Freud und Thöni
Publiziert in 1 / 2003 - Erschienen am 16. Januar 2003
Wer ist berühmter, Sigmund Freud oder Gustav Thöni? Den Gustav, den weltbekannten Künstler in allen Varianten des Schilaufs kennen hier alle. Auf dem Wiesenhang hinter der Pfarrkirche und dem neu errichteten Museum NATURATRAFOI begann er schon als kleiner Bub mit dem wedelnden Tanzen im Schnee. Für die nervenzerrenden Wettrennen brauchte er nebenGeschick und Kraft sicherlich auch etwas Psychologie.
Für die Tiefen der Psychologie allerdings ist der Sigmund Freud zuständig. Er wurde zwar nicht in Trafoi geboren, hat aber vor etwa 100 Jahren hier Urlaub gemacht. Er spazierte wiederholt zu den Drei Brunnen und löste im Gehen allerhand Konfliktknoten. Gerade hier, mitten im Urlaub, erreichte ihn eine unangenehme Nachricht aus Wien. Ein ihm anvertrauter Patient hatte sich nämlich das Leben genommen. Was für eine Niederlage für den Psychiater! Diese unangenehme Botschaft hat er dann einfach vergessen, wie er später in Briefen berichtet; Freud spricht hier erstmals vom „Komplex des Verdrängens“.
Mit den über dieses Problem geschriebenen Büchern könnten mittlerweile ganze Bibliotheken gefüllt werden. Eine ganz andere Bibliothek begegnet uns im Haus des Nationalparks. Auf 64 Quadraten erscheinen auf hellem Furnierholz Wortakkorde, abwechselnd deutsch und italienisch. 32 Wörter leuchten in Sechsergruppen auf, in der Mitte, bald in der linken, bald in der rechten Ecke, bald oben, bald unten. Sie brechen aus der Wand wie Steinschlag, vermischen sich, bleiben liegen oder fließen nach unten. Aus Schuttströmen mit verschiedensten Mineralien und Erden entstehen vielseitige Nährböden. Am Fuße des Berges sammelt sich weit auseinender Liegendes. Neue Formen entstehen, ungewohnte Zusammenhänge werden einsichtig. Soll hier etwas in Erinnerung gerufen werden? „Leben an der Grenze“ - so versteht sich nämlich diese Dauerausstellung im Naturparkhaus.
Angeschlossen ist auch eine Forschungsabteilung der Europäischen Akademie. Das Gesamtkonzept, die Planung und Realisierung besorgten die Architektin Brigitte Kauntz und der Künstler Thomas Kinkelin, beide aus Meran.
Für die bauliche Gestaltung ist der aus Eyrs stammende Meraner Architekt Kurt Kurz zuständig. Genau kalkulierte Maße, geschliffene Fassetten, durchsichtige Wände - das Trafoier Naturmuseum ist ein Kristall. Der Besucher steigt über Stockwerke wie über Klimastufen. Spielebenen eines Orgelmanuales, aufleuchtende Lichtsäulen. Die Haut der Erde, Pelze der hier lebenden Tiere, Tasten und Fühlen, wir werden Mitgestalter. Große Schaumgummiteile zum Spielen für Kinder können wie geologische Schichten zusammengebaut werden, machen den Aufbau des Ortlermassivs sichtbar. In einem dunklen Raum summt und brummt es wie im Bienenstock; es sind die vielen wespenartigen Insekten, die auf Höhen um 2500 m Meereshöhe den kurzen Sommer zum Einsammeln von Vorräten nutzen. Und zum Liebesleben. Hervorragende Schaubilder machen Heuschrecken zu außerirdischen Gestalten; das Leben an der Grenze führt uns zurück in die Urzeit. Nach Einsicht in die Gesteinswelt, ins geologische Geschehen, in die Fauna und Flora kehren wir zurück zur leuchtenden Wand und versuchen das Menetekel zu verstehen.
dolcezza Essenz cresta Wind gelo Exzess
Sechs Wörter, miteinander verbunden, ergeben einen Gedankenslalom:
Lieblich schweifen Windwesen auf eisigen Graten.
Eisige Liebesgrate begehren windiges Sein.
Süßes Sein schweift windig über eisige Grate.
Durch Höhenluft verwirrte Poesie. Gedankenknoten beim Gratklettern, mit Blick auf die Windungen der Stilfser Joch Straße. Sie ist das Urbild des Slaloms und wurden dem kleinen Gustav bereits in die Wiege gelegt.
Aber auch Freud, der Psychologe, dürfte in Trafoi, besonders bei den Heiligen Drei Brunnen, noch weitere Anregungen für seine Theorie des Unbewussten erhalten haben. Hier, angesichts der aus dunklem Gestein hervorschießenden Bäche hat er weitergedacht, unter den Madatschknott hindurch, bis nach Bormio, erahnend die warmen Quellen, die hier unter dem vereisten Bergmassiv auf Erlösung warten..
Hans Wielander