Ein dickes Kind ist (k)ein gesundes Kind

Immer mehr übergewichtige Kinder

Publiziert in 38 / 2007 - Erschienen am 31. Oktober 2007
„Ein dickes Kind ist ein gesundes Kind“, hieß es in kargen Zeiten. Es könne Hungersnöte besser überstehen und Infek­tionen trotzen. Inzwischen nehmen die übergewichtigen Kinder weltweit jedoch in einem Maß zu, das ihre Gesundheit gefährdet. Zusammen mit Asthma, Allergien und diffusen Schmerzen ist die Krankheit Übergewicht zu einem Massenphänomen bei Kindern geworden. Die Anzahl der an Adipositas (Fettleibigkeit) erkrankten Kinder steigt dermaßen an, dass man in ­Medizinerkreisen bereits von der Epidemie des 3. Jahr­tausends spricht. von Silvia Gasser Fett war ursprünglich die Speichersubstanz für Energie in Hungersnöten. Demnach ist Fett auch eine geniale Erfindung der Evolution. Aber in den letzten Jahren haben sich unser Speiseplan und unsere Essenszubereitung sehr stark verändert. Adipositas (Fettleibigkeit) ist vor allem eine Folge der alten Wunschvorstellung der Menschheit: Wohlstand, Nahr­ungsüberfluss und Reduzierung der körperlichen Anstrengung. Aber Adipositas geht mit vielen gesundheitlichen Risiken einher: Diabetes Typ II (im Volksmund bisher „Altersdiabetes“ genannt), Depression, Atemnot, erhöhter Blutdruck, rasche Ermüdbarkeit, Schlafstörungen, Gallenleiden, degenerative Gelenkerkrankungen. Übergewicht beginnt früher, ist immer öfter anzutreffen und nimmt größere Ausmaße an. Mit der Anzahl der Betroffenen nimmt allerdings auch die Zahl der Theorien zu, die den Anstieg erklären sollen – von genetischer Veranlagung bis zu übermäßig hoher Raumtemperatur ist da die Rede. Zum Großteil ist Übergewicht oder Fettleibigkeit aber auf eine ungesunde Lebensweise zurückzuführen, selten auf körperliche Faktoren. Unausgewogene Ernährung Viele Menschen nehmen sich heute kaum noch richtig Zeit für das Essen, alles muss schnell gehen – was auch den Erfolg von fett- und kalorienreichem Fast-Food erklärt. Immer mehr Kinder müssen ihre Mahlzeiten allein einnehmen. Sie machen sich nach Lust und Laune rasch eine Mahlzeit warm und essen sie alleine. Dadurch wird ein unregelmäßiges und vor allem unkontrolliertes Essverhalten gefördert, das sich gerade auf Kinder und Jugendliche mit Übergewicht ungünstig auswirkt. Häufig werden reichhaltige und gesunde Nahrungsmittel wie Obst und Gemüse oder Wasser als Getränk durch Chips, Schokolade und süße Getränke ersetzt. Diese enthalten deutlich mehr Kalorien, führen dem Körper aber nur sehr wenige lebenswichtige Nährstoffe zu. Somit kommt es nicht nur zu einer Unterversorgung an ­Vitaminen und Mineralien, sondern auch zu einem Überschuss an eingenommener ­Energie. Gerade das Belohnen mit Süßigkeiten, Knabbereien oder einem besonders guten Essen für gutes Benehmen, gute Noten oder Arbeiten im Haushalt kann für Kinder sehr negative Folgen haben. Mangelnde Bewegung Wenn zur unausgewogenen Ernährung Bewegungsmangel hinzukommt, sind Probleme vorprogrammiert: Kinder werden oft von den Eltern mit dem Auto zur Schule oder zu Freizeitaktivitäten gefahren. Ihre Freizeit verbringen viele vor dem Fernseher oder mit Computerspielen. Nicht selten werden bei diesen Tätigkeiten auch noch reichlich Chips & Co. verzehrt. Hier wird nicht mehr aus Hunger, sondern aus Gewohnheit, Langeweile oder einfach Esslust Nahrung aufgenommen. Durch das stundenlange Stillsitzen benötigen die Kinder jedoch weniger Körperenergie und ihre sportliche Leistungsfähigkeit nimmt ab. Die körperliche und motorische Fitness von Kindern und Jugendlichen hat stark nachgelassen. Außerdem wird besonders während der Kindersendungen für Nahrungsmittel geworben, die