Die große Leere - Selbsthilfe bei Depressionen und Angst

Wenn die Lebensgeister streiken

Publiziert in 6 / 2005 - Erschienen am 1. April 2005
[F] Depressionen sind auf dem Vormarsch. Es wird befürchtet, dass die Depression innerhalb der nächsten zehn Jahre zur Volkskrankheit Nummer eins in der EU wird. Heute, am 1. April startet die "European Alliance aigainst Depression" ein Projekt mit dem Ziel: Aufklärung, bessere Beratung und Behandlung, bessere Zusammenarbeit von Hausärzten, Psychologen und Apothekern, Ausbildung von Lehrern und Altenbetreuern. Der "Verein Lichtung" und das "Zentrum für Psychische Gesundheit" sind im Projekt eingebunden. Im Vinschgau wird die neue Selbsthilfegruppe "Club D & A" ins Leben gerufen. von Magdalena Dietl Sapelza [/F] Rosa (48) (Name verändert) wacht regelmäßig um fünf Uhr in der Früh schweißgebadet auf. Innerlich aufgewühlt fühlt sie sich wie in einem Spinnennetz gefangen. Traurigkeit, Verzweiflung, Angst, Schuldgefühle nehmen sie in Besitz. Die Gedanken kreisen, um erlittene Kränkungen, um tiefe Verletzungen, um die Ehe, die sie als lieblos empfindet, um die Kinder, die aus dem Haus sind. Freundschaften hat sie längst abgebrochen. Sie findet alles sinnlos, fühlt sich nutzlos, unglücklich und ausgegrenzt. Zuviel hat sie jahrelang in sich hineingeschluckt. Dem Frieden zuliebe. Sie will perfekt sein, ist oft überfordert, mit der Arbeit, mit Familie und Haushalt. Sich selbst hat sie nichts gegönnt, hat nie Nein gesagt. Und nun ist sie da: die große Leere. Rosa weint, ist müde. Alle Lebensgeister streiken. Sie empfindet sich als Häufchen Elend und will nur noch schlafen, alles vergessen. Am liebsten möchte sie sterben. Wenn die Kinder nicht wären. Sie hat keine Kraft mehr. Ihr Mann holt sie gegen Mittag aus dem Bett. Tag für Tag, bereits seit einem halben Jahr. Depression Organisch ist sie gesund, das attestiert ihr der Hausarzt. Sie fühlt sich nicht ernst genommen, kapselt sich immer mehr ab, schämt sich. Das Spinnennetz wird zum schwarzen Tunnel, der sie nicht mehr frei gibt. Ein langer Leidensweg beginnt. Sie verfängt sich in innere Einsamkeit. Alles entgleitet ihr. Es kommt zum totalen Zusammenbruch und zur Einlieferung ins Krankenhaus. Rosa wird aufgepäppelt, bekommt Medikamente und psychologische Betreuung. Nach langem Zögern besucht sie die "Selbsthilfegruppe für Angststörungen und Depression". Dort trifft sie auf Betroffene, die mit ihr dasselbe Schicksal teilen. Erstmals fühlt sie sich verstanden. Sie beginnt an sich selbst zu arbeiten. Sie schaut sich ihr bisheriges Leben an, beginnt fest gefahrene Muster zu entflechten, verhedderte Verknüpfungen zu lösen und Lasten abzubauen. Heute hat sie sich wieder im Griff und empfindet Freude am Leben. Angstzustände Inge (41) wird kurz nach der Matura mit ihrer ersten Panikattacke konfrontiert. Sie ist seit zwei Monaten Lehrerin und sitzt im Bus zu ihrem Arbeitsplatz. Wie aus heiterem Himmel überfallen sie Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern am ganzen Körper und ein Gefühl der Ohnmacht. Aufgelöst und geschockt steigt sie aus, geht in die Klasse. Ihre Gedanken kreisen um die Frage nach dem Warum. Angst keimt auf, dass sich diese Attacken wiederholen könnten. Und sie kommen wieder. Die Angst vor der Angst nimmt sie in Besitz. Arztbesuche reihen sich aneinander. Die medizinischen Untersuchungen ergeben keine auffallenden Befunde. Sie fühlt sich allein gelassen. Die Attacken überraschen sie immer öfter, in der Kirche, im Geschäft, in der Bank, beim Zahnarzt. Ein Martyrium beginnt. Sie steht dem Ganzen hilflos gegenüber und zieht sich in ihre vier Wände zurück. Die Angst ist allgegenwärtig. Sie fährt weder mit dem Auto noch mit dem Bus. Isolation Viele Menschen in ihrem Umfeld reagieren mit Unverständnis. "Die soll sich zusammenreißen, es geht schon, wenn sie will", dieser Satz tut weh. Die Familie hält zu ihr. Schließlich stellt ein Arzt die Diagnose "starke Depression". Der Begriff Panikattacken steht nie im Raum. Antidepressiva werden ihr verschrieben. Sie ist nicht mehr sie selbst. Inge beginnt Bücher zu studieren. In einer Fernsehsendung erfährt sie von Panikattacken. Sie erkennt ihr Leiden wieder und macht eine Ärztin darauf aufmerksam. Sie erhält die richtigen Medikamente. Es sind für sie die “Krücken” auf dem Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben. Der Telefonkontakt mit einer anderen betroffenen