Trauer miteinander verarbeiten
Publiziert in 21 / 2004 - Erschienen am 5. November 2004
[F] Der plötzliche Unfalltod eines Kindes erschüttert die Familie. Schmerz, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Sprachlosigkeit nehmen gefangen. Für Mütter, Väter, Geschwister beginnt der schwere Gang durch eine lange Zeit der Trauer. Deren Phasen sind vergleichbar mit Spiralen, an denen Betroffene immer wieder hinunter gleiten und tausendmal dasselbe durchleben. "Doch die Dunkelheit der Trauer ist nicht das letzte", tröstet der Theologe Gerhard Waibl. "Irgendwann wird es hell". Auf dem Weg dorthin kann die Selbsthilfegruppe "Trauernde Eltern" eine Stütze sein. Es gibt sie seit sieben Jahren im Vinschgau.
Von Magdalena Dietl Sapelza [/F]
Ich wusste vorher nicht, dass Traurigkeit ein so endlos tiefes, bodenloses Gefühl sein kann, dass Tränen nicht ausreichen, um ihr Ausdruck zu verleihen.” Seit dem Tod ihres Sohnes Simon vor sechs Jahren bringt Andrea manchmal ihre Gedanken zu Papier. Ihr Sohn war sechzehn Jahre alt, als er mit seinem Motorrad von einem Wagen angefahren und getötet wurde. Andrea erzählt ihm in Briefen von ihrem Schmerz, von ihren seelischen Tiefen, vom Alltagsleben, von seinem Bruder, von schönen Erlebnissen und Zuwendungen, die sie in der Zeit der Hilflosigkeit durch viele Menschen erfahren konnte. Das hat sie in der Trauer-Verarbeitung immer wieder ein Stück weiter gebracht. “Mittlerweile trage ich den Simon im Herzen”, erklärt sie. Das Grab besucht sie nicht mehr so oft wie früher. Sie empfindet es heute nur noch als Denkmal. Immer wieder neue Kraft schöpft sie aus den Treffen mit anderen Betroffenen in der Selbsthilfegruppe. Dort begegnet sie Menschen mit demselben Schicksal. Es sind vor allem Mütter. Fast alle Gruppenmitglieder haben ihr Kind im Straßenverkehr verloren. Sie kann sich aussprechen und wird verstanden.
[F] Halt in der Gruppe [/F]
Als sie kurz nach dem Unfall die Beileidskarte der “Trauernden Eltern” in den Händen hielt, überlegte sie lange, ob sie diese Hilfe auch annehmen sollte. Auf ihrem ersten Weg zur Gruppe stellte sie sich immer wieder die Frage: “Was soll ich dort, die können mir ja doch nicht helfen. Niemand kann mir meinen Sohn zurückgeben.” Innerlich wie versteinert war sie nahe dran, auf halber Strecke umzukehren. Die erste Begegnungen in der Gruppe brachten dann auch keine unmittelbare Befreiung aus ihrer Verzweiflung. Sie versuchte sich zwar mitzuteilen, doch das tiefe Loch, in das sie gefallen war, hielt sie gefangen. Die Hände, die sie herauszuziehen versuchten, hatten für sie noch zu wenig Kraft. Wieder daheim, war sie entschlossen, es mit dem einen Treffen bewenden zu lassen. Doch irgendetwas bewegte sich in ihr. Da waren Menschen, die ihr Leid nachvollziehen konnten. Die Gruppe zog sie an. Sie ging erneut hin. Heute möchte sie die Treffen nicht mehr missen. Die Selbsthilfegruppe “Trauernde Eltern” im Vinschgau versammelte sich erstmals im Jänner 1997 in Naturns auf Anregung der dortigen Sozialdienste.
[F] Abschied nehmen [/F]
Annemarie war von Anfang an dabei. Der Unfalltod ihres Sohnes Patrick 1996 lag ein Jahr zurück. Er war mit dem Motorrad von der Straße abgekommen und an einen Baum geprallt. Die Nachricht vom Unfall erreichte sie in den frühen Morgenstunden aus dem Krankenhaus. Verunsichert begab sie sich dorthin. Schon bald erfuhr sie, dass sie zu spät gekommen war. Ihr Sohn war bereits tot. Jemand brachte ihr Beruhigungstropfen. Sonst waren sie und ihr Mann auf sich allein gestellt, hilflos und verzweifelt. Es gab damals noch keine Notfallseelsorge, keine psychologische Betreuung. Sie hatte nicht die Kraft, zu ihrem toten Sohn hinzugehen und Abschied zu nehmen. “Das fehlt mir bis heute. Ich hätte nur jemand gebraucht, der mich an die Hand genommen hatte” sagt sie. “Das Abschiednehmen ist wichtig, um loslassen zu können. Beruhigungstropfen braucht man eigentlich nicht, man ist stark genug. Der Schock schützt." Ärzte und Krankenhauspersonal sind angesichts der tragischen Ereignisse oft überfordert, wollen helfen, beruhigen und reichen Medikamente. Annemarie wurde nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zur treibenden Kraft beim Aufbau der Selbsthilfegruppe. Sie bringt ihre Erfahrungen ein, möchte anderen Betroffenen nahe sein, ihnen weiterhelfen und Nichtbetroffene an die Bedürfnisse der Trauernden heranführen. Einiges ist inzwischen geschehen. Die Notfallseelsorge unter der Obhut des Weißen Kreuzes ist bei Unfällen zur Stelle. Angehörige werden aufgefangen und begleitet.
