Wenn Steine reden
Immer mehr Schutt bedeckt den Gletscher unterhalb des Sallentjoches (Martelltal). Bald wird nichts mehr von ihm zu sehen sein.

Schwindender Permafrost

Publiziert in 33 / 2008 - Erschienen am 24. September 2008
Die Schilderung klingt wie eine Beschreibung des Infernos, so stellen sich Christen wohl die Hölle vor: Blitze zucken, Rauch und Staub steigt auf, Getöse und Gepoltere ist kilometerweit zu hören. Noch Stunden später verdunkelt eine dichte Staubwolke die Sonne. Dies beobachteten Ohren- und Augenzeuge beim spektakulärsten Felssturz im Vinschgau. Über zwei Millionen Kubikmeter Material, sind sich die Geologen inzwischen sicher, haben binnen einer Stunde aus der Thurwieserspitze einen anderen Berg geformt. So geschehen am 18. September 2004. von Andrea Kuntner Szenenwechsel. Martell. Geologische Wanderung im Sommer 2008. Ziel: Das hintere Madritschtal und die auf Karten namenlose Pederscharte. 15 Interessierte erwandern mit dem Landesgeologen Volkmar Mair, einem gebürtigen Malser, das von Mountainbikern überrollte Madritschtal, jenseits des gleichnamigen Winter­skigebietes. Zuerst noch die Zufallhütte im Visier, zweigt bald das Tal rechts ab, gut geschützt durch einen bewaldeten Hang. Oben dann die Aussicht auf eine tiefer liegende mehrere Fußballfelder große Ebene. Dahinter schlängelt sich das Tal über sanfte Hügel und Mulden höher. Madritsch war jenes Tal, das in den letzten ­Jahren häufig in den Schlag­zeilen war, ­wollten doch Touristiker dies- und jenseits des Joches saftig Kapital aus ihm schlagen. Ein Skigebiet wurde angedacht. Inzwischen ist das Thema vom Tisch. Das Madritschtal ist ein Kleinod für Geologen, aber auch für Anfänger der Mineralogie. Zu entdecken gibt es für jeden etwas. Oder wussten Sie, dass bei uns Fleisch fressende Pflanzen wachsen? Volkmar Mair, der bereits als junger Mineraliensammler das Tal erkundet hatte und als Geologe zu Probebohrungen zurückkam, kennt das Tal wie seine Westentasche. Von jedem Stein weiß er die Zusammensetzung, die ­Herkunft, seinen Werdegang und sein hohes Alter. Da zeigt er auf einen Blockgletscher, der nach wie vor, Jahr für Jahr seine ­steinerne Haube Richtung Talsohle schiebt, leicht zu erkennen am Fehlen der gelben Landschaftsflechten. Dort sieht er eine Seiten- oder Stirnmoräne, und lässt bewegte Bilder Jahrhunderte oder Jahrtausende alt vor dem inneren Auge erstehen. Aber er ergeht sich nicht in wissenschaftlichen Monologen, erklärt in Farbe und Form, mit Hand und Hammer, leitet mit geschickten Fragen zum Mitdenken an. Warum bildet sich am Schutthang eine hufeisenförmige Vertiefung? Lag in der Ebene dort früher ein See? Schritt für Schritt geht es im Gelände höher, auch Nicht-Wanderer schaffen so 1.000 Höhenmeter an einem Tag, ohne zu jammern. Es wir immer wieder Halt gemacht, geschaut, gestaut, gefragt, gezeigt. Die Eifrigsten zücken ihren Notiz- und Zeichenblock, Seite um Seite füllt sich. So wird die Begegnung mit ­Augengneis, Suldenit, Tremolit, Serpentinit und Hämatit nicht zu einer flüchtigen, stummen Begegnung zwischen Stein und Wanderer, sondern er­öffnet eine neue Perspektive: Was geschah vor Millionen Jahren als über 500 Grad Celsius und Druck sie