Tot und gefährlich - Die eingezwängte Etsch - Lösungsvorschläge für den Flusslauf im oberen Vinschgau
Die Ebene bei Laas nach der Etschüberschwemmung im Juli 1987 Archiv: Gemeinde Laas

Dem Wasser Raum geben

Publiziert in 1 / 2005 - Erschienen am 20. Januar 2005
[F] Gewässer wurden in Vergangenheit in Kanäle gezwängt. Man war der Überzeugung, dadurch die Sicherheit für das Umland und die Menschen erhöhen zu können. Ein Trugschluss. Ein Umdenken ist im Gange. Europaweit starten Revitalisierungsprojekte, um Flüssen mehr Raum zurück zu geben. Dass die Wassermassen der kanalisierten Etsch ein gewaltiges Zerstörungspotenzial entfalten können, mussten die Vinschger bei den Unwettern 1983 und 1987 erfahren. Die Flut kann wieder kommen. von Magdalena Dietl Sapelza [/F] Juli 1987. Es regnet seit 72 Stunden. Die Etsch schwillt an. Vom Suldenbach und vom Rambach geht die größte Gefahr aus. Sie münden direkt in die Etsch. Die Wassermassen aus dem Oberland hält der Reschensee zurück. Der Pegel der Etsch steigt. Zwischen Eyrs und Laas wird es kritisch. Die Erdwälle saugen sich mit Wasser voll. Feuerwehrmänner und freiwillige Helfer schleppen tonnenweise Sandsäcke zu den Dämmen. Risse treten auf. Immer mehr Säcke müssen her. An vielen Schwachstellen führen die Einsatzkräfte einen erbitterten Kampf gegen den Druck des Wassers und gegen die drohende Überflutung. Sie sind in ständigem Funkkontakt untereinander. Es regnet unaufhörlich weiter. Die schwammigen Dämme beginnen zu bröckeln. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis Teilstücke reißen. Die Überschwemmung der Laaser Ortsteile gilt es zu verhindern. Das hat Vorrang. Das Teilstück im Bereich des Zwerchweges muss aufgegeben werden. Das Wasser sucht sich den Weg in die Obst- und Gemüsefelder. Der Schaden ist erheblich. Ein Sandsack-Träger ist damals Siegfried Tappeiner. Ihm wird bewusst: Der eingeengten Etsch fehlen die natürlichen Flutungsräume. Die Zerstörung der Obst-und Gemüsefelder könnte bei nächsten Unwettern vorprogrammiert sein. Ideen zur Revitalisierung Im vergangenen Jahr hat er seine Ideen zur Revitalisierung des Gebietes zwischen Glurns und Laas in seiner Diplomarbeit mit dem Titel „Architektur im Rhythmus der Wasserkraftnutzung“ ausgearbeitet. Er erstellt eine Bestandsanalysen und ein Konzept für das Speicherbecken des E-Werkes bei Glurns, für die Etsch und die angrenzende Landschaft. Er beleuchtet folgende Gesichtspunkte: Verbesserung des ökologischen Zustandes der Etsch, Hochwasserschutz, Wirtschaftlichkeit, Neugestaltung des Auffangbeckens und Schaffung neuer Erholungsräume. „Ich habe es gewagt, über drei Hektar Kulturgrund nachzudenken“, erklärt Tappeiner. Würde man der Etsch und der Puni mehr Raum geben, ließe sich unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Schutz gegen Überflutung erreichen. Neue Naherholungsgebiete könnten entstehen. Weitere Inhalte seiner Arbeit sind die Ausnutzung der Wasserkraft aus dem Speicherbecken zwischen Glurns und Schluderns und die Sicherung der Frostberegnung. Etsch und Auen Bis Anfang des 19. Jahrhunderts hatte die Etsch noch ihre Bewegungsfreiheit. Ihre Arme schlängelten sich durch Auwälder, Sand- und Schotterfelder und Möser. Das knappe Kulturland reichte nicht, um allen eine solide Existenzgrundlage zu gewährleisten. In den Jahren 1822 und 1823 wurde zwischen Glurns und Laas die Etschregulierung vorgenommen. Der Fluss erhielt ein Korsett. Durch die Begradigung erfolgte eine Verkürzung des Flusslaufes von 16,5 auf 12,33 Kilometern. Entwässerungskanäle entstanden, Auwälder wurden gerodet. Es entstand eine künstlich geformte Landschaft mit freien Flächen für Intensivkulturen. Für die Landwirtschaft eröffneten sich neue Entwicklungsmöglichkeiten. Einige Reste der einstigen Auwälder und Feuchtgebiete sind erhalten geblieben und stehen heute unter Schutz. Die Dämme von Etsch und Puni halten jedoch das Wasser zurück und die Auen drohen auszutrocknen. Das bestätigt Maria Luise Kiem vom Landesamt für Landschaftsökologie. [F] “Tote” Gewässer [/F] Der Wasserhaushalt der Flüsse geriet in den 40er Jahren durch den Bau der Wasserkraftwerke zusätzlich aus den Fugen. Das ökologischen Gleichgewicht ist seither gestört. Ein äußerst schlechtes Zeugnis stellt der Limnologe Vito Adami dem ökologischen Zustand der Etsch sowie der Puni aus. Er klassifiziert sie als „stark beeinträchtigt“. “Die Wasserschwankungen durch den Schwallbetrieb wirken sich verheerend aus”, erklärt Adami. ”Die Flüsse haben keine Jahreszeiten mehr.” Das heißt, sie erleben eine unnatürliche Wasserzufuhr. Je nach Stromproduktion schwankt die Wassermenge. Tagtäglich erleben die Flüsse in