Kinder ansprechen und meist alles andere als gesund sind. Die Rolle der Gene - elterliches Übergewicht Experten stimmen überein, dass hauptsächlich genetische Faktoren dafür verantwortlich sind, wie viele Fettzellen im Körper angelegt sind. Die Gene bestimmen auch den „Grundumsatz“, also die benötigte ­Energiemenge, die von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein kann und für die Tatsache verantwortlich gemacht wird, dass manche Menschen anscheinend so viel essen können, wie sie wollen, ohne zuzunehmen, bei anderen sich aber schon kleine Steigerungen der Kalorienzufuhr in dauerhaften Fettpolstern niederschlagen.Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, dass die Eltern von Kindern mit Übergewicht in der Regel ebenfalls übergewichtig sind. Aber: nicht jeder Mensch mit der genetischen Veranlagung zum Übergewicht wird auch übergewichtig – die Gene erhöhen nur die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt. Außerdem ist es ebenso gut möglich, dass in einer Familie mit Übergewichtigen einfach ein ungünstiges Ernährungs- und Bewegungsverhalten üblich ist, das zu Fett­ablagerungen führt. Weitere Risiken Als weitere Risikofaktoren für Übergewichtigkeit bei Kindern gilt das Rauchen in der Schwangerschaft, das Abstillen vor dem 6. Lebensmonat, erhöhte Wachstumsgeschwindigkeit im ersten Lebensjahr, hohes Geburtsgewicht (über 4 kg) und Schlafdefizit des Kindes (wenn ein Kind mit 3 Jahren weniger als 10 Stunden schläft). „Übergewicht bei Kindern ist eine chronische Krankheit, nicht mehr nur ein Schönheitsfehler. Diese ist schwer in den Griff zu bekommen. Es funktioniert nur, wenn die ganze Familie mitmacht. Dies gilt dann auch für Großeltern, Tanten und Onkel oder enge Freunde. Aber gerade dort, wo die Eltern selbst übergewichtig sind, ist es oft schwer, einen Therapieerfolg zu erzielen“, sagt Dr. Gerda Tinzl aus Erfahrung. Das Problem Übergewicht ist ein langfristiges – wer es als Kind nicht schafft abzunehmen, hat ein deutliches Risiko, spätestens als Erwachsener Dauerpatient zu sein. Übergewicht bei Kindern wirkt sich auf viele Lebensbereiche ungünstig aus. Zum einen kann die Gesundheit des Kindes langfristig darunter leiden, zum anderen ist das Selbstwertgefühl des Kindes durch das Übergewicht stark gefährdet. Gerade im Jugendalter kann dies zu einem verheerenden Kreislauf führen: sie werden wegen ihres Übergewichtes gehänselt, verkriechen sich noch mehr zu Hause, nehmen an weniger Aktivitäten teil, essen noch mehr, Computer und Fernsehen sind die einzigen Freunde. Bei Kindern, die sich noch in der Wachstumsphase befinden, genügt es meist, den Gewichtsanstieg zu verlangsamen oder das Gewicht zu halten. Denn durch das Längenwachstum wird das Gewicht im Verhältnis niedriger. Es geht also bei Kindern auf keinen Fall darum, eine Diät zu machen. Richtige Diäten kommen für übergewichtige Kinder ohnehin nicht in Frage. Hier geht es darum, die Lebensgewohnheiten zu ändern: die Ernährungsgewohnheiten ändern und für mehr Bewegung sorgen. Bei Kindern geht es nicht ums „Runterhungern“, sondern darum zu versuchen, den Kalorienverbrauch über die Kalorien­zufuhr zu heben, was immer auf die Faustformel „weniger Fast Food, mehr Bewegung“ hinausläuft. Dies verlangt aber Durchhaltevermögen, was gerade bei Kindern nicht einfach so vorauszusetzen ist. Mehr Bewegung und ­mindestens eine ­gemeinsame Mahlzeit Da Kinder ihre Umwelt instinktiv nachahmen, sollten Eltern ein gutes Vorbild sein. Vor allem wenn es um die Gesundheit der Familie geht, tragen die Eltern eine große Verant­wortung. Da die meisten Kinder Süßes und Fast Food lieben, diese aber für die