Am Reschensee vor dem alten Kirchturm von Graun.

Das Böse ist überall

Publiziert in 30 / 2009 - Erschienen am 2. September 2009
Vinschgau/Marling – Nichts war wie immer. Über Jahrhunderte hinweg schlüpfte ich aus am See gelegten Hahnen-Eiern. Dieses Mal verknüpfte sich mein Wiedererwachungsschicksal mit dem prallsten Hintern, den die Gesamttiroler Geschichte zu verbuchen hat. Es gelüstete mich so sehr, mir dieses Goaßlschnöller-Weibchen einzuverleiben, dass ich meine Ötztaler Höhlen, seit Jahrhunderten meine Schlafstätte, verließ. Leider hatte ich die Rechnung ohne ihr Männchen und dessen wagemutige Mitstreiter gemacht: Sie hatten mit ihrem atemberaubenden und ohrenbetäubenden Geknalle ihrer Überschall-Peitschen das getan, wozu die Goaßln seit Jahrhunderten dienten: Der Kommunikation. Und hießen mir, zu fliehen. Sie ließen mich heimtückisch sogar mit ihren Kindern spielen und lockten mich alsbald auf den großen Platz im Ötztaler Längenfeld. Ich, ja ich, das Böse schlechthin, ging ihnen auf den Leim. So peinlich es mir ist: Der Lärm war Angst einflößend. So floh ich in das erste Erdloch, das sich unter dem Bierausschank bot und raste, was das Zeug hielt. Singend machte ich mir Mut: Das Böse ist immer und überall... Ein reizendes altes Gedichtchen mir zu Ehren kam mir in den Sinn: „Doch als ich mich so weit vergaß Und Sennerinnen roh auffraß, Da kam die ­Sündflut grausenhaft Und tilgte meine Bergwirtschaft ‚Zum Tatzelwurm’.“ Am Prutzer Sauerbrunnen labte ich mich, kaum einer weiß, dass ich mir schon vor Jahrhunderten insgesamt sieben der quellwasserholenden Adjutanten von Kaiser Maximilian, der mit diesem eisen-, calcium-, schwefel- und magnesiumhaltigen Wasser regelmäßig seine Gesundheit stärkte, einverleibte. Sie wurden nie vermisst und tauchen in keinem Geschichtsbuch auf. Man könnte verkohlte Leichenreste heute wissenschaftlich nachweisen. Macht aber niemand. Aus dem „Engadiner Fenster,“ wie das Inntal zwischen Pontlatz und Zernez genannt wird, zog ich weiter Richtung Pontlatz Gedächtnisstein. Der Laudegger Martin Sterzinger von Siegmundsried hatte den Einfall der Bayern 1703 in Tirol mit seinen Männern an der Pontlatz (pons ­ladis) tapfer abgewehrt. Dass ich kleine Vernichtungsattacken in jener Schlacht führte, auch daran will sich niemand erinnern. Unmutig musste ich dieses Versäumnis feststellen und verkroch mich ein paar Tage lang unter den alten Panzern, von wilden Schlachten träumend. Mut schöpfte ich erst, als ich an das überflutete Dorf Graun und an die Weiler Arlund und Piz und Gorf und die Stöckerhöfe dachte: 1950 kam ich angesichts der Sprengung kurz aus meinem Bau: soviel Schaden konnte ich mir damals nicht entgehen lassen. Weiter ging es, an den Wind­rädern vorbei, schon sah ich die vielen Erd-Erhebungen und Bagger auf der Malser Haide. Dort ist jetzt endlich eine Beregnungsanlage! Ich fordere sie seit langem ein, erst jetzt wurden sie einsichtig, die Obervinschger! Jahrtausendjährige Unabhängigkeit ist einfach zu viel! Animiert kroch ich weiter zur Werkstatt Joos&Joos, wo ich kurz inne hielt. Hier kamen mir seltsame Träume, diffuse Bilder von Bildhauerhänden, die mir meine schönen Füße und mein grausames Antlitz gaben, tauchten auf. Aber welch Grausen überkam mich, als ich Figuren dort stehen sah! Mit Marmorschönheiten wollte ich nichts zu tun haben! Ich rutsche den Hügel hinunter, und fuhr – von schon wieder keinem entdeckt – unter einem Abteil der Vinschger Bahn aus dem Vinschgau heraus. Im Fahrradabteil war soviel los, dass mich außer einem keiner bemerkte. Ihm glaubte keiner - er hatte schon einen im Tee. Wie ihr seht, es hat sich seit Jahren an dieser Tatsache nichts geändert: das besagen auch die alten Reime: „Das Fußwerk schwankt...Im Kopf ist Sturm...Die sehen all’ den Tatzelwurm! Den Tatzelwurm!“ Wie von innerem Zwang getrieben, geriet ich nach Marling, an meinen Neu-Erfinder, den Gießer Vinzenz Dirler. Er fasste mich, er packte mich, er schrie mich an: „Jetzt hab ich dich!“ Nicht genug, dass er mir einzureden versuchte, er habe meine jetzige Form in Auftrag gegeben und mein neues Wesen in seiner Werkstatt selbst gegossen! Nein, er schweißte mich an den Brunnen gegenüber seines Marlinger Prantlhofes! Dann höhnte er: „Das Böse ist immer und überall, in Nord- und Ost- und Südtirol, da ist’s ihm ganz besonders wohl. Und zum Andreas-Hofer-Jahr, ist auch der Tatzelwurm gleich wieder da!“ Der Gießer mit der Kunst im Kopf Sonst im Auftrag der Künstler unterwegs, sorgte in diesem Jahr der Marlinger Kunst­gießer Vinzenz Dirler für um­gekehrte Verhältnisse. Anlässlich des Andreas-Hofer-Gedenkjahres und seines 30-jährigen ­Jubiläums als Kunstgießer ließ sich Dirler etwas ganz Besonderes einfallen: Von Joos&Joos (Mals) ließ er einen Tatzelwurm anfertigen, das furchterregende Resultat gossen Vinzenz Dirler und Sohn Stefan, ebenfalls Kunstgießer, anschließend in Bronze und verbannten den Tatzelwurm als wasserspeiendes Wesen an einen Brunnen. Zur spektakulären Eröffnungsfeier am 21. Juli 2009 in Marling trugen auch der Ötztaler Freistaat Burgstein, der Meraner Freiraum K, Kabarettist Dietmar Gamper, Heimatpfleger, Antiquar und Reiseleiter Georg Hörwarter, Moderatorin Sonja Steger, Musiker Andreas Unterholzner und Feuerkünstler Mathias Walch sowie die Marlinger Goaßlschnöller bei. Der wurmbestückte Brunnen gegenüber der Gießerei am Prantlhof ist öffentlich zugänglich und jederzeit zu bestaunen.
Katharina Hohenstein
Katharina Hohenstein

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