Spät, aber doch
In der Peripherie sieht es mit der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, die an psychischen Erkrankungen leiden, nicht gut aus. Foto: shutterstock

„Wir Vinschger können froh sein, ...

Publiziert in 22 / 2013 - Erschienen am 12. Juni 2013
…dass es jetzt eine Kinder- und Jugendpsychiatrie in der ‚Nähe’ gibt.“ Das Thema psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist noch immer stark tabuisiert. Damit hat sich Sonja Müller aus Partschins in ihrer Facharbeit für die Matura auseinandergesetzt. „Der Vinschger“: Seit zwei Jahren befassen Sie sich mit dem Thema Kinder- und Jugendpsychiatrie in Südtirol und haben dieses Thema auch für Ihre Facharbeit für den Matura-Abschluss an der Lehranstalt für Soziales in Mals gewählt. Welches sind die markantesten Erkenntnisse, die Sie in Südtirol bzw. speziell im Vinschgau zu diesem Thema gewonnen haben? Sonja Müller: Kinder und Jugendliche, die körperlich krank sind, werden in altersent­sprechenden Abteilungen von kompetentem Personal behandelt, nur für psychische Probleme galt dies bis Mai 2013 nicht, bzw. nur teilweise. Es herrschten schockierende Missstände in Südtirol. Die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft, Kinder und Jugendliche, mussten in Krisenzeiten in die Erwachsenenpsychiatrie oder sogar ins Ausland, zum Beispiel nach Innsbruck, München, Augsburg oder gar in die Schweiz. Also ein langer Weg bis zur Eröffnung der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Meran. 13 Jahre hat die Umsetzung dieses Vorhabens gedauert. Drei Beschlüsse seitens der Landesregierung mussten verabschiedet werden und das in einem Land, das mit seinem Gesundheits­wesen prahlt. Das weist auf eine politische Haltung hin, deren Augenmerk nicht auf einer gesunden Entwicklung der Kinder und Jugendlichen lag. Wer trägt die Verantwortung? Vor allem die Politik und Personen, die an Schreibtischen ­sitzen - mit welcher Verantwortung auch immer. Nur wenige nehmen die Betroffenen und jene, die mit den Betroffenen leben, wirklich ernst. Die Vernetzung und der Informationsaustausch zwischen den Diensten ist kaum bis gar nicht vorhanden, das ist die bittere Realität in Südtirol. Im Vergleich zu anderen Ländern wird in Südtirol eine psychiatrische Betreuung meistens sehr spät in Anspruch genommen. Wenn etwas mit dem Kind nicht stimmt, dann rufen die Eltern „um zehn nach zwölf an“ wie es Roger Pycha, Primar der Psychiatrie in Bruneck, einmal schön sagte. Erst wenn alle eigenen Ressourcen erschöpft sind, alle Verwandten und Bekannten befragt wurden – bisweilen sogar das Horoskop – wird endlich professionelle Hilfe gesucht. Nach Auffassung der Kinder- und Jugendanwaltschaft hat das Land durch das Fehlen einer Kinder- und Jugendpsychiatrie gegen die Verfassung und gegen die UN-Konvention der Kinderrechte verstoßen. Wie reagieren Minderjährige in einer Erwachsenenpsychiatrie und umgekehrt? Die Erwachsenen reagieren meist positiv auf die Kinder und Jugendlichen innerhalb der Abteilung. Sie sind entgegenkommend, verständnisvoll, mitfühlend und fürsorglich. Minderjährige können sich recht gut von den Erwachsenen abgrenzen und doch wieder gezielt und selektiv den Kontakt mit ihnen aufnehmen. Sie verhalten sich in Anwesenheit von Erwachsenen meist höflicher und zuvorkommend. Aber trotzdem kann das nicht die Lösung sein. Kinder und Jugendliche brauchen eine eigene Betreuung. Die Erwachsenenpsychiatrie in Bruneck hat einen Nachahmungseffekt bei Erwachsenen festgestellt: Wie bekannt ist, stellen Suizidversuche von Jugendlichen häufig Hilfeschreie dar und sind nicht immer ein ernster Versuch sich das Leben zu nehmen. Beispiel: Es ist kurz vor Weihnachten 2011. Drei Jugendliche unternehmen in der Psychiatrie aus Protest einen Selbstmordversuch, weil sie über die Feiertage nicht nach Hause durften. Ein Erwachsener imi­tierte ihr Verhalten und unternahm einen sehr gefährlichen und ernstgemeinten