Bäh, mäh, möh!

Mit lautem Geblöke über die Jöcher

Publiziert in 24 / 2009 - Erschienen am 24. Juni 2009
Schnalstal/Kortsch – Der scharfe Nordwind weht ihm den Schlaf aus den Augen. Die neuen Turnschuhe sind es nicht gewohnt, in der Morgendämmerung steil aufzusteigen, unter der Last des Kamera­gerätes, und mit der Angst, der Herde nicht folgen zu können. Doch der Fernsehmann aus der Schweiz hat Glück: nicht nur er kommt arg ins Keuchen, sondern auch ein trächtiges Schaf. Das einzige, das nicht Schritt halten kann, das aber genau weiß, wohin es heute geht: Auf die Sommerweide ins Ötztal. von Sepp Laner Der Übertrieb von rund 2.000 Schafen von Kurzras auf das Hochjoch (2850 m) und weiter über den Hochjochferner bis zu den Almen im Ötztal am Samstag, 13. Juni, war für den Großteil der Tiere, Schafbauern und Treiber nur der letzte Akt des großen Almauftriebes. Die 25 Schafbauern aus Kortsch zum Beispiel, die fast ausnahmslos Hobbyzüchter sind, hatten ihre rund 440 Tiere bereits am 10. und 11. Juni zu den ­„Schnarangerlen“ getrieben, um sie zu zählen und mit roter Farbe zu kennzeichnen. Am 12. Juni wurden die Tiere ausgehend von der „Köschtnegart“ in Richtung Schlandraun getrieben. Bei der Einkehr des Neuwaals zu Beginn der Schlanderser Alm stieß Johann Niedermair, Waldenthalbauer am Schlanderser Sonnenberg, mit seinen rund 100 Schnalser Schafen dazu. Gemeinsam ging es weiter auf die Schlanderser und Kortscher Alm, zum Kortscher See, hinauf auf das Taschljöchl (2772 m) und von dort auf der Schnalser Seite hinunter bis nach Kurzras. Etliche Schafzüchter aus Laas und Umgebung waren bereits am 11. Juni mit ihren rund 500 Tieren bis zur Kortscher Alm gezogen, wo sie die Nacht verbrachten. Am 12. Juni ging es auch für sie bis Kurzras, wo bis zum Abend zusammen mit weiteren Schafen, unter anderem auch aus dem Schnalstal, insgesamt rund 2.000 Tiere beisammen waren. Der Schafübertrieb von Vernagt über das Niederjoch zur Niedertal-Alm im Ötztal erfolgte heuer eine Woche früher als jener von Kurzras über das Hochjoch. Aufteilt in mehreren Gruppen verlassen die Schafe, Züchter und Treiber am 13. Juni die Koppeln in Kurzras. Unser Kameramann bildet mit dem trächtigen Schaf das Schlusslicht der vorletzten Gruppe, die um 5 Uhr aufbricht. Blökend und zielstrebig folgen die ­Schafe den alten Pfaden. Tier und Mensch werden eins. Es bewegt sich alles himmelwärts. Nur die Lichter der Hotels in Kurzras, die dumpfen Stützen der Seilbahn, die Liftanlagen und die neugierigen Medien-Menschen trennen den weißen Zug der Schafe von uralten Zeiten. Von Zeiten, die Jahrhunderte, ja Jahrtausende zurückliegen. Die Züchter, Treiber und Hunde achten darauf, dass die ­Schafe zusammen bleiben und die Pfade nicht verlassen, vor allem an jenen Stellen, wo noch Schnee und Eis liegen. Sind es die Schafe, die den ­Menschen folgen, oder laufen die Menschen hinter den Schafen her? Die Antwort bleibt offen. Das letzte, etwas gefährliche Teilstück bis zum Schutzhaus „Schöne Aussicht“ (2845 m) hat Hüttenwirt Paul Grüner zusammen mit seinem Team freigeschaufelt und mit Seilen gesichert. Am 13. Juni verläuft alles bestens. Das Wetter ist hervorragend, kein Mensch und kein Tier nimmt Schaden, die heiße Gerstensuppe im Schutzhaus tut dem Körper ebenso gut wie der Seele. Die Schafzüchter, der Hirte Willi Gurschler, seit 29 Jahren „Schafer“ auf der Rofenberg-Alm, und auch der verschmitzte „Waldenthaler“ nehmen sich etwas Zeit für neugierige Journalisten. Diese wollen nicht so recht glauben, dass Johann Niedermair schon seit 67 Jahren fast ununter­brochen mit den Schafen auf die Ötztaler Almen zieht und auch beim Abtrieb mit dabei ist: „Warum glaubt ihr das nicht, ich bin ja erst 77.“ Im Gegensatz zu anderen Züchtern, die sich auf das Tiroler Bergschaf konzentrieren, hält der „Waldenthaler“ seit jeher dem etwas kleineren Schnalser Schaf die Treue. Mehr noch: Er war es, der dazu beigetragen hat, diese gefährdete, vom Aussterben bedrohte Schafrasse wieder „in Schwung“ zu bringen, wie er sich selbst ausdrückt. Das Schnalser Schaf passe sich unseren landschaftlichen und klimatischen Gegebenheiten gut an. Dass die EU den Erhalt dieser Rasse mit kleinen Beiträgen schützt, ist daher wohl mehr als angebracht. ­Etwas in Sorge ist Willi Gurschler heuer deshalb, weil das Wachstum des Almgrases wegen des schneereichen Winters noch im Rückstand ist: „Vielleicht hätte man heuer mit dem Auftrieb etwas zuwarten sollen.“ Auf der Rofenberg-Alm sei es mit dem Gras noch nicht zum Besten bestellt, „und was die Schafe, die sich schon seit einer Woche auf der Niedertal-Alm aufhalten, fressen sollen, weiß ich nicht. Wohl das Altgras vom Vorjahr.“ Die Rast beim Schutzhaus tut den ­Schafen nicht minder gut als den Menschen. Es ist dies die letzte Pause, bevor die ­Herden über den Hochjochferner ­ziehen und hinunter zu den ­Almen. Neben Willi ­Gurschler ist seit einigen Jahren auch dessen ­Bruder Markus Schafhirte im Ötztal (Sommerberg, ­Winterstall und ­Ramol). Zusätzlich zu Schafen aus dem Vinschgau hütet er auch Tiere von ­Bauern aus dem Ötztal. Wer einen Schafübertrieb miterlebt, fühlt sich für wenige Stunden der Zeit entrückt. Vergessen sind all die modernen Sachen, alle Technik und alle Probleme im Tal. Auch die viel diskutierte Krise kann den Schafen nicht wirklich zu „Fell“ rücken. Im Gegenteil: Der Volkskundler und Schriftsteller Hans Haid aus dem Ötztal, der den heurigen Schafübertrieb für eine mehrteilige Radiosendung auf Ö1 mitverfolgte („Der Treck der Schafe - Transhumanz im ­Alpenraum“), ist davon überzeugt, dass die Krise der uralten Tradition des Schafübertriebs nur nützen kann. „Die Krise zeigt mehr und mehr, welchen Stellenwert diese Schafübertriebe, das bergbäuerliche Leben insgesamt und die kleinen regionalen Kreisläufe haben.“ Die Krise könne dazu führen, dass ein Schaf wieder einen wirklichen Wert bekommt, und dass Schafzüchter mehr werden als nur Hobbybauern. Ganz falsch kann Hans Haid mit seiner Prognose nicht liegen. Die Schafzucht in Kortsch zum Beispiel - und nicht nur - befindet sich seit Jahren im Aufwind.
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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