12. April 2010 – der Tag, seit dem alles anders ist
Publiziert in 13 / 2011 - Erschienen am 6. April 2011
Latsch/Kastelbell – Beobachter aus vielen Ländern, Menschen, die nie in Südtirol waren und nie etwas vom Vinschgau gehört hatten, spürten es sofort: hier war ein Weltbild zerstört worden. Es war zu lesen, zu hören und zu sehen: „Das Paradies hat sich in eine Hölle verwandelt“. Die neun Toten und 28 Verletzten waren mehr als die schreckliche Bilanz eines Zugunglücks. Sie waren das Ende eines Zustandes, in dem sich die Bewohner eines gesegneten Landes sicher wähnten, in dem Unglücke nicht vorgesehen waren. An jenem 12. April 2010 hat das Paradies einen Riss bekommen. Südtirol hat sich auf schreckliche Weise davon überzeugen müssen, dass es absolute Sicherheit nicht gibt. Die Vinschgerbahn, das Sicherste, das Beste, das diese Provinz vorzuweisen hatte, war zur Todesfalle geworden. Der 12. April war aber auch eine Sternstunde der Solidarität und Hilfsbereitschaft und hat zu einer neuen Einschätzung und Einordnung der Rettungsorganisationen in diesem Land geführt.
von Günther Schöpf
„Sie wird uns immer fehlen“
„Mit der Frühstückssemmel in der Hand ist sie zu mir gekommen und wollte wissen, ob sie in Meran wohl den Anschlusszug erreichen kann. Das ist meine letzte Erinnerung an unsere Michaela.“ Martina Holzknecht Kuenz, 78, kämpfte mit den Tränen. Sie habe sich an dem Montag gefragt, warum fährt sie denn so früh, sie hat doch erst um 14.30 Uhr die Fahrprüfung. Es ist ihre letzte Erinnerung an die Enkelin, die am 12. April kurz vor 9 Uhr mit vielen Zukunftsplänen in Goldrain den Vinschgerzug bestieg und am übernächsten Tag im Sarg zum Heimathof in Martell zurück gebracht wurde. Nie mehr kann Michaela Mama, Tata oder Oma am Heggenhof zur Hand gehen, nie mehr kann sie mit ihrer älteren Schwester Claudia diskutieren, nie mehr mit Bruder Simon herumtollen. Zu Tränen gerührt sagte die Oma: „Sie hat überall mitgearbeitet. Sie fehlt jetzt. Sie wird uns immer fehlen.“ Etwas gefasster erzählte sie, wie sie an jenem Tag von ihrer Tochter Annelies angerufen worden war, die wissen wollte, ob sie die Sirenen gehört habe und die ihr sagte, sie habe plötzlich starke Magenschmerzen. Vater Leo habe seine Arbeit an einer Ackermauer verlassen und sich im Dorf bei einem Feuerwehrmann informiert. Als der meinte, dass es nicht gut stehe, dass sie Leichensäcke gebracht hätten, sei Leo gewesen, als habe man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Trotzdem sei er an die Unglücksstelle gefahren, sei rastlos auf und ab gegangen und habe gebetet. Als er sich bei einem Polizeiposten erkundigen wollte, versuchte der ihn abzuwimmeln, meinte aber, dass keine Michaela Kuenz unter den Verletzten sei. Da habe er Schreckliches geahnt. Erst um die Mittagszeit hatte Mama Mechthild vom Unglück erfahren. Zusammen mit Schwägerin Brigitte fuhr sie zu ihrem Mann. Um 17 Uhr mussten sie in Schlanders die schreckliche Gewissheit bestätigen. Mit Tränen in den Augen sprach Oma Martina einen Wunsch aus: „Ich möchte so gern einmal mit dem Mitschüler reden, der Michaela als Letzter gesehen und mit ihr gesprochen hat. Ich weiß aber nicht, wo er zu Hause ist, wahrscheinlich am Naturnser Sonnenberg.“
„Muss ich allen
meine ärztlichen Zeugnisse zeigen?“
