Kein Grund, sich zu schämen
Siglinde Jaitner und Martin Achmüller.

Weg von „Schande“, „Schuld“ und „Versagen“

Publiziert in 37 / 2016 - Erschienen am 19. Oktober 2016
der Vinschger: Herr Martin Achmüller. Sie waren von Beruf Kinderarzt und haben lange Zeit ehrenamtlich im Vorstand des Verbandes „Ariadne – für die psychische Gesundheit aller“ (ehemals Verband Angehöriger und Freunde psychisch kranker Menschen) mitgearbeitet. Stimmt es, dass auch bei uns in Südtirol immer mehr Menschen psychisch ungesund sind? Und wenn ja, warum? Martin Achmüller: Wenn es schon „psychisch ungesund“ heißt, dann ist die erste Antwort eine „ungesunde Umgebung“: Leistungsdruck bei der Arbeit und sogar in der Freizeit oder im Urlaub. Daraus entsteht eine Überforderung. Früher hat man eher akzeptiert und resigniert – oft mit Alkohol. Früher haben sich „auffällige“ Menschen mehr zurückgezogen. Jetzt sind sie etwas mehr auch in der „Öffentlichkeit“. Psychische Erkrankungen hat es immer schon gegeben. Heute finden sich weniger Menschen damit ab, nur zu funktionieren - sie machen in ihrer Art weiter, fallen mehr auf. Ein kleiner Teil sucht Hilfe, die laufen dann als „psychisch erkrankt“. Und es wird ein bisschen leichter, Hilfe zu suchen. Viele Betroffene haben nach wie vor Angst, überhaupt Hilfe zu suchen, geschweige denn sich helfen zu lassen. Woher kommt diese Scham? Martin Achmüller: Sie kommt daher, dass eine psychische Erkrankung immer noch als „Schande“ empfunden wird, als „Versagen“, als „Schuld“, als „minderwertig“, dann noch als „unberechenbar, unzurechnungsfähig, gewalttätig, allgemeingefährlich...“. Wenn jemand zum Beispiel an einer Depression leidet, sind auch die Angehörigen betroffen und gefordert. Wie sollen sich die Angehörigen verhalten? Martin Achmüller: Versuchen zu verstehen, ernst nehmen, den Betroffenen bitten, dass er Hilfe in Anspruch nimmt, selber Hilfe suchen, weil man meistens selber überfordert ist. Was kann bzw. soll die Gesellschaft tun, um betroffenen Menschen zu helfen? Martin Achmüller: Endlich eine „psychische“ Erkrankung sehen wie viele andere Erkrankungen, also etwas, das man behandeln kann. Dann wäre der Schritt wichtig, das scheinbare Verständnis für psychische Erkrankungen umzusetzen in ein Verständnis und eine Akzeptanz des „psychisch Erkrankten“ - daran fehlt es noch gewaltig! Wie schätzen Sie den Einsatz von Psychopharmaka ein? Martin Achmüller: Bei sehr vielen Menschen oft eine absolute Notwendigkeit, unterstützt z.B. von Psychotherapie, von der Mithilfe der Familie/Umgebung und manchen anderen Faktoren, die zusätzlich helfen können. Als Betroffener haben Sie einen guten Einblick in die Betreuung psychisch kranker Menschen in Südtirol. Sind die diesbezüglichen Dienste und Angebote ausreichend, oder anders gefragt: wo gibt es noch Lücken? Martin Achmüller: Es gibt noch immer sehr große Lücken. Die Planstellen sind - laut offiziellen Daten – bis zu einem Drittel nicht besetzt. Es bräuchte noch viel mehr Personal für eine ausreichende Betreuung, der Großteil der psychisch Erkrankten braucht eine konsequente ambulante Betreuung. Und eine stationäre Betreuung ist zum Beispiel bei psychisch Erkrankten im Krankenhaus eines anderen Bezirkes fast nicht möglich, wohl aber bei jeder anderen Erkrankung. Experten für die Betreuung psychisch Erkrankter sind in erster Linie die Betroffenen selbst, dann die Angehörigen und das Fachpersonal, nicht die Bürokraten. Psychisch Erkrankte werden auch von den zuständigen Stellen sehr leicht als Menschen vierter oder fünfter Kategorie behandelt. Bräuchte es auch mehr Wohnstruk­turen für Betroffene? Martin Achmüller: Es