Sie hoffen, dass es in Europa besser ist
Irmgard Ladurner liebt die Wüste.

„Ab und zu in den Schuhen der anderen laufen“

Publiziert in 9 / 2011 - Erschienen am 9. März 2011
Errachidia/Marokko – Seit dem 1. Februar 2009 lebt die gebürtige ­Goldrainerin Irmgard Ladurner, früher langjährige Leiterin des Sozialsprengels Mittelvinschgau und später Direktorin des Alten- und Pflegeheims in Latsch, in Marokko. Sie führt zusammen mit ihrem Mann ­Brahim ­Souag am Rand der Stadt Errachidia eine Herberge mit 15 Zimmern und einem Restaurant. Errachidia liegt im Südosten Marokkos, nicht unweit der Grenze zu ­Algerien. „Der Vinschger“ sprach mit Irmgard Ladurner über die derzeitigen ­Unruhen und Aufstände in Nordafrika. Sie leben seit zwei Jahren in ­Errachidia. Warum gehen die Menschen in mehreren Ländern Nord­afrikas bzw. in weiten Teilen der arabischen Welt auf die Straßen, jüngsthin auch in Marokko? Irmgard Ladurner: Für mehr Mitspracherecht, Meinungsfreiheit und die Lösung sozialer Probleme, wobei die Schwerpunkte in den einzelnen Ländern verschieden sind. In allen Ländern gibt es große Armut, ein großes Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich, hohe Arbeitslosigkeit, gerade auch unter Akademikern, und Korruption. In Ägypten, Tunesien und besonders in Libyen waren bzw. sind zudem seit Jahrzehnten Regime an der Macht, die jegliche Opposition mundtot gemacht haben und die ihre Bürger weit ins Privatleben hinein kontrollieren. Was ist es, was die Demonstranten wollen? Irmgard Ladurner: Arbeit, gerechten Lohn, mehr Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit ganz allgemein.     Gibt es auch in Marokko Korruption, Misswirtschaft, Ausbeute und politische Tyrannei? Irmgard Ladurner: In Marokko gibt es Korruption wie in allen anderen Staaten, aber es bestehen auch Vereinigungen gegen die Korruption, die Kampagnen durchführen, um die Bürger aufzuklären und es werden auch gerichtliche Schritte bei Nachweis unternommen. Erst heute (25. Februar 2011, Anm. der Redaktion) stand in der Zeitung geschrieben, der dass ein hoher Funktionär deshalb verurteilt wurde. Weitere Probleme sind die hohe Arbeitslosigkeit, gerade auch unter den jungen Akademikern und die Armut in weiten Bevölkerungskreisen. Gibt es Unterschiede zwischen der Bevölkerung in den Städten und auf dem Land? Irmgard Ladurner: Die Diskrepanz zwischen dem fortschrittlichen Marokko in den Ballungszentren, wo die aufgeklärten Bürger mehr Teilhabe und gerechte ­Löhne fordern - jede Entwicklung bedeutet auch mehr Bedürfnisse und damit einen höheren finanziellen Bedarf - und dem traditionellen Marokko auf dem Land ist eine große Herausforderung. Auf dem Land beträgt die Analphabetenrate bis zu 80% und die Informationen, gerade über die Reformen der letzten Jahre, wie zum Beispiel über das neue Familiengesetz, sind noch gar nicht angekommen. Die Folge der geringen Möglichkeiten auf dem Lande ist auch eine hohe Landflucht, die zum Anwachsen der Bidonvilles (Armenviertel) in den Städten führt. In sozial schwierigen Vierteln gärt es natürlich und dort besteht auch die Gefahr, dass Demonstrationen in Gewalt umschlagen. ­Diese Viertel sind auch eine Fundgrube für die Islamisten. Wie steht es mit der Demokratie? Irmgard Ladurner: Politisch gesehen gibt es in Marokko seit der Thronbesteigung Mohammed VI. viele Bestrebungen hin zur Demokratie: Wahlen, bei denen nicht immer die selbe Partei gewinnt, Streikrecht, Versammlungsrecht, Zulassung von auch kritischen Vereinigungen, eine öffentliche Diskussion über die „politischen Häftlinge während der Regierung von Hassan II.