Jenseits ersehnt, diesseits abgelehnt
A. Gfreis lebenslange Beziehung zur Stilfserjoch-Straße
Das Team der Bibliothek Schluderns mit Bibliothekarin Dagmar Strimmer (im Bild oben), das Vuseum und der Bildungsausschuss ermöglichten Arthur Gfrei die Neuauflage seines Vortrages von 2018, diesmal wegen der Corona-Bestimmungen online. Über 50 Bürgerinnen und Bürger aus ganz Südtirol haben die Ausführungen verfolgt. Im Bild auch ein Schulfreund Gfrei‘s aus Kurtatsch. Zum Titelbild: Arthur Gfrei hatte seine Bilder- und Plänesammlung in Buchform gebracht.
Die Hohe Brücke oder Stierbrücke war die erste Brücke nach Trafoi und wurde vor 20 Jahren ohne Notwendigkeit abgebrochen (Aufnahme 1908).
Eng am Suldenbach verlaufend und durch eine lange Brücke über die Etsch verband die Stilfserjoch-Straße Prad mit Spondinig.
Die Gegenspieler: Carlo Donegani (*1775 in Brescia †1845 in Mailand, Bild links) wurde 1839 mit dem Titel Edler vom Stilfserberg geadelt. Josef Duile (*1776 in Graun †1863 in Innsbruck, Bild rechts) wurde 1826 zum 2. Mann der Baudirektion in Innsbruck, wirkte am Ausbau der Brenner- und Arlberg-Straße mit und begründete die „Theorie der Wildbachverbauung“.
Das ehemalige Hotel Stilfserjoch der Familie Gfrei. (Aufn. Juni 2019)
Optische Tricks der Erbauer: die flachen Kehren führten zur Illusion einer Ebene.
Abgerutschte Stützmauer einer Kehre am Weißen Knott
Ein Teil von Arthur Gfrei’s Materialsammlung zur Stilfserjoch-Straße

Zuerst königliche Handelsstraße, dann kaiserliche Militärstraße

Die Stilfserjoch-Straße ist ein Meisterstück italienischer Ingenieurskunst und feiert demnächst ein Jubiläum.

Publiziert in 18 / 2021 - Erschienen am 20. Mai 2021

Schluderns/Schlanders - Wer am 22. April 2021 nicht den Online-Vortrag „Die Baugeschichte der Stilfserjoch-Straße“ verfolgt hat, der oder die weiß nichts vom kühnen Vorhaben, übers Stilfserjoch eine Handelsstraße zwischen dem französisch regierten Mailand und dem bayerisch besetzten Mals anzulegen. Der weiß nicht, dass Mailänder die Fäden gezogen haben, dass vorwiegend Bauarbeiter aus der Lombardei am Werk waren, dass die Straße die Königreiche Italien und Bayern verbinden sollte, dass für den Habsburger Kaiser die Straße aus militärischen Gründen Vorrang hatte und dass die Tiroler nie daran geglaubt und einiges dagegen unternommen haben. Die Neuauflage des Vortrages von Arthur Gfrei war eine Schludernser Initiative. Schließlich ist der ehemalige Hotelier ein gebürtiger Schludernser. Dass er von Kindesbeinen an mit dem Stilfsersjoch und seiner Straße verbunden war, hatte mit dem Hotel seiner Mutter, eine Karner aus Glurns, zu tun. Dabei war es nicht Arthurs Lebenstraum, Hotelier zu werden. Er wollte in die Welt hinaus. In der Schweiz erreichte ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters. Er war 24, als er dessen Nachfolge im Hotel Stilfserjoch antreten musste. Mindestens 40 Sommer habe er am Joch verbracht und schon sehr früh angefangen, alte Stiche und Berichte zum Straßenbau zu sammeln. 20 Jahre lang war er Präsident der Aufstiegsanlagen und Vorsitzender auch des Tourismusvereins Ortlergebiet. Er war zudem der Befürworter eines Seilbahnbaus von Trafoi aufs Stilfserjoch. 

