Suldner Bergführergeschichten für heute neu interpretiert

Publiziert in 23 / 2010 - Erschienen am 16. Juni 2010
von Renata Reinstadler (erster von zwei Teilen) Sulden und die „Entdeckung“ der Berge: Das ist eine unendliche Geschichte, bei der viele der Bewohner des Ortes als Bergführer eine große Rolle spielen. Die Entwicklung des relativ jungen Berufsstandes der Suldner­ Bergführer lässt sich heute anhand präziser schriftlicher Quellen leicht rückverfolgen. Erfahrungen und Erlebnisse beim Zusammentreffen mit der aufgeklärt gebildeten „Herrenwelt“, der Oberschicht des k.k. Ständewesens und mit Fremden aus anderen Ländern, haben diese ersten Tourismustreibenden des bisher abgeschlossenen Hochtals gern weitererzählt. Mir sind die Anekdoten meiner männlichen Ahnen, die des „alten Hannesle“, des Johann Pinggera, Führer des berühmten Alpinisten Julius Payer, und seines Bruders Alois seit meiner Kindheit im stets gleichen Wortlaut in Erinnerung. Besonders beeindruckt hat mich dabei immer der strafende Blick meiner Großmutter ­Aloisia, mit dem sie meinen phantasiebegabten Vater als Nestbeschmutzer entlarvte, weil er die Profit ­orientierten ersten Suldner Bergführer schon fast als diebisch darstellte. Kurz vor ­seinem Tod hat mein Vater ­einige dieser Geschichtchen so aufgeschrieben: „Hannesle“ erhielt als erster Bergführer in Wien eine ­Ehrung, wobei ihm Baron ­Rothschild Fahrt und Unterkunft bestritt. In seinen alten Tagen soll er noch immer vom Luxus der Villa Enzenberg in Wien erzählt haben, weil er dort auf vergoldeten Tellern speiste und als braver Suldner gerne einen eingesteckt hätte. Sein Bruder Alois, mein Großvater, erhielt die gleiche ­Ehrung etwas später und sein Sponsor für Fahrt und Unterkunft war Staatsrat Karl Bäckmann, der Gesandte des Zaren in Wien. Ich kann mich noch gut erinnern wie mein Groß­vater erzählte, dass er schon bei der Anreise nach Wien etwas Pech hatte, indem er gleich auf dem ersten Wiener Bahnhof ausstieg und danach mit einem Paketträger fast drei Stunden zu Fuß gehen musste. Vor der russischen Gesandtschaft bezahlte er dem braven Wegmeister einen Gulden, worauf sich dieser vor der dort platzierten Gendarmerie sofort aus dem Staube machte. Von den Gendarmen zum Portier des Hauses geleitet, sagt er diesem, er müsse sofort den „Bäckmann“ sprechen, worauf ihm dieser mit schallendem Gelächter die Tür wies und den Rat gab, er solle daheim in Tirol bleiben. Großvater zog dann die von Bäckmann eigenhändig geschriebene Einladung hervor und der zuerst hochmütige Angestellte wurde ganz blass, stammelte eine Entschuldigung und sagte schließlich: „Guter Gott, die Einladung ist von Seiner Exzellenz höchstpersönlich!“ Vor dem Ge­sandten angekommen, fragte ihn dieser nach Tirol und Sulden und ließ ihm ein Essen geben. Groß­vater bemerkte, er sei schon mit Speck und Hartbrot versorgt. Bäckmann sagte ihm lachend, das solle er sich für den Ortler sparen und er musste darauf mit dem Gesandten selbst speisen. Großvater sah nun zum ersten Mal fließendes Wasser in einem Bade, wobei ihm eine weiß behandschuhte ­Toilettendame die Hand­habung dieser neuartigen Einrichtung zeigte, die er nach der Vorführung zur Tür komplimentierte. Die verwendete Sprache und die Begebenheiten selbst spiegeln Kultur­muster und Machtverhältnisse aus dem Leben der frühen Suldner Bergführer wieder. ­Schonungslos zeigt das Gesprochene ein Ordnungssystem von Regeln auf, das das Herr-Knecht-Verhältnis zu den zahlenden herrschaftlichen Bergsteigern widerspiegelt. Der Philosoph Georg Friedrich Hegel hat ­diese ungleiche Beziehung ­übrigens fast zur gleichen Zeit sehr deutlich thematisiert. Wer sich Alois Pinggera mit der groben lodenen Pump­hose, den roten, handgestrickten Wollstrümpfen, dem Bergpickel und dem gefüllten Rucksack vorstellt, denn so war er nach Wien bestellt worden, kann sich vorstellen, dass er dort in illustren Kreisen vorgeführt werden sollte. Sicher war auch dem Alois die ihm zugedachte Rolle vom gutmütig- exotischen Tiroler Naturmenschen bewusst, ja sie kann wohl als Teil seines Geschäftsgebarens betrachtet werden. In die heutige Sprache übersetzt hieße das, dass er als sein eigener PR Manager agierte und sich als Produkt für das hochgestellte Zielpublikum interessant machte. So zog er auch die Fäden zugunsten einer heute im Neudeutschen oft so benannten Win-win-Situation, denn der Staatsrat konnte in seinen Kreisen mit dem Ur­tiroler Bergführer punkten und Alois Pinggeras Bekanntheit bei möglichen späteren Gipfelstürmern stieg an. Auffallend erscheint mir aus heutigem Blickwinkel auch die Servilität der dienstbaren Geister im herrschaftlichen Umfeld, ein Katzbuckeln, das es für uns heutzutage per­sifliert oft in Fernsehserien um den englischen Hochadel des beginnenden 20. Jahrhunderts zu bestaunen gibt. Das unterwürfige Lakaienverhalten der österreichischen Kaiserzeit hat sich wiederum in den sprachlichen Ausdrücken festgekrallt. Nun scheint allerdings der Alois sprachlich nicht von diesem devoten Virus befallen zu sein: Er fordert Beachtung seiner Person und lässt sich nicht einschüchtern. Die Frage nach dem Warum fördert eine wichtige Facette aus seinem Berufsleben zutage. Führer hatten ja „die verschrobenste Stellung von der Welt; sie werden bezahlt, um ihren Herren Befehle zu ertheilen“ So charakterisiert der Alpinist Paul Güßfeldt 1881 dieses Verhältnis Am Berg fand nämlich die Umkehrung der geltenden Sozialverhältnisse stat - sicher ein Stachel in der Psyche der frühen Bergreisenden auf dem höchsten Gipfel des Kaiserreichs angewiesen zu sein auf jene subalternen Krea­turen, die „bescheiden intelligenten“ Bergführer, wie Julius Payer sie bezeichnet hat. Genau dieses Wissen um seine machtvolle Stellung im Alpinbereich förderte das Selbstvertrauen meines Urgroßvaters, des Alois Pinggera und zeigte sich im sprachlichen Umgang mit den Herrschaften. Dieses Selbst­bewusstsein zeigten in der Donaumonarchie nicht nur die Suldner Bergführer. Die neu entstandenen selbständigen alpinen Dienstleistungsunternehmer Bergführer genossen auch wegen dieser äußerst ungewöhnlichen Rollenverteilung großes öffentliches Ansehen und stiegen in den Rang eines stolzen Berufsstandes auf.

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