Die Tragödie

Panik und Entsetzen im Vinschgau

Publiziert in 14 / 2010 - Erschienen am 14. April 2010
Latsch/Kastelbell – Zuerst schrille Bremsgeräusche, dann Rauschen und Zischen, ein dumpfer Knall und Stille, nur mehr Stille. Der Vinschgerzug R108 nach Meran stand mit dem hinteren Teil der Garnitur in der Luft; die Fahrerkabine ragte über die Böschung hinaus und drohte in die Etsch zu rutschen. von Günther Schöpf Ida Peer aus Laatsch und Maria Marsoner aus Taufers steckten bis zum Hals im eiskalten Schlamm. Um sie herum Schreie, verzweifelte Hilferufe. Ida‘s erster Ge­danke: „Vielleicht habe ich keine Beine mehr, aber ich lebe, der Kopf ist da“. Sie wollte zu ihrer Tochter nach Naturns. „Wo ist meine Tasche?“ schoss es ihr durch den Kopf. HT aus Schlanders steckte bis zur Brust im braunen Schlamm. Er spürte die Beine nicht mehr und wurde wütend, als er Menschen sah, die teilnahmslos zu­sahen, wie er sich nicht befreien konnte. Wo waren die beiden Mädchen, die ihm gegenüber an der Mittelkupplung des Zuges gesessen hatten, fragte er sich und fing verzweifelt an zu graben. Plötzlich mischte sich Blut unter den Schlamm. Entsetzt hielt er inne, in der Meinung auf einen Toten gestoßen zu sein. Jetzt erst bemerkte er seine blutenden Finger­kuppen. Er hatte nichts gespürt im eiskalten Geröll. Plötzlich waren Feuerwehrleute, Bergretter und Sanitäter um ihn herum; er ahnte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Einer Frau, die sich ebenfalls eingeklemmt neben ihm befand, gelang es an den Not-Hammer zu kommen, mit dem HT endlich die Scheibe durchschlagen konnte; ein Teil des Schlammes rutschte sofort aus dem Zug; bis zu eineinhalb Meter hoch standen Dreck und Geröll im Zug. Noch immer hilflos eingeklemmt, musste HT zusehen, wie die zwei Mädchen geborgen wurden, leblos, mit Schlamm bedeckt. Sie waren zuerst nach vorn und dann zu Boden geschleudert worden. „Sie hatten ­keine Chance“, meinte der Schlanderser im Krankenhaus. Beide waren im Schlamm erstickt. Vier Tote wurden alleine aus dem Zugabschnitt geborgen, in dem HT saß. Gegen 11 Uhr hatte der Alptraum ein Ende, HT wurde befreit. Kein Befreien mehr gab es für acht Fahr­gäste und den 25-jährigen Zugführer ­Julian Hartmann aus Meran, der als letztes ­Opfer um 13.30 Uhr aus der völlig zerstörten Fahrerkabine geborgen worden war. Um 9.03 Uhr war auch das irdische Leben des Franz Hohenegger aus ­Schlanders zu Ende. Er hatte seinen Lotsendienst gegen 8.00 Uhr beendet und wollte dann um 8.53 Uhr mit seiner Frau nach Meran fahren. Grausam war das Schicksal mit Michaela Zöschg aus Agums umgegangen. Vor 14 Tagen hatte sie ihren Vater verloren. Ihr Kind war zu früh geboren worden und wartete in der Kinderabteilung des Bozner Krankenhauses auf die Milch ihrer Mutter. Jeden Tag musste Michaela nach Bozen fahren. Am Montag, 12. April endete ihre Fahrt um 9.03 Uhr unter einer Schlammlawine in der Etschschlucht zwischen Latsch und Kastelbell. Nie mehr den Vinschgerzug besteigen werden auch Regina Tscholl, 73, aus Laas, Rosina Ofner, 36, aus Taufers, Judith Tappeiner, 20, aus Schlanders, Franz Rieger, 67, aus Kastelbell, Elisabeth Peer, 22, aus Tartsch, und die 18-jährige ­Michaela Kuenz Oberhofer aus Martell. Einen Fahrgast hatte die Gewalt der Mure so unter einen Sessel gedrückt, dass sein Mund frei geblieben war. Es war eines der glücklichen Momente für die Retter, als sich der angebliche Tote wieder regte. Inzwischen hatte sich die „Latschonder“, so wird die Etschschlucht zwischen Latsch und Kastelbell genannt, mit Rettungs­wagen, Feuerwehrautos, Polizei und Neugierigen, mit Sendewagen der Fernsehr­anstalten und Behördenfahrzeugen gefüllt. Hubschrauber kreisten über der Unglücksstelle; Feuerwehrleute hasteten hin und her. Stahlseile wurden gebraucht, dann wieder Decken oder Kissen. Von der Unglücksstelle hörte man Warnschreie. Der von zwei mächtigen Föhren blockierte Zug musste gesichert und stabilisiert werden. Aus der Geröllstelle darüber lösten sich Gesteinsbrocken. Immer energischer mussten Polizei, Carabinieri und Finanzer den Zugang zur Unfallstelle kontrollieren und abriegeln. Heftige Wortwechsel gab es vor allem mit Journalisten und Kameraleuten. Im Gegensatz dazu ging die Koordina­tion der Feuerwehrleute und der