Walter Müller aus Göflan gehört zu jenen, die beim Eisenbahnunglück am schwersten verletzt wurden. Er zog sich einen schweren Unterschenkelbruch zu, Knieverletzungen, Rippenbrüche und weitere Verletzungen. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im Brixner Krankenhaus folgten physische und psychologische Therapien. Mehrere Wochen lang konnte er sich nur im Rollstuhl fortbewegen, die Krücken braucht er noch immer. „Die Bilder des Unglücks kehren immer wieder zurück, nachts habe ich Alpträume,“ sagt Walter Müller. Psychologisch betreut wird er in Meran: „Es kam schon öfters vor, dass ich während der Bahnfahrt dorthin mehrmals aussteigen musste. Es genügt schon ein kleines Bremsmanöver des Zugs und mein Herz beginnt wie wild zu schlagen. Erst wenn ich mich wieder beruhigt habe, kann ich weiterfahren.“ Wie tief das Erlebte sitzt, beweist auch der Umstand, dass Walter Müller fast nie mehr den Fernseher einschaltet: „Ich kann Bilder von Katastrophen, wie sie in Japan passiert sind und anderswo geschehen, nicht mehr sehen.“
Was Walter Müller am meisten weh tut, sind aber Sprüche und Aussagen, mit denen er oft, ja fast täglich, konfrontiert wird: „Mir wurde zum Beispiel schon gesagt: ‚Jetzt bist du steinreich, gib doch eine Runde aus!’ oder ‚Wirf doch diese Krücken weg, du brauchst sie ja nicht!’“ Solche Anspielungen gehen sehr tief. „Muss ich denn wirklich allen meine ärztlichen Zeugnisse zeigen?“, fragt Walter. Bei so einem Gerede „kann man ja nicht gesund werden.“ Was die Entschädigungen betrifft, hofft Walter, „dass das, was versprochen wurde, auch eingehalten wird, dass die ganze Sache möglichst bald über die Bühne geht und dass auch wir als Verletzte entschädigt werden. Bis heute (31. März 2011, Anm. d. R.) habe ich weder von einer Versicherung noch vom Staat auch nur einen Cent bekommen.“ Zu hoffen bleibe auch, dass jene Politiker, die versprochen haben, auf die Versicherungen Druck auszuüben, zu ihren Worten stehen. (sepp)
„Psychisch fühle ich mich schlecht“
Walter Di Lenardo aus Schlanders zog sich beim Eisenbahnunglück zwar keine schwereren Körperverletzungen zu, doch mental hat ihm das Unglück stark zugesetzt. „Ich werde seit dem 12. April 2010 bis jetzt fast ununterbrochen psychologisch betreut. Auch Antidepressiva musste ich schlucken. Das hatte ich bis dahin nie getan.“ Gut getan habe ihm ein rund zweimonatiger Aufenthalt im Therapiezentrum Bad Bachgart. Auch Walter Di Lenardo tut sich schwer, die Bilder und Eindrücke der Tragödie aus dem Kopf zu verbannen: „Diese Bilder kommen wieder und wieder, oft auch im Traum.“ Psychisch fühle er sich auch ein Jahr nach dem Unglück noch schlecht: „Immer wieder steigen in mir Ängste hoch.“ Zumal er kein Auto besitzt, ist Walter Di Lenardo auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen: „Wenn ich in Begleitung im Zug sitze, geht es einigermaßen. Bin ich aber allein, kann es schwierig werden. Es kam schon vor, dass ich ausgestiegen bin und einen Freund angerufen habe, damit er mich mit dem Auto abholt.“ (sepp)
Das Wunder in der Latschander
Eine Italienische Tageszeitung titelte am 17. April 2010 „Ich, begraben unter einer Leiche“. Im Untertitel wurde angekündigt „Es redet der Junge, der nach drei Stunden aus der Schlammhölle gerettet wurde“. In deutschsprachigen Zeitungen wurde seine Rettung als Wunder bezeichnet. Das Wunder heißt Benjamin Stocker aus Taufers im Münstertal, ist 1,90 Meter groß und schien die Gesundheit in Person, wäre da nicht der Gipsverband am linken Fuß. „Es war die fünfte Operation nach dem 12. April und hoffentlich ist es die letzte.“ Benjamin hatte keine Hemmungen, über die schrecklichen Ereignisse in der Latschander-Schlucht zu reden. „Ich habe das Unglück ziemlich schnell verarbeitet“, antwortete er locker. „Hab auch nie schlecht geträumt.“