umwandelten? Neben Flora und Geologie lässt auch der aktuelle Temperaturanstieg einen Geologen nicht kalt. Kürzlich wurde das Projekt Proalp, die Kartierung und Überwachung der Permafrostgebiete in Südtirol, das Volkmar Mair leitete, abgeschlossen. Interessante Erkenntnisse kamen zu Tage (Näheres dazu siehe Interview). Im Herbst startet ein zweites, Alpen übergreifendes EU-Projekt zur Beobachtung der Permafrostzone. Von ihr spricht man übrigens, wenn Böden das ganze Jahr über nicht auftauen. Im Skigebiet Madritsch stieß man beim Bau eines neuen Sesselliftes bereits in wenigen Metern Tiefe auf Eis. Noch also ist die wertvolle Schicht knapp unter der Oberfläche. Derzeit wird die Ausdehnung der Permafrostzone in Südtirol auf etwa 12 % der Landesfläche geschätzt. Sie ist unser wichtigster Trinkwasserlieferant. Zu erkennen ist das Permafrostwasser an seiner Temperatur. Quellwasser ist wärmer, mindestens vier Grad, das Wasser aus der Tiefe hat an die zwei Grad. Schwindet der Permafrost, entzieht er großen Felsblöcken und Hängen den Halt, es geht nur noch abwärts. Straßen und Wege werden verschüttet, Siedlungen wie Tschengls sind gefährdet. Geologe, ein Beruf im Wechselspiel der Temperaturen: Hitze in der Vergangenheit, Eis in der Gegenwart und welcher Temperatur wohl in der Zukunft? Dass ein Temperaturanstieg zu beobachten ist, ist mittler­weile für jedermann fühlbar. Die Augen- und Ohrenzeugen des Thurwieser Bergsturzes werden dies ebenfalls bestätigen. Wie zahlreiche bekannte Wissenschafter ist auch Volkmar Mair überzeugt, dass es einen achtsamen Umgang mit der Natur brauche, jedoch die von den Medien geschürte Hysterie fehl am Platz sei. Achtsamkeit lernt der Wanderer, wenn er mit viel Zeit und offenen Augen in die Berge steigt. Irgendwann stellt er dann fest, dass kein Stein dem anderen gleicht, dass jeder seine Geschichte hat. Und wenn man genau hinsieht, dann meint man sie reden zu hören. Oder wie ein Hobbygeologe es formulierte: „Ich komme mir vor, als ob ich Blinder nun sehend werde“. Geschürte Hysterie Ein Interview mit dem Geologen des Landes, Volkmar Mair Unlängst wurde das Projekt Proalp zur Kartierung und Überwachung von Permafrostzonen, geleitet von Volkmar Mair, abgeschlossen. Bereits ist ein weiteres, alpenweites Projekt in Vorbereitung. Angesichts jährlich wiederkehrender Medienberichte über Felsstürze in den Bergen, rutschende Hänge und Wiesen, stellt sich die Frage nach dem Zustand der Permafrostzone im Vinschgau. Gibt es ausgewiesene Gefahrenzonen im Tal? Welche Schutzhütte sollte noch am Berg besucht werden, bevor sie ins Tal rutscht? „Der Vinschger“: Sie haben unlängst das Projekt Proalp, wo der Permafrost in Südtirol untersucht wurde, abgeschlossen. Warum wird die Permafrostzone nun systematisch untersucht? Volkmar Mair: Mit diesen Untersuchungen wird die Frage nach Gefahrenzonen, welche Flanken instabil sind und wo möglicherweise ein Felssturz in der nächsten Zeit erfolgen könnte usw. beantwortet. Mit welchen Methoden arbeiten Sie? Mair: Es werden Katasterdaten zu den Blockgletschern herangezogen, an ausgewählten Blockgletschern werden Langzeituntersuchungen durchgeführt und daraus werden Modelle erstellt. Im Falle des neuen