Roland Gnaiger

„Hier entsteht eine echte Siedlung“

Publiziert in 22 / 2022 - Erschienen am 6. Dezember 2022

Bregenz/Latsch - Roland Gnaiger, einer der vielseitigsten und anerkanntesten Architekten Österreichs, fungierte als Präsident der Jury, die das Bebauungskonzept des Architekten Carlo Calderan als Siegerprojekt des Planungswettbewerbs ausgekoren hatte. Gnaiger war u.a. 12 Jahre lang der Vorsitzende der Jury zum österreichischen Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit.

der Vinschger: Warum macht es Sinn, Urbanistik-Projekte wie das Quartier am Mühlrain über einen Ideenwettbewerb auszuschreiben?

Roland Gnaiger: Ein Ideenwettbewerb liefert eine unglaublich große Breite unterschiedlicher Lösungen. Diese Lösungen werden unter Fachleuten diskutiert und man kann gemeinsam die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Entwürfe abwiegen. Immer in Kenntnis und im Kontext mit der Nachbarschaft und Umgebung. Am Ende einigt man sich gemeinsam auf das beste Ergebnis. Die überzeugendste und beste Lösung ist dann auch gut begründet zu vermitteln und zu argumentieren. 

Was hat die Jury am Siegerprojekt von Architekt Calderan überzeugt?

Der Mehrwert dieses Projektes liegt darin, dass hier eine echte Siedlung entsteht und keine weitere Zer-Siedlung. Die Außenräume sind keine uninspirierten Zwischenflächen, sondern haben echte räumliche Qualität. Zudem sind die Anordnung und Stellung der einzelnen Gebäude besonders gut durchdacht – ein enormer Mehrwert für den gesamten Ort. Diese spannungsvolle Dramaturgie zwischen den Freiräumen, die allen Bewohner/innen zur Verfügung steht, und den geschützteren, intimeren Bereichen hat die Jury überzeugt. Hier kann echte Nachbarschaft entstehen, hier haben auch Kinder und Jugendliche wieder ihren Platz. Diese Art des Wohnens, eine echte Siedlung, bietet wesentlich mehr Qualität als das Einfamilienhaus mit Garten. Die Entwicklung zeigt: Das Einfamilienhaus ist keine Wohnform der Zukunft. Wohnen ist für Junge zu teuer geworden, ein eigenes Haus mit Garten ist für viele nicht mehr leistbar. Wir brauchen Alternativen, auch im Sinne der Verantwortung gegenüber unserer Baugeschichte und dem Umgang mit Grund und Boden. Außerdem hat sich die Gesellschaft verändert. Großfamilien gibt es schon lange nicht mehr, dafür aber immer mehr Single- und Einzelhaushalte. Dieser Entwurf lässt viele Varianten großer, mittelgroßer und kleiner Wohnungen zu, so dass eine sozial gute Durchmischung stattfinden kann. Hier können Singles, Paare, Familien und ältere Menschen attraktiv zusammenwohnen.  

Im Vorfeld haben Sie sich ein Bild von Latsch und dem betroffenen Areal gemacht. Welchen Eindruck haben Sie?

Latsch ist ein interessanter und qualitätsvoller Ort. Das ist wieder in Szene zu setzen. Das Originelle von Latsch, das Erhaltenswerte ist die anziehende Dichte und räumliche Spannung. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung an diesen Ortskern anzuschließen und solchen „Geist“ in die heutige Zeit zu übertragen. Mit dem Roten Schloss, der den historischen Ortsrand markiert, schließt das neue Areal am Mühlrain unmittelbar an den Ortskern an. Das ist entscheidend, denn ich glaube, dass in Latsch das Zentrum noch in einem Dornröschenschlaf liegt und wachgeküsst gehört. Wenn man diesen Ortskern sorgfältig saniert und ihn noch viel mehr und stärker vom Verkehr befreit, könnte ein sehr attraktives und zukunftsfähiges Wohnumfeld entstehen. Ich bin überzeugt: Wir müssen wieder an den Punkt gelangen, dass das Bauen der Gegenwart etwas ist, was als historisches Erbe in einigen Jahrzehnten angenommen und wertgeschätzt wird. Wir müssen im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit Grund und Boden wieder zurück zu dichteren Bauformen, auch im Sinne von attraktiven öffentlichen und halböffentlichen Außenräumen. 

Redaktion

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