„Ich habe schon Angst …“
Ein Südtiroler, der seit 2005 in London lebt, spricht über das Brexit-Chaos, mögliche Folgen, Sorgen und Befürchtungen.
London/Südtirol - Um zu verstehen, was es mit der ganzen Brexit-Diskussion konkret auf sich hat und welche Folgen ein EU-Austritt Großbritanniens speziell für Ausländer haben könnte, die seit Jahren in England leben und arbeiten, hat der Vinschger mit dem Südtiroler Alois Domanegg gesprochen.
der Vinschger: Herr Domanegg, seit wann leben und arbeiten Sie in London und in welchem Bereich sind Sie tätig?
Alois Domanegg: Ich wohne und arbeite seit Mai 2005 in London. Beschäftigt bin ich im Verkauf, genauer gesagt im Kunden-Service in einer Boutique im noblen Stadtteil Mayfair. Wir verkaufen luxuriöse Koffer. Zu unseren Kunden gehören Geschäftsleute und viele Promis aus der ganzen Welt.
Waren Sie berechtigt, beim famosen Brexit-Referendum abzustimmen?
Als Ausländer, der in London wohnt, ist man nicht berechtigt, an solchen Abstimmungen teilzunehmen, da muss man schon Brite sein. Wählen darf ich nur bei Regionalwahlen in London. Ich würde es aber fairer finden, wenn auch Ausländer, die länger als 5 Jahre arbeiten und Steuern zahlen, berechtigt wären zu wählen. Wäre das so gewesen, wäre das Referendum ganz anders ausgegangen. Klar hätte ich für Europa gewählt. Es war für mich ein Horror, am Morgen aufzuwachen und zu hören, dass Großbritannien die EU verlässt. Es war Cameron, der das Unheil angerichtet hat, denn sein Sitz in der Downing Street No. 10 hat gewaltig gewackelt. Er spielte ein schlechtes Spiel. Viele Leute wussten gar nicht, was sie wählten. Es wurden Ängste geschürt und Lügen verbreitet. Man versuchte, gezielt zu suggerieren, dass die EU vor allem den sozial Schwächeren alles wegnehmen wolle. Viele junge Leute sind nicht zu den Urnen gegangen, weil sie überzeugt waren, dass Großbritannien sicher in der EU bleiben würde. Mittlerweile ist längst klar, dass Fake News und Lügen eine große Rolle gespielt haben. Durch gezielte Falschinformationen wurden Wähler von den Vorteilen eines Brexits überzeugt. Vor dem Referendum haben die Anführer der Pro-Brexit-Kampagne sogar behauptet, dass Großbritannien der EU jede Woche 350 Millionen Pfund schicke.
Mittlerweile scheint die Lage ziemlich verfahren zu sein. Wie ist die Stimmung bei den „normalen“ Leuten auf der Straße?
Irgendwie kommt mir vor, dass die Leute den Kampf für einen Verbleib in Europa aufgegeben haben, weil die Politiker ohnehin machen, was sie wollen, und selber nicht imstande sind, den Brexit auszuhandeln. Die Stimmung ist sehr schlecht. London hat sich in den drei Jahren seit dem Referendum total verändert. Es leben ja hier mehr Ausländer als Briten. Man fühlt sich jetzt als Ausländer so, als ob man hier nicht mehr erwünscht ist. Jeden Monat schließen
Dutzende von Geschäften, Bars, Restaurants und Pubs. Auch Banken verschwinden in Windeseile. London ist ja die „Finanz City“ der Welt. Man darf gespannt sein, was da noch alles kommen wird. Die Stimmung ist traurig.
Es gibt in London viele tausende Menschen, die keine Briten sind, aber seit Jahren dort arbeiten und leben. Wie sehen Sie die Zukunft dieser Menschen?