Projektes PermaNET werden der Blockgletscher bei den Rossbänken im Ultental sowie der Lazaunblockgletscher im Schnalstal angebohrt. Voruntersuchungen erfolgten mit Georadar, das bereits wichtige Daten über die Tiefe und Struktur der Blockgletscher geliefert hatte. In einem zweiten Schritt werden Kernbohrungen durchgeführt um Aufschluss über die Zusammensetzung der beiden Blockgletscher - z. B. Verhältnis Eis-Gestein- zu erhalten. Dann interessiert uns noch die chemische Zusammensetzung des Eises und darin eingeschlossene Partikel (Staub, Pollen). Ein Ergebnisdetail aus der Permafrost-Untersuchung war die Erkenntnis, dass das Dorf Tschengls mit Verschwinden des Permafrostes vermurt werden würde. Wie reagieren die Dorfbewohner auf eine solche Nachricht? Mair: Die Tschenglser haben in den letzten Jahrzehnten aufgrund wiederholter Murabgänge gelernt mit der latenten Gefahr zu leben, sie haben sich daran gewöhnt. Zudem wurden zahlreiche Verbauungen von Seiten der Wildbachverbauung realisiert, sodass man die Situation derzeit als sicher bezeichnen kann. Gibt es noch weitere Dörfer im Vinschgau, die sich in Gefahrenzonen befinden? Mair: Bei einer drastischen Verringerung der Permafrostzone läge einzig noch Sulden teilweise in einer Gefahrenzone. Auf der Payerhütte ist der Winterraum gesperrt: Akute Einsturzgefahr. Der Hüttenwirt der Payerhütte, Hermann Wöll, ist alljährlich im Frühsommer mit Reparaturarbeiten beschäftigt. Er sagt, die Schäden entstehen nicht durch die Veränderung der Permafrostzone, sondern wegen der schlechten Bauqualität. Gibt es Schutzhütten, die im Vinschgau wirklich gefährdet sind? Mair: Mir ist keine weitere Schutzhütte im Vinschgau bekannt. Jedoch mussten verschiedene Steige verlegt werden, wie jener zur Düsseldorfer Hütte. Die Steinschlaggefahr von der Vertainspitze ist zu groß. Ein ähnliches Beispiel gibt es in Martell. Klimawandel: Ständige wird über die Medien Hysterie geschürt, dass der Mensch für den Temperaturanstieg verantwortlich sei und dass unser aller Ende naht. Experten sind anderer Meinung. Mair: Grundsätzlich ist zu sagen, dass Hysterie nie gut ist. Es ist wichtig, dass diskutiert wird. Vorab ist festzustellen, dass wir uns derzeit, was die Temperaturentwicklung betrifft, noch in einer „normalen“ Schwankungsbreite befinden. Dabei stützen wir uns auf Baumfunde wie z. B. jener Lärche von der Legerwand in Sulden, die um 840 n. Chr. vom Gletscher geknickt wurde. Somit lag damals die Baumgrenze höher als heute. Dass sich derzeit das Klima verändert, kann jeder beobachten. Die Diskussion um Verringerung von Kohlendioxid und Müll ist gut und höchst an der Zeit. Die große Unbekannte in der jeder Klimadiskussion ist jedoch die künftige Entwicklung, die auch wir Wissenschaftlicher nicht voraussehen können, auch weil uns Daten fehlen. Ich möchte nur kurz an die Panik der Einwohner von Sulden um 1830 erinnern, als der Suldenferner immer weiter vorrückte, z. T. bis zu zehn Meter im Jahr, bis quasi vor die Haustüre der Gampenhöfe. Wie mag es wohl diesen Bauern vor über 180 Jahren ergangen sein? Interview: Andrea Kuntner
Andrea Kuntner
Andrea Kuntner
Vinschger Sonderausgabe

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