“, Schließung der betroffenen Gefängnisse, Modernisierung des Familienrechts, wobei gerade die Frauen mehr Rechte erhielten. Die Stiftung ­Mohammed VI. ist gerade im Sozial­-­ und Umweltbereich tätig. Doch muss auch der König immer wieder den Spagat machen zwischen Traditionalisten, streng reli­giösen und fortschrittlichen Kräften. Welche Rolle spielt die Verquickung zwischen Religion und Staat? Irmgard Ladurner: Im Islam spielt die Religion eine große Rolle, weil sie auch das tägliche Miteinander regelt. In ­Marokko ist der König religiöses und staatliches Oberhaupt. Kann es sein, dass islamische Radikalisten an die Macht kommen? Irmgard Ladurner: In Marokko - so wie sich die Situation in den letzten Jahren entwickelt hat und sich heute darstellt - nicht. Warum wollen so viele Menschen weg von Zuhause? Irmgard Ladurner: Die meisten aus wirtschaftlichen Gründen, und weil sie hoffen, dass es in Europa besser ist, dass sie dort mehr Möglichkeiten haben. Warum haben Sie den umgekehrten Weg gewählt, und sind von Südtirol nach Marokko gezogen? Irmgard Ladurner: Weil ich dieses Land trotz aller Widersprüche liebe und weil das gemeinsame Leben mit meinem Mann hier eindeutig leichter ist als in Südtirol.   Haben Sie nie Heimweh? Irmgard Ladurner: Nein. Weiß man in Marokko, in welche Skandale Ministerpräsident Silvio Berlusconi verwickelt ist? Irmgard Ladurner: Klar, wir haben ja Zugang zu allen Medien uns sind bestens informiert. Solche Auswüchse sind natürlich keine Werbung für Demokratie. Wirken sich die Unruhen auch auf den Tourismus aus? Ist auch Ihre Pension davon betroffen? Irmgard Ladurner: Zurzeit nicht, weil das Gros der Touristen der bisherigen Stabilität vertraut. Es werden immer öfter Vergleiche mit dem Fall der Berliner Mauer und den jetzigen Umwälzungen in Nordafrika angestellt. Sehen auch Sie Parallelen? Irmgard Ladurner: Ich würde hier noch abwarten, was in den kommenden Monaten in Tunesien und Ägypten geschieht, denn es sind nicht nur Regime zu stürzen, sondern ganze Systeme zu ändern, die bis in die alltäglichen Handlungen hineinwirken und das ist ein langer Prozess. Zudem besteht in allen Ländern die Diskrepanz zwischen Tradition und Fortschritt, das bedeutet ein Nebeneinander zwischen ­biblischen Zeiten (Nomadendasein), Feudalsystem oder dessen Überreste und Postmoderne. Hat echte Demokratie in den derzeitigen Unruhe-Ländern eine wirkliche Chance? Irmgard Ladurner: Es braucht sicher eine Periode des Übergangs. Was halten Sie von Libyens Machthaber Muammar al Gaddafi? Irmgard Ladurner: Nicht nur ich, sondern wir alle hier halten ihn für verrückt und gerade deshalb gemeingefährlich: Ein Staatsmann, der Söldner anheuert, um auf das Volk zu schießen (es gibt bereits viele Tote), der schon in den 90er Jahren über 1.000 Oppositionelle im Gefängnis umbringen ließ, der droht das Land in Brand zu setzen. Soll sich Europa aktiv einmischen, etwa mit Friedenstruppen? Irmgard Ladurner: Das kann ich nicht beantworten: Die Taten Gadaffis sollen klar verurteilt und die Libyer gefragt werden, was für Hilfe sie brauchen. Ich vermute aber, dass sich Europa und die USA dann einmischen, wenn ihre Interessen gefährdet sind (Öl und Gas), das haben die Sonntagsreden der Politiker während der Unruhen in Tunesien und Ägypten ganz klar gezeigt. Was wünschen Sie uns Europäern und was den Menschen, unter denen Sie seit zwei Jahren leben? Irmgard Ladurner: Ab und zu in den Schuhen der anderen zu laufen.
Josef Laner
Josef Laner

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