Der Gewerbeoberschüler hatte am Montagmorgen, 12. April, nicht den „Siebener-Zug“ genommen, um von Mals nach Bozen zu fahren. Er wollte den Tag langsam angehen, schließlich hatte er am Samstag die „Gala Medici“ überstanden und auch die Nacht danach war kurz ausgefallen. So nahm er den Zug einige Minuten vor 8.30 Uhr. „Kaum hatte ich mich hinter der Fahrerkabine hingesetzt, bin ich wahrscheinlich auch schon eingeschlafen“. Ein furchtbarer Knall habe ihn geweckt. „Alles war finster und totenstill. Da hörte ich Wasser plätschern. Mir ist eingefallen, dass schon einmal ein Auto mit dem Vinschgerzug zusammen gestoßen ist. Ich war überzeugt, dass wieder ein Auto auf den Zug aufgefahren sein muss und dass jetzt das Kühlwasser ausläuft. Dann waren da Stimmen. Ich hörte um Hilfe rufen. Dazwischen Sirenen. Jetzt merkte ich auch, dass ich nach vorn gedrückt war und mich nicht bewegen konnte. Mein Brustkorb wurde auf meinen rechten Oberschenkel gepresst, das Bein schmerzte, weil alles überdehnt war, vom linken spürte ich nichts. Es dauerte unendlich lange, bis man mich fand. Als ich mich aufrichten konnte, merkte ich, dass jemand neben mir war. Die Feuerwehrmänner deckten mich mit einer Jacke ab; wahrscheinlich sollte ich den Toten neben mir nicht sehen. Dabei war mir so heiß und einen Riesendurst hatte ich auch. Schließlich kamen sie mit Bergescheren. Sie wollten wissen, wie mein linkes Bein im Schlamm liege. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der Oberschenkel in eine und der Unterschenkel in eine andere Richtung schauten. Gespürt habe ich nichts.“ Später wird man Benjamin erzählen, dass sämtliche Blutgefäße im linken Bein abgeklemmt waren. Nach seiner Einlieferung mit dem Hubschrauber begannen die Ärzte in Bozen mit der Rekonstruktion der Gefäße. Wo sich normalerweise ein Knie befindet, wurden Ober- und Unterschenkelknochen mit Schrauben fixiert. Nach drei Wochen waren die ersten Hauttransplantationen fällig. Es folgten 10 Genesungstage zu Hause. Dann war wieder das linke Knie dran. Die zwei Kreuzbänder wurden neu eingesetzt, die Außen- und Seitenbänder gestrafft. Doch im Laufe der nächsten Monate sollten Beschwerden auftreten. Schmerzen beim Auftreten erzwangen eine weitere Operation am 5. März. Der Hüfte wurde ein Stück Knochen entnommen und am Fuß eingesetzt. Benjamin erzählte es, als habe man ihm ein Pflaster aufgelegt. Geschickt erhob er sich, humpelte zum Wohnzimmerschrank und holte einen Stapel Zeitungen.
Auf einer Titelseite war die über die Böschung kragende Zuggarnitur zu sehen, am Fenster Benjamin Stocker, dessen Oberkörper eben befreit worden war. „Todesmure im Vinschgau. Zug entgleist – Neun Tote“ stand in großen Lettern darüber. Dazu erzählte der junge Konstrukteur der Firma HOPPE von der Verzweiflung seiner Eltern und seiner Freundin, die über Stunden nicht wussten, ob er das Unglück überlebt hatte. (s)
„Es wurden alle Hebel
in Bewegung gesetzt“
„Der Vinschger“: Herr Landesrat Thomas Widmann, wie sieht es derzeit aus mit den Entschädigungen an die Hinterbliebenen der Opfer und an die Verletzten des Zugunglücks? Unmittelbar nach der Katastrophe hat das Land ja über die Caritas 100.000 Euro zur Verfügung gestellt. Wochen später war die Polemik medial schon im Gang. Zwei besonders hart getroffene Parteien hatten vorgegeben, keine Gelder bekommen zu haben. Ist dies jetzt alles geregelt?