Nicht rosig, weil ja auch viel Hass aufgekommen ist. Da ich täglich mit Ausländern in Kontakt bin, sei es bei Arbeit oder privat im Pub, kann ich die Frage leicht beantworten: wir sind uns alle einig, dass das der größte Fehler war, den Großbritannien je gemacht hat. Großbritannien, und speziell London, wäre ohne uns Ausländer nichts. London ist ja gerade deshalb die Weltstadt schlechthin, weil Menschen aus der ganzen Welt hier seit vielen Jahren arbeiten, aufbauen, sich selbständig machen und auch den Alltag gestalten. Außerdem kommen jährlich rund 21 Millionen Touristen dazu. Und jetzt muss ich mich fragen, ob ich noch bleiben kann oder überhaupt noch will?
Und was sagen die Südtiroler, mit denen Sie in London in Kontakt sind? Wollen sie nicht wieder so langsam zurück in ihre Heimat?
Die Südtiroler sagen das, was auch viele andere sagen, die schon lange hier sind und etwas aufgebaut haben. Jetzt wieder zurück nach Südtirol? Ich kenne einige, die gehen mussten, weil sie für eine Firma arbeiteten, die wegen des Brexits nicht mehr bleiben kann. Als Beispiel kann ich das EU-Gesundheits-Büro in London nennen. Die rund 1.000 Beschäftigten haben nur zwei Möglichkeiten: entweder du ziehst mit dem Büro nach Deutschland oder du kündigst. Bedenklich ist auch, dass viele Südtiroler hier Jobs haben, die es in Südtirol gar nicht gibt. Und außerdem: wenn du London liebst, ist es sehr schwierig, nach Südtirol zurück zu kehren.
Unlängst war zu hören, dass es bei den Briten sogar Hamsterkäufe gibt. Haben auch Sie sich vorsichtshalber eine Extra-Portion Speck aus Südtirol schicken lassen?
Man sagt ja oft, die Briten, die spinnen. Aber Spaß beiseite: wenn es zu einem ungeregelten Austritt kommt, könnte es tatsächlich Engpässe bei Lebens- und Arzneimitteln geben, weil Großbritannien ja 85% dieser Waren importiert. 1.500 Lastkraftwagen kommen jeden Tag nur bei Dover herein nach England. Wie sollten die alle abgefertigt werden? Das ist ja unmöglich! Wenn es eng wird, würde ich mich über eine Hamme Speck aus der Heimat natürlich freuen.
Können Sie sich eine EU ohne England vorstellen bzw. ein England ohne EU?
Die EU ohne England kann ich mir ebenso wenig vorstellen wie England ohne EU. Ich hoffe noch immer auf ein zweites Referendum. Träumen darf man ja, ich will nicht zurück in die 1950er Jahre.
Etliche Wirtschaftsbetriebe haben London bzw. England bereits verlassen, weitere haben das vor. Wie sehen Sie die Zukunft der Wirtschaft Ihres Gastlandes?
Sehr düster. Leider haben schon viele Betriebe England verlassen und auch Großbanken. Nur Frankfurt allein hat bis jetzt 37 Banken aus London bekommen. Derzeit ist England in punkto Wirtschaftswachstum das Schlusslicht in der EU hinter Bulgarien und Rumänien. Und wir sprechen hier immerhin von der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt. Das macht schon Angst, auch persönlich: habe ich morgen noch einen Job oder nicht? Und nicht zu vergessen ist die Landwirtschaft, die im United Kingdom ohne die Geldspritzen aus Brüssel nur schwer überleben könnte.
Sehen Sie den Frieden in Europa in Gefahr? Befürchten Sie eine Rückkehr des Terrors in Nordirland?
Man bekommt schon Angst, wenn man an die 1980er und 1990er Jahre zurückdenkt und sich die Anschläge in Erinnerung ruft. Ich persönlich sehe das Karfreitagsabkommen, das 1998 von der irischen und der britischen Regierung unterzeichnet wurde, in Gefahr. Und auch allgemein den Frieden in Europa.
Wie wird Ihre persönliche Zukunft aussehen?
Meine Zukunft ist sicher London, wenn es noch lebenswert ist. London ist meine Heimat geworden, mein Zuhause.