Helfer des Rettungsdienstes Weißes Kreuz unter der Zuständigkeit von Egon Eberhöfer sehr bedacht und ruhig vor sich. Später werden der sichtlich betroffene Landesrat Richard Theiner und Einsatzleiter Franz ­Tappeiner auf den Umstand hinweisen, dass – ­einer von drei glücklicheren Umständen in ­dieser größten Eisenbahnkatastrophe Süd­tirols – im Mai 2006 an fast derselben Stelle die Evakuierung des Vinschgerzuges wegen einer Steinlawine simuliert worden war. Ein zweiter günstiger Umstand bestand darin, dass es seit kurzem den Radweg durch die Latschonder gibt, und der dritte in der Tatsache, dass unweit von der Unglücksstelle eine wackelige Hängebrück von einer soliden Holzbrücke ersetzt worden war. Landeshauptmann Luis ­Durnwalder, oberster Zivilschützer in Südtirol, Verkehrslandesrat Thomas ­Widmann, Landesgeologe ­Ludwig Nössing, der technische Direktor des Vinschgerzuges Helmut Moroder, ja sogar Verkehrsminister Alerte Matteoli wiederholten es bei der Pressekonferenz im Rathaus von Kastelbell mehrmals: hier kam es zu einer ungeheuren Verquickung von unglücklichen Umständen. ­Moroder bewies, dass der Zug in dem Augenblick die Stelle passierte, als der Hang zu Tal rutschte. Ein vollautomatisches Sicherheitssystem hätte verhindert, dass die Zuggarnitur auf ein bereits vermurtes Gleisstück aufgefahren wäre. Die Bootstruppe der Feuerwehr Kastelbell und die Taucher der Berufsfeuerwehr Bozen stießen im Etschbett auf Felsblöcke von bis zu 500 Kilogramm Gewicht, die zuerst den Steinschlagzaun niedergebogen, danach Türen und Fenster des vorderen Abteils durchschlagen und durch die verbogenen und von Geröllmassen bedeckten Drahtseile dem nachfolgenden Schlamm eine Art Schussbahn gebildet hatten. Dadurch wurde das Zuginnere in Sekunden vom Schlamm gefüllt. Als leitender Primar der Landesnotrufzentrale berichtete Manfred Brandstätter von den zwei mustergültig angelegten Sammelplätzen, einer im Osten gegen Kastelbell, der andere im Westen bei Latsch. 18 Rettungs­transporte waren im Einsatz, etwa 150 Kräfte des Weißen Kreuzes, der Feuerwehr und des Zivilschutzes, dazu an die 20 Helfer der Notfallgruppe. Landes­hauptmann Durnwalder lobte die Zusammenarbeit mit Polizei, Carabinieri und Finanzwache. 21 Leicht- und sieben Schwerverletzten wurden zum Teil per Hubschrauber - im Einsatz standen ­Pelikan 1 und 2 - in die Krankenhäuser von Brixen (1 Person), Bozen (3 Personen), Meran (13 Personen) und Schlanders (8 ­Personen) ausgeflogen. Unter den Geretteten befand sich auch der 84-jährige ­Direktor im Ruhestand, Paul Thöni aus Mals, der sich an seine Kriegszeiten erinnerte, und die ­Schlanderser Gemeinderätin ­Angelika Meister. Auch der Vinschger Bezirks­obmann und Grauner Gemeinderat Theo Noggler wurde verletzt. Eine endgültige Bilanz konnte Landeshauptmann Luis Durnwalder erst am Ende der Pressekonferenz im Beisein des Direktors der Italienischen Eisenbahnen Mauro Moretti und des Regierungskommissars Fulvio Testi aufgrund der Rückmeldungen von Angehörigen ziehen. Zuvor war befürchtet worden, unter dem vermurten Zugabteil könnten sich weitere Opfer befinden. Bereits am frühen Abend war ein Baggerunternehmen dabei, eine Behelfszufahrt über die Etsch zu schaffen, um schweres Gerät an den verunglückten Zug heranzubringen. Der Zug war von Staatsanwalt Guido Rispoli inspiziert und für weitere Ermittlungen sequestriert worden. Über die Ursachen der Katastrophe konnte nur spekuliert werden. Die Geologen Ludwig­ Nössing und Volkmar Mair hatten als Fakten festgestellt: Wasser hat den Hang von oben, von darüber liegenden, bewirtschafteten Flächen aufgeweicht und das Erdreich zum Rutschen gebracht. Die Rede war von einer geplatzten Beregnungsleitung. Wie bei Redaktionsschluss zu erfahren war, hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen 6 Personen des Bonifizierungskonsortiums Vinschgau und zwei Grundeigentümer aufgenommen. „Es geht aber nicht darum, sie jetzt schon zu Schuldigen zu erklären“, wird Staatsanwalt Guido Rispoli in einem STOL-Interview zitiert.
Günther Schöpf
Günther Schöpf

Diese Seite verwendet Cookies für funktionale und analytische Zwecke. Lesen Sie unsere Cookie-Richtlinien für weitere Informationen. Durch die Nutzung dieser Website erklären Sie sich damit einverstanden.