Pflegebedürftige können oft mehr als man denkt
Publiziert in 43 / 2012 - Erschienen am 28. November 2012
Das Wort klingt zwar fremd und kompliziert, aber Kinästhetik wird immer wichtiger, vor allem in der Pflege in den Altersheimen.
Laas - Eine Art Kinästhetik-Fachtagung fand am Freitag im Wohn- und Pflegeheim Laas statt. 16 Frauen und 1 Mann, die vorwiegend in Altersheimen im Vinschgau arbeiten, schlossen ihre Ausbildung als Kinästhetik-Peer-Tutoren ab. Sie hatten sich seit Juli an insgesamt 7 Tagen unter dem Motto „Wir bewegen nichts, wenn wir uns selber nicht bewegen“ ausgebildet. „Sie sind jetzt eine Art ‚Hauslehrer‘, damit das Erlernte in den Strukturen, in denen sie arbeiten, umgesetzt wird und lebendig bleibt,“ sagte Waltraud Weimann aus Deutschland, Lehrerin für Pflege, Krankenschwester und Kinästhetik-Trainerin. Bei der Kinästhetik in der Gesundheits- und Krankenpflege geht es in erster Linie darum, dass Pflegende die Bewegungen der Pflegebedürftigen unterstützen, und zwar ohne Heben und Tragen. Das trägt einerseits dazu bei, die körperliche Gesundheit der Pflegenden zu erhalten und hilft andererseits, die Bewegungsressourcen von kranken Menschen zu erkennen und zu fördern. Jede Bewegung, zum Beispiel das Aufstehen vom Rollstuhl oder der Wechsel vom Bett auf einen Stuhl, wird so gestaltet, dass der Betroffene die Selbstkontrolle über das Geschehen hat. Beispiel: Es ist ein Unterschied, ob ich einen Menschen von einem Stuhl einfach hochhebe, oder ob ich ihn anleite, selbst mitzuhelfen und seine Bewegungskompetenzen einzusetzen.
Gut für Bewohner und Mitarbeiter
„Kinästhetik leistet einen aktiven Beitrag zur Gesundheitsentwicklung und -erhaltung der Heimbewohner und Mitarbeiter/innen“, sagte Rosamunde Patscheider, die Präsidentin des Konsortium-Betriebes Laas/Schluderns (Altersheime Schluderns und Laas). Sie überbrachte die Grüße der Direktorin Sibille Tschenett - sie nahm an der Beerdigung von Altabt Bruno Trauner statt -, der die Kinästhetik in der Pflege seit vielen Jahren ein besonderes Anliegen ist. Der Einsatz von Kinästhetik entlastet laut Patscheider die Mitarbeiter/innen und die Heimbewohner sind mobiler und aktiver am Leben beteiligt. Bereits 2003 wurde in den Heimen Laas und Schluderns mit einem langjährigen Bildungsweg begonnen, und zwar mit dem Ziel, allen Mitarbeiterinnen eine kinästhetische Grundausbildung zukommen zu lassen. Auch Mitarbeiter/innen umliegender Altersheime, der Hauspflege und Hauskrankenpflege sowie des Krankenhauses wurden zu Kursen eingeladen, „sodass ein Netzwerk innerhalb der stationären und ambulanten Dienste im Vinschgau geknüpft werden konnte.“ Die Zahlen des Zeitraums 2003 bis 2012 sprechen für sich: 7 Grund- und 7 Aufbaukurse mit Praxisbegleitungen, ca. 25 Bewegungswerkstätten und interne Workshops, 3 Ausbildungen für Peer-Tutoren sowie 6 Weiterentwicklungstage für Peer-Tutoren. Insgesamt nahmen 250 Personen an den Kursen teil, vor allem aus dem Vinschgau, einige aber auch aus anderen Landesteilen und heuer erstmals auch aus dem Val Müstair. Die Gesamtzahl der Ausbildungsstunden belief sich auf rund 7.500.
„Wichtig ist die Umsetzung“
Die frisch gebackenen Absolventen des 3. Peer-Tutoren-Kurses führten an verschiedenen Stationen anschaulich vor, was sie gelernt haben und wie sich das Erlernte in der Praxis umsetzen lässt. „Der Erfolg steht und fällt mit der Umsetzung“, sagte die im Bürgerheim Schlanders tätige Physiotherapeutin und Kinästhetik-Trainerin Edeltraud Kiesenebner dem „Der Vinschger“. Im Bürgerheim Schlanders wird Kinästhetik seit 10 Jahren praktiziert, und zwar mit Erfolg. Auf die Bewohner wirke sich Kinästhetik ebenso positiv aus wie auf die Mitarbeiter und die Organisation. Viele Mitarbeiter zum Beispiel empfinden ihre Arbeit als weniger anstrengend, viele Bewohner fühlen sich selbstständiger. Es gehe auch darum, die Eigenverantwortung der Bewohner zu wecken. Dass dies gelingen kann, bestätigt folgende Aussage eine Heimbewohnerin: „Die Annahme, dass ein Mensch in meinem Alter nichts mehr lernen kann, ist ganz falsch. Ich habe Vieles wieder erlernt.“ Der Physiotherapeut und Kinästhetik-Trainer Paolo Marabese sprach sich für eine engere Zusammenarbeit zwischen allen Berufskategorien aus, die im Pflegebereich beschäftigt sind, „denn wir verfolgen schließlich alle dasselbe Ziel, nämlich mehr Lebensqualität für die Betreuten.“ Und Lebensqualität hänge viel mit täglichen Aktivitäten, also Bewegungen zusammen. Der Kinästhetik-Trainer Jakob Reichegger aus Latsch beleuchtete die derzeitige Situation der Kinästhetik-Ausbildung in Südtirol. sepp
Inzterview: Sonst ‚verlernt’ der Mensch, Dinge selbst zu tun“
der Vinschger: Frau Weimann, was ist unter Kinästhetik in der Pflege zu verstehen?