Gesundheit alles andere als förderlich sind, sollten die Eltern darauf achten, dass ihre Kinder eine ausgewogene Lebensweise haben. Aber auch was Bewegung anbelangt, können Eltern ihren Kindern den Spaß daran vorleben, indem sie selbst zu Fuß oder mit dem Rad fahren, wann immer es geht. Indem sie selbst Sport betreiben und die Kinder darin unterstützen. Experten raten zu mindestens einer gemeinsamen Familienmahlzeit. Denn Essen ist auch ein soziales Ereignis, bei dem man sich austauschen kann. ­Jedes Familienmitglied sollte sich selbst seinen Teller füllen und bestimmen, wie viel es isst. Nur hierdurch kann jeder einzelne die Verantwortung für sein Essverhalten übernehmen. In Südtirol ist die Akzeptanz von Adipositas als Krankheit noch in den Kinderschuhen. Während man in den Nachbarländern Selbsthilfegruppen, verschiedene Einrichtungen wie Kliniken oder Heime für Kinder mit Übergewicht bzw. Fettleibigkeit findet, gibt es in Südtirol kaum Anlaufstellen für Betroffene. Im Krankenhaus Bozen gibt es eine spezialisierte Ambulanz der Abteilung für Kinder- und ­Jugendheilkunde.Im Jahr 2003 wurde in ­Schlanders eine interdisziplinäre Gruppentherapie für übergewichtige Kinder eingeführt, unter der Initiierung der Kinderärztin Dr. Gerda Tinzl. Die Gruppe, welche auch von der Kinderärztin, einer Ergotherapeutin, einem ­Psychologen und einer ­Diät­istin begleitet wurde, musste dann aber aus Personalgründen aufgegeben werden. „Der Bedarf wäre aber da“, so Dr. Gerda Tinzl. Während der letzten zwei Jahrzehnte hat Adipositas, die so genannte Fettleibigkeit, auch in Italien epidemieartig zugenommen. Das belegen Daten des Nationalen Instituts für Statistik (ISTAT). In Südtirol sind 16,1 % der Kinder übergewichtig, 35 bis 40 % davon leiden bereits an einer Leberverfettung, und von denen weist die Hälfte Zeichen einer Leberentzündung auf. In ­Italien sind bereits 20 % der 6- bis 17-Jährigen übergewichtig, 4 % gar fettleibig; bei den 6- bis 9-Jährigen sind sogar 30 % übergewichtig. Interessanterweise überwiegen eindeutig die Jungen vor den Mädchen. Außerdem ist eine Verlagerung von Nord nach Süd zu erkennen: je weiter südlich, desto größer ist der Anteil an über­gewichtigen Kindern. Adipositas – Definition Die Adipositas (Fettleibigkeit) des Kindes ist das Resultat ­einer andauernden positiven Energiebilanz; praktisch werden mehr Kalorien zu sich genommen, als verbraucht werden. Ob ein Kind übergewichtig ist oder an Adipositas leidet, wird mittels BMI (Body-Mass-I­ndex) errechnet. Zur Vermeidung von Übergewicht werden folgende Empfehlungen gegeben: 1. Fünf Mahlzeiten am Tag (Frühstück wichtig! Zwischen­mahlzeit, Mittagessen, Marende, Abendessen). Essgelegenheiten außerhalb der Mahlzeiten vermeiden 2. Mindestens 5 Portionen von Früchten oder Gemüse am Tag 3. Täglich mindestens eine gemeinsame Familienmahlzeit 4. Viel Wasser trinken und gezuckerte Getränke vermeiden 5. Weniger Fett zu sich nehmen, v.a. Wurstwaren, Frittiertes, Gewürze, Süßes 6. Die Nahrung nicht als Belohnung oder Bestrafung verwenden 7. Das Spiel im Freien bevorzugen, wenn möglich mindestens 1 Stunde am Tag 8. Zu Fuß gehen, wo immer es geht 9. Regelmäßig Sport betreiben: es ist nicht wichtig, ein Champion um jeden Preis zu sein, es ist wichtiger, körperliche Betätigung und Spaß zu haben 10. Einschränkung der Videoabhängigkeit (TV, PC, Videospiele) in der Freizeit: maximal 2 Stunden am Tag
Silvia Gasser
Vinschger Sonderausgabe

Diese Seite verwendet Cookies für funktionale und analytische Zwecke. Lesen Sie unsere Cookie-Richtlinien für weitere Informationen. Durch die Nutzung dieser Website erklären Sie sich damit einverstanden.