„Vorurteile hemmen Betreuung“
Publiziert in 37 / 2016 - Erschienen am 19. Oktober 2016
der Vinschger: Welchen Stellenwert nehmen die Beratung, Begleitung und Betreuung von Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, innerhalb der Sozialdienste Vinschgau ein, die Sie als Direktorin leiten?
Karin Tschurtschenthaler: Die Betreuung und Begleitung von psychisch kranken Menschen nimmt innerhalb der Sozialdienste einen hohen und wichtigen Stellenwert ein. Wir bieten differenzierte Angebote im Bereich Beschäftigung (Treffpunkt in Schlanders), Arbeitsrehabilitation (ARD Latsch) und Wohnen (WG Felius), im Bereich Arbeit (Arbeitsrehabilitationsdienst Latsch: biologischer Gartenbau und Tischlerei), Arbeitsplatzbegleitung für Menschen, die Arbeit gefunden haben, sowie im Bereich Wohnen: Wohngemeinschaft mit einer intensiven Betreuung, teilautonome Wohnungen, ambulante Wohnbegleitung. Außerdem werden Menschen mit einer psychischen Erkrankung von Mitarbeitern/innen der Sprengel Ober- und Mittelvinschgau ambulant begleitet und betreut.
Man hört und liest fast täglich, dass die Zahl von Menschen, die an
Depressionen, Angststörungen, Burnout und anderen psychischen Erkrankungen leider, weit höher ist als man allgemein annimmt. Ist das auch im Vinschgau so?
In unserer Leistungsgesellschaft ist der Mythos, dass jeder alles erreichen kann, wenn er nur will und sich zusammen nimmt, eine selbstverständliche Annahme. Diese kann durchaus eine positive Funktion für die Leistungsmotivation haben. Leider aber auch mit der erheblichen Nebenwirkung der Ausgrenzung derer, die wirklich nicht können. Leider auch mit der Nebenwirkung, dass die Betroffenen ihre krankheitsbedingten Einschränkungen als Charakterschwäche, Willensschwäche, Faulheit usw. erleben. Neuere, methodisch besonders sorgfältig durchgeführte Untersuchungen in Europa lassen erkennen, dass fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung im Verlauf eines Jahres von einer psychischen Erkrankung betroffen ist, jüngere Altersgruppen ebenso wie ältere. Genaue Zahlen für den Vinschgau liegen noch nicht vor.
Trotz Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung haben viele Betroffene
nach wie vor Angst, Hilfe zu suchen, weil sie sich dafür fürchten,
stigmatisiert zu werden.
Vorurteile gegen Kranke und die Stigmatisierung von Kranken haben eine lange Tradition in vielen Kulturen. Dies gilt auch für unsere europäische Kultur. Vorurteile gegen psychisch Kranke sind ein wesentliches Hemmnis in der Betreuung und Behandlung. Sie erschweren natürlich die Suche nach Hilfe und vor allem die oft zur Verhütung einer Chronifizierung notwendige Früherkennung. Nicht nur die Kranken selbst leiden massiv unter der Stigmatisierung, selbst bei Verwandten von psychisch Kranken hinterlassen die Vorurteile oft gravierende Spuren. Irrationale Ängste und Vorurteile verhindern besonders bei Jugendlichen, dass diese selbst oder ihre Eltern rechtzeitig bei psychischen Störungen Hilfe suchen.
Ist das Angebot an Betreuung und Strukturen im Bezirk Vinschgau derzeit ausreichend oder bräuchte es zusätzliche Betreuungsmöglichkeiten, Infrastrukturen oder auch Geldmittel?
Wir haben im Bezirk Vinschgau ein breites und gut ausgebautes Angebot in der Betreuung und Begleitung von psychisch kranken Menschen, doch gibt es noch einiges zu tun. Es fehlt immer noch an Arbeits-, Beschäftigungs- und Wohnmöglichkeiten für psychisch kranke Menschen. Die psychiatrische Versorgung sollte ausgebaut werden, der Aufbau eines Treffpunktes für psychisch kranke Menschen im Obervinschgau ist dringend notwendig, die Betreuung von Menschen mit Autismus fehlt noch gänzlich.
Interview: Sepp

Josef Laner