Die Straße als Lebensaufgabe

Im Abflauen des Sommerskilaufs und mit der Notwendigkeit, riesige Summen für die Modernsierung und Anpassung seines Hotels einzusetzen, entschloss sich Arthur Gfrei zum Verkauf. Seither, seit 1997, hatte er keine Freunde mehr am Joch. Er hatte an Italiener verkauft. Es folgten 13 Jahre im Schnalstal als Direktor der Bergstation Grawand. Aus der Ferne und mit Abstand machte es sich Gfrei zur Lebensaufgabe, alles, aber wirklich alles über Vorgeschichte, Projekt und Bau der Stilfserjoch-Straße zu erfahren, zu sammeln und zu sichten. Es folgten richtige Forschungsreisen zu den wichtigsten Archiven. Seine Dokumentation umfasst inzwischen an die 12.000 Seiten, davon 20 Arbeitsordner und 27 Bände zu je 350 Seiten abgelichteter Dokumente. Sie stammen vorwiegend aus den Archiven von Mailand, Sondrio, Innsbruck, Wien und Gemeindearchiven. „Mit dem gesammelten Material soll in den nächsten Jahren ein Buch erscheinen“, kündigte Gfrei an. Es wäre dann so etwas wie das Geburtstagsgeschenk zum 200-jährigen Baubeginn der Stilfserjoch-Straße auf Tiroler Seite. Seinen Online-Vortrag eröffnete Gfrei mit einem bau-technischen Teil und tischte Daten und Zahlen auf, über die man nur ungläubig staunen konnte. In einem 2. Teil ging er auf Episoden und lokale Ereignisse ein und zeichnete ein beeindruckendes Sittenbild der damaligen Verhältnisse auf Tiroler Seite. 

Handelsstraße zwischen Bayern und Italien

Man habe viel früher zu planen begonnen, als bisher bekannt war, stellte Gfrei im Vortrag fest. Bereits am 12. Januar 1808 begann der in Sondrio tätige und aus Como stammende Ingenieur Filippo Ferranti eine erste Trasse durch das Veltlin zu planen. 1815 änderten sich die politischen Verhältnisse; Napoleon war besiegt und die Lombardei wurde österreichisch. Carlo Donegani aus Brescia erhielt am 2. Mai 1818 den Auftrag zur Projektierung der Straße. Die Ausschreibungssumme betrug 1.185.864,95 italienische Lire. Es gab auch österreichische Lire, die tiefer angesetzt waren. Um 14.453,85 Lire sollte der Bauunternehmer die Straße neun Jahre lang erhalten. Eine geniale Variante, die nachahmenswert wäre, fand Gfrei. Damit sorgten die Bauunternehmer dafür, dass gutes Material verwendet und dass tatsächlich nachhaltig gebaut wurde. Am 26. Juni 1820 wurden die Arbeiten für die Veltliner Seite übergeben. In Prad begannen die Arbeiten am 19. Mai 1823. Schon am 29. Juli 1824 fuhren zwei Wiener Hofbau-Beamte in Begleitung des größten Bauunternehmers der Monarchie, des Mailänders Antonio Maria Tallachini, mit der Kutsche übers Joch. Arthur Gfrei erwähnte, dass man auch einen Tausch des Münstertales gegen das Livigno-Tal in Betracht gezogen habe, weil eine Verbindung über den Umbrail nach St. Maria und durch‘s Münstertal nach Mals viel einfacher gewesen wäre. Doch die Kantonalregierung willigte nicht ein, obwohl die Bevölkerun der Val Müstair einverstanden gewesen wäre. Gfrei erzählte von 61 Kehren im Plan von Donegani. Dass nur 48 realisiert wurden, lag am Mangel an passenden Steinen für die Stützmauern. 

Ein Tunnel gegen Lawinen

Um der Lawinengefahr auszuweichen, wurde Donegani vom Vizekönig beauftragt, zuerst einen 500 Meter langen, dann einen 1.000 Meter langen Scheitel-Tunnel zu planen. Der brüchige Fels ließ es nicht zu. Daraufhin wurde die Straße auf einer Länge von drei Kilometern durch Holzgalerien vor Lawinen geschützt. Sie blieb von 1825 bis 1848 durchgehend im Winter mit Schlitten befahrbar. Da es auf lombardischer Seite kein Holz gab, musste es aus dem waldreichen Tirol bezogen werden. Die Tiroler nutzten die Situation und verlangten horrende Exportzölle. Das gewaltige Straßenbauprojekt bezeichnete Gfrei als „großes Geschenk an die Arbeiter der Lombardei“. Sie waren im Vinschgau „die Italiener“, während die Mineure aus dem Piemont „die Fremdländer“ waren. Arthur Gfrei präsentierte Berichte, die auf dramatische Zustände entlang der Baustellen zwischen Trafoi und Prad hinweisen. Etwa 2.000 Arbeiter waren auf Vinschgauer Seite im Einsatz. 130 davon wurden bei der Verbauung der Etsch eingesetzt. Unter den Handwerkern waren besonders die Schuster gefragt. Allenthalben tauchten Händler auf; „Weinschankhütten“ wurden eröffnet und eine kleine Polizei-Truppe hatte alle Hände voll zu tun, Wirte und „lüderliches Gesindel“ zu kontrollieren. „Die bewaffnete Gewalt“ musste zu Hilfe gerufen werden, als wegen der Arbeiten an der Straße das Wasser des Prader Mühlbachs abgeleitet worden war und es im Juli 1823 zu einem Aufstand von Bauern und Handwerkern kam. Als Arbeiter in der „Karnerischen Buschenschenke der Brader Schmelz sich gegen ein Weibsbild ungebührlich betragen hatten“, genügten die Kolbenhiebe der fünf Polizisten gegen die aufgehetzten Arbeiter nicht mehr. Da drehte der Patrouillenführer, ein gewisser Schönherr, seinen Stutzen um und verletzte den Straßenarbeiter Gino so, „dass derselbe keine weitere Hoffnung zur Genesung mehr hatte“. 

