die Dinge“.

Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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