Stundeanabständen tiefste Werte, wie es normalerweise im Winter der Fall ist und Höchstwerte wie im Sommer. “Die Lebensgemeinschaft in den Flüssen kann sich diesen Gegebenheiten nicht anpassen”, so Adami weiter. Ein weiterer negativer Effekt ist das mitgeführte Material, das die Durchlässigkeit der Flusssohlen vermindert und sich auf den Grundwasserspiegel auswirkt. Als „tot“ beschreibt er das Speicherbecken des Elektrizitätswerkes zwischen Glurns und Schluderns. Es ist ebenfalls den ständig wechselnden Schwallwasser unterworfen und mitverantwortlich für das ökologische Dilemma. Speicherbecken Die Beckenanlage (12 Hektar) bei Glurns kommt einem militärischen Sperrgebiet gleich. Rostige Rohre, Zäune und Verbotsschilder schrecken ab. Kaum jemand wagt sich hinter die Angrenzungszäune. Die Ruhe kommt allerdings den Vögeln entgegen. Seltene Arten haben zur Freude vieler Vogelbeobachter im Gestrüpp ein Rückzugsgebiet gefunden. Das Becken müsste, laut Tappeiner, seiner Funktion als Speicher weiterhin gerecht werden. Es sollte aber zugänglich gemacht werden. Hier spielt er mit der Architektur in Verbindung mit der Natur. Einen Steg lässt er schräg in Richtung Mitte verlaufen. Je nach Wasserstand wäre er länger oder kürzer. Eine runde schwimmende Insel könnte den Vögeln weiterhin die Ruhe garantieren. Den Vogelliebhabern teilt er einen Beobachtungstand zu. Was in Sachen Umgestaltung gemacht werden kann, liegt in diesem Fall in erster Linie in der Entscheidung der Kraftwerksbetreiber. [F] Hochwasserschutz [/F] Das Konzept von Tappeiner sieht vor, die Etsch und deren Umfeld zwischen Glurns und Laas neu zu gestalten. Der Fluss sollte einen Teil seines ursprünglichen Raumes zurückbekommen, um Überflutungszonen zu schaffen. Konkret erforderlich wäre die Aufweitung des Flussbettes unter Einbeziehung der alten Flussarme. Das Gebiet der „alten Etsch“ bei Laas ist größtenteils noch erhalten und im Besitz der Fraktion. Tappeiner fasst eine Versetzung der Dämme ins Auge. Sie trennen derzeit Etsch und Puni von den Au-Landschaften. Die Auen könnten wiederbelebt werden und hätten in Hochwasserzeiten wieder die Möglichkeit, Wasser aufzufangen. Wenn beispielsweise Wetterprognosen große Niederschlagsmengen voraussagen, bestünde die Möglichkeit, das Wasser des Speicherbeckes in die Schludernser Auen abzulassen, um nachfließendes Wasser aufzufangen. [F] Energie und Frostberegnung [/F] Das Revitalisierungskonzept sieht eine Regulierung des Schwallbetriebes in Etsch und Puni vor. Eine Lösung läge in der Trennung des Wassers für die Stromgewinnung einerseits und jenem der beiden Flüsse Etsch und Puni andererseits. Dabei ließen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Das Wasser des Speicherbeckens könnte in Rohrleitungen zu einem Niederdruckkraftwerk in Laas geleitet werden und der Stromproduktion dienen. Bei einer konstruktiver Zusammenarbeit zwischen den Kraftwerksbetreibern „Seledison“ und der Landwirtschaft ließe sich das Wasser gleichzeitig für die Frostberegnung nutzen. Laut Markus Joos, Geschäftsführer des Bonifizierungskonsortiums Vinschgau, steht der Landwirtschaft dafür bislang zu wenig Wasser zur Verfügung. “Wir haben nur einen Bruchteil von dem, was wir brauchen würden.” Derzeit sind aufgrund einer Wasserkonzession drei Ableitungen aus der Etsch bei Laas, Eyrs und Prad möglich. Was die Stromgewinnung in diesem Zusammenhang betrifft, ist die Wirtschaftlichkeit gegeben. Das hat Tappeiner durch den Stromexperten Georg Wunderer feststellen lassen. [F] Finanzierung und Realisierung [/F] Die Rückverwandlung der stark gestörten Naturlandschaft könnte gelingen, wenn sich die Überzeugung durchsetzt, dass Umweltschutz, Landwirtschaft, Energiewirtschaft, Wirtschaft und Tourismus gleichermaßen einen Nutzen daraus ziehen, davon ist Tappeiner überzeugt. Bei den Verantwortlichen in den zuständigen Ämtern und in politischen Kreisen ist er auf offene Ohren gestoßen. Entscheidend ist der Wille und die Bereitschaft, einer naturnahen Landschaft Raum zu geben. In erster Linie müsste das Land in Flussnähe frei gegeben werden. Möglichkeiten wären die Grundablöse oder ein Tausch mit Flächen des Flugplatzes Schluderns oder des Militärdepots bei Tschengels. Ein Teil der Finanzierung eines Gesamtprojektes ließe sich mit den 20 Millionen Euro abdecken, zu der sich die Kraftwerksbetreibergesellschaft bei der Konzessionsvergabe vertraglich verpflichtet hat. Um zu einem Schulterschluss zu kommen und längst geplante Umweltmaßnahmen in Angriff nehmen zu können, müsste nicht zuletzt ein Konsens mit der “Seledison” gefunden werden.
Magdalena Dietl Sapelza

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