gibt psychisch Erkrankte, die nicht ganz selbständig sind und daher - oder aus weiteren Gründen - nicht in der Familie versorgt werden können. Für diese bräuchte es Unterkünfte mit einer mehr oder weniger starken Betreuung von einigen Stunden täglich bis zu ein- oder zwei Mal pro Woche. Um solche Einrichtungen ­kämpfen wir seit Jahren. Mit vielen Verzögerungen und Vertröstungen wurde das Zentrum in der Fagenstraße in Bozen errichtet, nachdem der Grieserhof aufgelassen werden musste. Viele weitere Unterkunftsmöglichkeiten fehlen. Und viele Menschen wehren sich dagegen, dass psychisch Erkrankte in ihrer Nähe bzw. ihrem Dorf untergebracht werden. Und wie steht es mit der ­Arbeitseingliederung? Martin Achmüller: In diesem Bereich gilt Ähnliches: psychisch Erkrankte werden im Vergleich zu Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen viel seltener in die Arbeit „eingegliedert“, wenn überhaupt. Man hat viel mehr Angst, dass sie „nicht funktionieren“ könnten. Bei Praktikumsstellen oder Ähnlichem erhalten sie ein Taschengeld von etwa 3 Euro pro Stunde, haben aber keine Krankenversicherung und keine Rentenabsicherung. Einiges tut sich, einiges hat sich getan. Aber ich kann nicht bei dem stehen bleiben, was getan wurde, wenn so viel an Bedarf noch vorhanden ist. Und letztlich geht es immer um Lebensqualität. Frau Siglinde Jaitner, auch Sie engagieren sich schon seit Jahren ehrenamtlich für die Beratung und Betreuung psychisch kranker Menschen und waren auch Verbands­präsidentin. Welche Hilfen bietet der Verband Ariadne betroffenen Personen an? Siglinde Jaitner: Bereits seit 1989 setzt sich der Verband für Familien mit psychiatrischem Lebenshintergrund ein. Schon in seiner ursprünglichen Ausrichtung gab es für Betroffene begleitete Ferienwochen mit dem Ziel der Entlastung für die Familien. Die Ferien sind auch heute noch ein gut genutztes Angebot. Tria­logische Treffen mit Betroffenen, deren Familienangehörigen und im Bereich Professionelle gibt es in Meran zum Erfahrungsaustausch auf Augenhöhe. Die Stadt Bozen, wo Ariadne seinen Sitz hat, ist vom Vinschgau ziemlich weit entfernt. Gibt es auch Sprechstunden in der Peripherie oder anderweitige Möglichkeiten der Kontaktaufnahme? Siglinde Jaitner: Für die Mitglieder aus der Peripherie, für die Bozen zu weit weg ist, gibt es die Möglichkeit, über die Website des Verbandes Ariadne (www.selbsthilfe.it) im Forum einen interaktiven Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Interessierten mitzunutzen und mitzugestalten. Was bietet Ariadne an, um auch den Angehörigen und Bekannten von Betroffenen zu helfen? Siglinde Jaitner: Neben der Beratung, Begleitung und Information gibt es für Angehörige außer den trialogischen Treffen den Austausch in Selbsthilfegruppen. Weiters sind für den Verband Öffentlichkeitsarbeit, Sensibilisierung und Interessensvertretung in verschiedensten Gremien wichtig. In Tagungen werden aktuelle Themenbereiche aufgegriffen, so wie demnächst am 18. November in Bozen zum Thema „Psychisch krank und berufstätig?!“ Wie soll die Gesellschaft betroffenen Menschen begegnen? Siglinde Jaitner: Die Gesellschaft ist letztlich die Summe Einzelner. Meist sehen wir vor allem die Defizite, das Krankheitsbild und die Schwierigkeiten. Ich wünsche den Betroffenen und auch ihren Angehörigen, dass sie Menschen begegnen, die gewillt sind, jedem achtsam zu begegnen, ihn als Ganzes zu sehen und seine Stärken und Schwächen, seine Fähigkeiten und Defizite in ihrer Vielschichtigkeit anzuerkennen. Interviews: sepp
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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