Waltraud Weimann: Das ist die Lehre von der Bewegungswahrnehmung. Im Kontext mit Pflege verstehen wir darunter, dass Menschen bei allen Aktivitäten so unterstützt werden, dass sie ihre Fähigkeiten einbringen, sich beteiligen können. Die Pflegende bringt dabei ganz gezielt ihre eigene Bewegung so ein, dass der andere Mensch ein Lernangebot erfährt und die Pflegende sich schonend bewegt.
Wie wirkt sich Kinästetik auf die Pflegebedürftigen aus?
Sie werden nicht mehr gehoben oder getragen, sondern schonend über ihre eigenen Knochen oder auf einer Unterstützungsfläche bewegt. Das bedeutet für alle Beteiligten: weniger Anspannung und Schmerzen, mehr Kontrolle und Verständnis über die Bewegung. Die Pflegebedürftigen können auch etwas beitragen und erhöhen somit auch ihr Selbstwertgefühl und können zufriedener sein. Sie entdecken, was alles noch möglich ist und nicht, was nicht möglich ist.
Und wie auf die Pflegenden?
Sie werden weitgehend von Heben entlastet und schonen damit ihren Körper. Auch sie merken mit und beim Pflegebedürftigen, „was alles noch geht“ und lernen auch kleine Veränderungen wahr zu nehmen und sind so motiviert, immer wieder neue Lernschritte mit dem zu Betreuenden zu finden.
Immer mehr Menschen werden immer älter. Viele sind an Pflegebetten gefesselt. Ist in solchen Fällen mit Kinästhetik etwas auszurichten?
Selbstverständlich! Stellen sie sich vor, Sie liegen 24 Stunden im Bett und wenn Sie bewegt werden, geschieht das so, dass Sie jemand an mehreren Körperstellen gleichzeitig anfasst und Sie wie einen Baumstamm dreht. Wenn man Sie aber so bewegt, dass Sie möglichst einbezogen werden, können Sie merken, welches Körperteil sich in welche Richtung bewegt und das ist ein enormer qualitativer Unterschied.
Sollten sich nicht auch Angehörige, die ihre Lieben zu Hause betreuen, in diesem Bereich fortbilden?
Auf jeden Fall. Es gibt ein ganz spezielles Kinästhetik-Programm für pflegende Angehörige. Im Moment findet in Laas ein solcher Kurs unter der Leitung des Trainers Jakob Reichegger statt. Die Angehörigen lernen u.a., auf sich zu achten und das Gelernte direkt in der häuslichen Situation anzuwenden. Ich selbst gebe solche Kurse in Deutschland und kann aus Erfahrung sagen, dass die Angehörigen enorm profitieren.
Kann Kinästhetik auch bei Demenzerkrankungen, die sich zunehmend häufen, eingesetzt werden?
Ja. Viele demenzkranke Menschen haben einen großen Bewegungsdrang, aber verlieren die Orientierung in sich. Sie wissen zwar, dass sie sich bewegen wollen, oft aber nicht, wie das gehen könnte oder vergessen das Ziel. Orientierung geben ist ein ganz wichtiger Konzeptteil von Kinästhetik.
Geht es im Grunde nicht schlicht und einfach nur darum, mit pflegebedürftigen Menschen liebevoll umzugehen?
Das ist natürlich die Basis, aber es wäre zu schlicht und einfach! Wenn ich beispielsweise nicht verstehe, weil ich es nicht gelernt habe, was es bedeutet, verwirrt zu sein und Orientierung zu suchen oder wenn ich nicht weiß, worauf ich achten muss, damit kein Druckgeschwür entstehen kann, dann hilft der liebevolle Umgang gar nichts! Dann schmerzt das Druckgeschwür und ich kann gar nicht mehr merken, dass da jemand liebevoll mit mir umgeht. „Für den anderen tun und übernehmen“ kann auch zu Abhängigkeit führen und der Mensch „verlernt“, Dinge selbst zu tun.
Josef Laner