Frau baut sie auf. Keine traut sich zur anderen zu fahren. Die Angst lähmt beide. Nach zwei Jahren überwinden sie sich und fahren erstmals gemeinsam nach Meran. Und es ist für sie, als hätten sie den höchsten Berg der Welt bestiegen. Auch sie treffen in der Selbsthilfegruppe auf Menschen, die ihnen Stütze geben. Selbsthilfegruppe Die erste "Selbsthilfegruppe für Depression und Angststörungen" im Vinschgau wurde auf Betreiben von Hermine Thaler aus Eyrs im November 1997 gegründet. Sie hatte als Betroffene eine Gruppe in Meran besucht und sah Handlungsbedarf im Vinschgau. Die Meraner Gruppe war von "Rainbow" Bruneck gegründet worden. (Ignaz Pörnbacher war jahrelang treibende Kraft für die Gründung von verschiedensten Selbsthilfegruppen in Südtirol). Bereits nach vier Monaten übergab Thaler die Leitung an Inge Forcher aus Galsaun, ebenfalls eine Betroffene. Die Schlanderser Gruppe war für alle offen. Jeder/jede konnte kommen, ohne Anmeldung und Vorgespräch. Bis zu fünfzehn Betroffene trafen sich wöchentlich und tauschten sich aus. Diese Gruppe existierte bis November 2004. "Club D & A" Die "Selbsthilfegruppe für Depressionen und Angststörungen" wird nun unter dem neuen Namen "Club D & A" vom "Verein Lichtung" mit Sitz in Bruneck beziehungsweise Bozen und dem Zentrum für psychische Gesundheit neu zum Leben erweckt. Im "Club D & A" treffen sich Betroffene aller Altergruppen. Sie können sich Zuwendung und Rat holen, ihre Sorgen abladen und Kraft tanken. Sie werden in ihrer schweren Lebenssituation ernst genommen. Die Menschen bemühen sich gemeinsam darum, ihren Körper in seiner Ganzheit zu erfahren und auf ihre Bedürfnisse zu hören. Betroffene ermuntern sich, ihren Gesundungsweg eigenständig voranzutreiben, Selbstheilungskräfte zu entdecken. So finden so leichter Wege aus der Isolation. Durch regelmäßigen Erfahrungsaustausch werden sie zu Experten in eigener Sache. Sie können sich über mögliche Behandlungsmöglichkeiten medizinische und psychologische Hilfen informieren. In der Gruppe stellen sie sich der schweren Krise als eine schmerzhafte Lernaufgabe und ziehen Lehren aus der Leere. Das öffnet ihnen den Weg zu sich selbst und zur eigenen Seele. Ansprechpartnerin ist weiterhin Inge Forcher. Aufklärung Psychisch Erkrankungen werden tabuisiert. Betroffene leiden meist unter sozialer Ausgrenzung. Mit einer Aufklärungskampagne, unter anderm mit einer Plakataktion, will die "European Alliance aigainst Depression" in 16 europäischen Modell-Regionen die Öffentlichkeit nun gezielt und wirkungsvoll sensibilisieren. (Für die Plakataktion im Vinschgau wurde Schlanders gewählt) Es werden Hinweise gegeben, wo Betroffene kompetente Ansprechpartner und Hilfen finden. Der Öffentlichkeit soll bewusst gemacht werden, dass Depressionen und Angststörungen jede/jeden treffen können und dass sie behandelbar sind.Wichtig ist die Früherkennung. Südtirol wurde für das Europa weite Projekt ausgewählt, weil das Land mit einer außergewöhnlich hohen Selbstmordrate konfrontiert ist und deshalb dringender Handlungsbedarf besteht. [F] Lichtung Verein zur Förderung der psychischen Gesundheit: [/F] Es ist eine landesweite Interessensvertretung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, ergänzend zu den Institutionen im Sanitäts- und Sozialbereich. Psychisch Kranke geraten leicht in Isolation. Es soll eine Gemeinschaft ein Netz des Verständnisses aufgebaut werden. Hilfestellungen der LICHTUNG Erstberatung: Information zu Hilfsberatungen, zu verschiedenen Therapieformen, Selbsthilfe, Kontakte zu Betroffenen, Sozial- und Rechtsberatung Aufklärung, Vorbeugung: Öffentlichkeitsarbeit (Abbauen von Vorurteilen, Diskriminierungen und Tabus, Info-Workshops, Vorträge zu Themen wie zum Beispiel Umgang mit Konflikten, Sucht- und Suizidprävention in Schulen, Jugendzentren und Betrieben. Freizeit- Weiterbildung- und Kulturangebote Kontakte: Lichtung Bruneck: 0474 530266 Lichtung Bozen: 0471 051414 Selbsthilfegruppe "Club D & A" Vinschgau: Anmeldung bei Inge Forcher, Telefon: 0473 624558 Die Gruppe trifft sich jeden 2. und 4. Freitag im Monat von 19.00 bis 21.00 Uhr in der Psycho-sozialen Beratungsstelle der Caritas in Schlanders (Eine Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Leidender trifft sich seit Jahren in Mals: Auskunft unter 0473 836000)
Magdalena Dietl Sapelza
Vinschger Sonderausgabe

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