„Abschaffung der Weibsbilder“

Ebenfalls im Juli 1823 ersuchten der Pfarrer von Agums, Prad, Stilfs und Trafoi und der Dekan von Mals das Landgericht um „unverzügliches Einschreiten“ gegen die „eingerissene Unsittlichkeit“ durch „Abschaffung der Weibsbilder unter den Straßenarbeitern“ und um „dergleichen Exzesse und überhandgenommenen Verführungen Einhalt zu thun“. Wie heute die Advokaten fanden auch damals sprachgewandte Personen ihre Verwendung. So sollte der aus Glurns stammende Malser Handelsmann Johann Flora die Unternehmer vertreten, für sie Prozesse führen und als „Generalbevollmächtigter“ Entschädigungen und Ablösen an Private und an die Gemeinden Prad, Glurns, Tartsch und Mals zahlen. Die waren zahlreich und vor allem Prader Bürger bewiesen Phantasie bei ihren Forderungen. So wurde mehrfach Schadensersatz gefordert, weil die Stadelbrücken zu steil, die Tennen zu klein geworden waren und weil der Zugang zum Stall wegen der erhöhten Straße verlegt werden musste. Einige Bauern beklagten sich, dass sie ihren Dünger nicht mehr auf der zur Handelsstraße aufgewerteten Dorfstraße abladen durften. Die durch Holzschlag geschädigten Gemeinden mussten beweisen, dass sie Waldbesitzer waren. Nur schwer ließen sich die entsprechenden, meist mittelalterlichen Urkunden auftreiben. Sie mussten auch angeben, wie sie das Entschädigungsgeld verwenden wollten. 

Unbeliebte Straßenverbindung

Auf Tiroler Seite hielt man eine Straßenverbindung durch das Veltlin in den Vinschgau lange Zeit für nicht machbar. Die ablehnende Haltung bis hin zur offenen Gegnerschaft könnte mit der Abneigung der Tiroler gegen alles Französische und Bayerische (Herrschaft) zusammenhängen, vermutet Gfrei. Doch der Straße übers Joch sei in Tirol auch später unter den Habsburgern nie die Bedeutung zugesprochen worden, die sie auf lombardischer Seite hatte. Mit Baubeginn in Prad trat mit Josef Duile aus Graun ein einflussreicher Beamter, Bauadjunkt (Assistent) in Innsbruck und Pionier der Wildbachverbauung, auf den Plan. Er war einer der prominentesten Gegner der Stilfserjoch-Straße. Josef Duile veranlasste zusammen mit Ingenieur Luigi Negrelli (aus dem Trentino, Planer des Suezkanals) eine systematische Fehlersuche an der Straße. Sogar fünf Meter hohe Stützmauern ließ er abbrechen, weil er eine zu schwache Basis vermutete. Aber es fanden sich keine schwerwiegenden Baumängel. Erstmals beteiligte sich mit Josef Andri Hilber ein Tiroler an der Ausschreibung für das Straßenstück Prad - Spondinig. Die Arbeiten begannen am 27. April 1825. Damals reichte der Suldenbach bis an die Straße und die Etsch war noch nicht verbaut. 
Ein erstes Opfer unter den Arbeitern forderte die Straße übers Joch auf Vinschgauseite am 6. September 1823. Am 30. November desselben Jahres wurde der aus Stilfs stammende 1. Posthalter und Wirt Josef Kössler zusammen mit zwei Gehilfen aus Martell von einer Lawine verschüttet. Nur ein Gehilfe überlebte. Die „prominenteste Befahrung“ der Straße bis kurz unter der Passhöhe erfolgte am 28. Juni 1832 durch Kaiser Franz I. von Österreich (+1835). Er wurde begleitet von seiner 4. Frau, Karoline Auguste von Bayern, seinem Bruder und Vizekönig der Lombardei Erzherzog Rainer mit Gemahlin Elisabeth von Savoyen und Planer Donegani. Ihm übertrug der Kaiser die Planung für die Straße bei Finstermünz, die aber nicht verwirklicht wurde.

Günther Schöpf
Günther Schöpf
Vinschger Sonderausgabe

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