Thomas Widmann: Die finanzielle Entschädigung bei einer Katastrophe dieses Ausmaßes beansprucht normalerweise eine lange Zeit. Für die Hinterbliebenen der Opfer des Vinschger Zugunglückes wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit die Auszahlung so rasch wie möglich erfolgen kann. Das ist gelungen. Vor kurzem, also 10 Monate nach dem Unglück, konnten die Hinterbliebenen allesamt finanziell entschädigt werden. Die Abwicklung der Entschädigung im Falle des Lokführers läuft über eine andere Schiene. Ein nächster Schritt ist jetzt die finanzielle Entschädigung der Verletzten.
Ich möchte aber eines betonen: Eine finanzielle Entschädigung trägt für die Hinterbliebenen vielleicht dazu bei, einen Weg zu finden, damit der Alltag weiter geht. Niemals aber kann damit das Leid in den betroffenen Familien wettgemacht werden. Ein solcher unfassbarer Schicksalsschlag wirft Schatten, die die Betroffenen, aber auch uns alle, wohl ein Leben lang verfolgen.
Liegt Ihnen ein endgültiger Bericht über die Ursachen der Hangrutschung bereits vor?
Thomas Widmann: Aus den bisherigen Berichten der Gutachter geht hervor, dass Wasseraustritt aufgrund der defekten Beregnungsleitung bzw. aufgrund eines defekten Schließmechanismus’ die Ursache für die Hangrutschung war.
Und schließlich kurz und direkt: weiß man inzwischen, von wem sich die Versicherungen das Geld holen werden?
Thomas Widmann: Diese weiteren finanziellen Angelegenheiten werden auf versicherungstechnischer und auf juridischer Ebene geklärt werden. Wichtig ist, dass die betroffenen Familien inzwischen eine Entschädigung erhalten haben. Es ist verständlich, dass geschaut wird, ob es für das Unglück weitere Verantwortliche geben könnte. Das tragische Unglück aber zeigt, dass man trotz aller Bemühungen, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen dem Schicksal letztendlich machtlos gegenüber steht, wenn unglückliche Umstände zusammentreffen.
Der Bezirk wartet und überlegt
Auf die Frage, ob er schon Anweisungen oder Kriterien zur Verteilung von Entschädigungsgeldern bekommen habe, verneinte Bezirkspräsident Andreas Tappeiner. Wann die vom Parlamentarier Karl Zeller angekündigten Gelder fließen werden, könne er nichts sagen. „Sicher werden wir uns an die Richtlinien halten müssen, die beim Zugunglück am 30. Juni 2009 in Viareggio auch angewandt worden sind“, sagte Tappeiner.
„Viele Wunden
werden wohl niemals verheilen“
„Wir können aber den Opfern ein würdiges Denkmal errichten“, sagte Landesrat Richard Theiner, der sich zusammen mit Silvia Moser (Caritas) und Bezirkspräsident Andreas Tappeiner eingesetzt hatte, am Jahrestag des Unglücks in einer schlichten Feier der Opfer des Zugunglücks zu gedenken. Auf Vorschlag von Geometer Werner Stecher (Straßendienst West) wurde gegenüber der Unglücksstelle ein Platz zwischen Radweg und Etsch gefunden und in kürzester Zeit für die Gedenkfeier am 12. April, um 9 Uhr vorbereitet. Darauf soll eine Marmor-Stele enthüllt und gesegnet werden. Die Segnung, zu der nicht nur Angehörige und Verletzte eingeladen sind, wird vom Notfallpsychologen, Caritas-Mitarbeiter und Seelsorger Gottfried Ugolini vorgenommen.