Suizidversuch. Warum werden Kinder und Jugendliche psychisch krank? Grundsätzlich müssen Kinder und Jugendliche ab der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs Entwicklungskrisen bewältigen und/oder geraten in diverse schwierige Situationen. Da können relativ rasch psychische Erkrankungen entstehen. Vor allem, weil sie in einer Welt leben, die nach Perfektion strebt und sehr viel Druck auf ihnen lastet. Aber wie bei jeder Erkrankung spielt auch hier das Erbgut eine entscheidende Rolle. Auch Kinder und Jugendliche können prädisponiert für bestimmte psychische Erkrankungen sein. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit an einer bestimmten Störung zu erkranken. Oft liegen die Ursachen auch in schwierigen Umweltfaktoren: schwierige erste Lebensjahre, konfliktreiche Familienverhältnisse, Missbrauch, Druck in der Schule oder in der Ausbildung. Gibt es Statistiken über die Anzahl betroffener Kinder und Jugendlicher in Südtirol? Nein, es gibt keine Statistiken speziell für Südtirol. In Innsbruck hat der Kinderpsychiater Martin Fuchs auf einem Kongress im ­April 2013 eine Statistik für Nordtirol von 2012 präsentiert mit zwei schockierenden Erkenntnissen: Zu jedem Zeitpunkt sind dort 15% aller Minderjährigen von psychischen Störungen betroffen. Die häufigsten Diagnosen sind Angststörungen, gefolgt von Störungen des Sozialverhaltens mit Aggressivität, von affektiven Störungen, hyperkinetischem Syndrom und Suchtproblemen. Ca. 1/4 aller Patienten der Nordtiroler Kinderpsychiatrie werden später auch an Erwachsenenpsychiatrien behandelt. Die zweite Erkenntnis kann man auch auf Südtirol übertragen. Roger Pycha hat 2012 eine offizielle Statistik für die Jahre 2009-2011 für Südtirol erstellt. Diese behandelt die Aufnahmen von Heranwachsenden mit psychischen Problemen in Südtirol. Im genannten Zeitraum gab es 561 Krankenhausaufnahmen von Heranwachsenden aus psychiatrischen Gründen. Insgesamt sind dies 5.526 Aufenthaltstage, was in etwa 5 Betten pro Jahr entspricht. Laut dieser Rechnung ist die Bettenanzahl der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Meran mit 12 Betten und 3 Day-Hospitalbetten ausreichend. In Südtirol brauchen derzeit zwischen 5.000 bis 6.000 Minderjährige eine psychiatrische Hilfe, ca. 500 bis 600 davon eine Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wie steht Südtirol im Verhältnis zu anderen Regionen bzw. Ländern da? Schwierig zu sagen. In Südtirol ist die Kinderpsychiatrie noch in den Kinderschuhen. Aber mit der Eröffnung der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Meran wird sie langsam erwachen. Wie wird das Thema in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Das Thema „psychische Erkrankung“ wird immer noch stark tabuisiert. Welche Eltern sagen schon, dass ihr Kind eine psychische Erkrankung hat oder daran erkrankt ist? Allerdings zweifelt aktuell niemand mehr an der Notwendigkeit einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Südtirol. In der Vergangenheit war dies nicht der Fall. Ich bemerke, dass die wenigsten überhaupt wissen, dass Südtirol bis zum Mai 2013 keine Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte. Viele verlieren keinen Gedanken darüber, wie es den schwächsten Gliedern unsere Gesellschaft geht, sobald sie von der „Norm“ abweichen. Nur wenige sind informiert und wissen um die vergangenen Missstände. Hin und wieder reagieren Menschen entsetzt und empört auf meine Erzählungen. Ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht nur einer von Bausteinen, die es braucht, um betroffenen Kindern und Jugendlichen tatsächlich zu helfen? Ja, selbstverständlich. Ambulant vor stationär, so lautet der Grundsatz. Aber es ist ein wichtiger, wenn nicht essenzieller Baustein, um Heranwachsenden angemessen helfen zu können. Eine Kinder- und Jugendpsychiatrie kann in Krisenzeiten schnell notwendige Hilfestellungen geben. Mit dieser Einrichtung erfahren Heranwachsende eine stationäre, alters­entsprechende Behandlung und Betreuung. Sie finden kurzzeitig Schutz vor der Realität. Rund um die Uhr können Jugendliche beo­bachtet werden, um anschließend eine passende Diagnose gestellt zu bekommen. Vor den Kindern und Jugendlichen steht ein Team aus professionellen, ausgebildeten Personen, das untereinander ununterbrochen in Kontakt steht. Die Abteilung ist auch deshalb so bedeutsam, weil es der „erste Schritt“ sein kann, den Eltern in ihrer Verzweiflung wagen können. Handelt es sich um einen Notfall, ist diese Abteilung Ansprechpartner Nummer eins und kann schnellstmöglich adäquat Behandlung anbieten. Hatten Sie auch Erfahrungen mit konkreten Fällen? Ja. Erst vor wenigen Wochen verriet mir eine Freundin, dass sie ihre Selbstmordabsichten in die Tat umzusetzen wird. Aber wohin jetzt mit dieser Information? Wo melde ich das? Es ist spät abends und die neu eröffnete Kinder- und Jugendpsychiatrie nimmt noch keine Patienten auf. Welcher Dienst ist für diese Meldungen zuständig? Die Erste Hilfe, das Krankenhaus, die Erwachsenenpsychiatrie, der psychologische Dienst, der Sozialsprengel, „Young and Direct“, Caritas Seelsorge, Carabinieri, … WER? Es gibt viele Dienste in unserem Land. Aber so richtig ist bzw. war niemand für solch einen Notfall zuständig. Hätte zu diesem Zeitpunkt die Kinder- und Jugendpsychiatrie „offen“ gehabt, hätte meine Freundin sofort adäquat behandelt werden können. Die Realität ist sehr ernüchternd. Es finden kaum Vernetzung und Informationsaustausch zwischen den zuständigen Diensten statt. Wie sieht es mit der Betreuung in der Peripherie aus, etwa im Vinschgau? Schlecht. Sogar sehr schlecht. Wir Vinschger können froh sein, dass es jetzt eine Kinder- und Jugendpsychiatrie in der „Nähe“ gibt. Inwieweit ist die Gesellschaft gefordert? Die Gesellschaft ist gefordert, offen über psychische Erkrankungen zu sprechen. Vor allem sollte aber nicht nur Eltern beim Umgang mit psychischen Leiden des Sprösslings geholfen werden, um damit besser umzugehen zu können, sondern allen, die sonst noch primär Kinder und Jugendliche betreuen. Es sollte diesen Berufsschichten viel mehr Grundwissen vermittelt werden, um den Heranwachsenden auch richtig zu unterstützen. In diesem Bereich gibt es bei uns eine große Lücke. Und die Medien? Medien sollen Sensibilisierungsarbeit leisten, dabei aber keine Hysterie erzeugen. Durch transparente und objektive Beschreibungen dieser Thematik wird der Schrecken genommen und der Schritt zum aktiven Handeln erleichtert. Wie sollen sich Eltern mit betroffenen Kindern und Jugendlichen verhalten? Die Eltern sollten zu aller erst ihren Sprössling zu 100% ernst nehmen! Sie MÜSSEN das Problem ernst nehmen. Die Eltern sollen versuchen, eine Vertrauensbasis aufzubauen - falls diese nicht vorhanden ist - und erst im zweiten Schritt zusammen mit dem Heranwachsenden weitere Schritte planen. Sie sollten sich trauen professionelle Hilfe rechtzeitig zu suchen und auch anzunehmen. Je früher man etwas tut, umso weniger Leiden entsteht. Falls keine geeignete Hilfe gefunden wird, dann nicht aufgeben, sondern weitersuchen. Was niemals aus dem Blickfeld geraten soll, ist das Wohlbefinden des Kindes. Leider rückt dies oft viel zu sehr in die Ferne. Was sollten sie nicht tun? Eltern sollten nie aufhören, ihr Kind zu unterstützen, oder sich womöglich noch gegen das eigene Kind stellen. Institutionen wie Sozialdienste berichten, dass Eltern immer öfters professionelle Hilfe suchen, aber ich selbst erkenne in meinem Umfeld das genaue Gegenteil. Was ich in meinem Freundeskreis immer mehr merke, ist, dass Eltern kaum bereit sind, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Aus Angst vor dem, was die Leute im Dorf von einem denken könnten, aus Furcht vor dem Sozialdienst und anderen Gründen. Interview: Sepp Laner
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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