[F] Tage im Nebel [/F]
Ein plötzlicher Unfalltod eines Kindes oder Jugendlichen wirft das Leben aus der Bahn. Nichts ist mehr, wie es war. Wertvorstellungen ändern sich. Konfrontiert mit der Vergänglichkeit des Lebens verliert Materielles seine Bedeutung. Anfangs erleben Betroffene die Zeit wie im Nebel. Sie handeln automatisch. Es geht um die Daten für die Ordnungshüter, um die Organisation der Beerdigung, um Bestatter, Pfarrer, Chor, Kranzträger. Verwandte, Bekannte, Freunde umarmen, drücken das Beileid aus, weinen. Geschwister stehen in ihrer Trauer oft abseits, vor allem, wenn sie noch klein sind. "Kaum jemand schenkt den trauernden Geschwistern Aufmerksamkeit, niemand fängt sie auf, oder fragt sie, wie es ihnen geht", betont Annemarie. “Alles dreht sich um die Eltern und um den Verstorbenen.” Auf diesem Gebiet aufzuklären, um etwas zu verändern, ist ein großes Anliegen der Selbsthilfegruppe. Der Nebel der ersten Tage lichtet sich, der Schmerz bleibt. “Man fängt erst an zu denken, wenn man nach der Beerdigung wieder allein ist”, erinnert sich Andrea. “Für alle anderen geht das Leben weiter, für einem selber bleibt es stehen.” Man beginnt zu begreifen, was passiert ist. Im Kopf dreht sich ein nagendes Rad. Bedrückende Gedanken kreisen rund um den Unfallhergang. Erinnerungen werden wach gerufen, an gemeinsame Stunden, an Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten.
[F] Schweigen und Depression [/F]
Schuldgefühle machen sich breit und paaren sich mit Wut, Hass. Es beginnt das Hadern mit Gott, der so viel Leid zulässt. Es ist schwer, mit der brutalen Endgültigkeit des Todes fertig zu werden. Das Leben wird zur Qual. Andrea erklärt: “Der Kopf denkt allein. Ich habe mir jeden Tag gedacht, wenn ich nur sterben könnte.” Alles ist grau. Die Trauer ist so erdrückend, dass rundherum alles vernachlässigt wird. “Die Zubereitung des Mittagessens war für mich schon eine große Leistung”, erzählt Andrea. Alle Familienmitglieder leiden, die Frau, der Mann, die Kinder. Die Trauer lässt sich nicht in Worte fassen. Beklemmendes Schweigen und eine depressive Stimmung breitet sich aus. Das Miteinander wird schwer. Ausweg ist die Flucht in die Arbeit, in eine andere Umgebung. Jeder trauert auf seine Weise. Mütter trauern anders als Väter und Geschwister. Das zertrennte Lebensband zwischen Mutter und Kind blutet am stärksten. Loszulassen und den Verlust annehmen zu lernen ist ein langwieriger Prozess. Es ist aber Voraussetzung dafür, dass man das Leben irgendwann wieder bejahen kann. Viele gehen lange steinige Wege. Wer an sich arbeitet, kann es schaffen. Wer sich im Schmerz vergräbt, der verhindert, dass dieser langsam nachlassen kann.
[F] Die Dunkelheit überwinden [/F]
“Es gibt nur den Weg durch die Trauer durch, niemals drum herum, damit wir das Leben wieder finden”, bekräftigt Waibl. Die Gespräche mit den Menschen in der Selbsthilfegruppe können eine Hilfe sein. Vor Außenstehenden fällt es schwer, immer wieder vom Verlust und vom Schmerz zu sprechen. Die Angst vor gut gemeinten und dennoch verletzenden Bemerkungen lastet auf den zwischenmenschlichen Beziehungen. In der Gruppe können die Trauernden so oft von ihren Gefühlszuständen sprechen, wie sie wollen und dürfen weinen. Sie fühlen sich verstanden und angenommen. Jene, die ihre Trauer bereits durchlebt haben, sprechen von ihren Erfahrungen und stehen jenen in der Anfangsphase bei. Durch das gegenseitige Festhalten kommen sie gemeinsam leichter durch den finsteren Tunnel. “Trauerarbeit ist erst beendet, wenn der Verstorbene in uns hinein gewachsen ist, wenn wir erkennen, was ihm wichtig war und wir sein Vermächtnis in unser Leben einbauen, wenn wir ihn mit Liebe in unserem Herzen tragen und die Erinnerung nicht mehr weh tut”, erläutert Waibl und fügt hinzu “Kein Leben geht verloren und ist es auch noch so jung.”
[F] Selbsthilfegruppe "Trauernde Eltern" [/F]
Die Vinschger Gruppe traf sich erstmals 1997 in Naturns.
Seit 2001 begegnen sich Betroffene auch in Mals.
Treffen:
Naturns: Jeden zweiten Samstag im Monat von 16.00 Uhr bis 18.00 Uhr im Sozialsprengel
Mals: Jeden vierten Samstag im Monat von 17.00 bis 18.00 Uhr im Sozialsprengel
Telefon:
0473 626629 (Traudl),
0473 667081 (Annemarie),
0473 743033 (Andrea).
Nach Vereinbahrung können Treffen auch während der Woche stattfinden.
Magdalena Dietl Sapelza