Alexander Gardetto: Aus der Handelsschule zum Chirurgen
Chirurgenhände

Alexander Gardetto: „Was ich anpacke, bringe ich zu Ende“

Publiziert in 18 / 2009 - Erschienen am 13. Mai 2009
Zwei schwere Unfälle führten im Leben von Alexander ­Gardetto Regie. 4. Januar 1988, neun Uhr: Die Gondel der Ifingerbahn war proppenvoll mit skihungrigen Touristen und jungen Skirennläufern aus dem Landeskader, alle wollten auf Meran 2000 ihre Schwünge perfektionieren. Die Kabine bewegte sich, die Tür jedoch war nicht vollständig verriegelt. Mehrere Personen stürzten aus der Kabine, schlugen hart auf dem Betonboden auf. Diagnose für Alexander Gardetto: zwei gebrochene Hände, Beine und Wirbel mit Lähmungserscheinungen. Sechs Monate Gipskorsett, ebenso lange Rehabilitation. Ein Wunder, dass er gesundet. Aus der Traum vom Skirennläufer, vom Skilehrer. Aber nicht für Alexander. Er rappelte sich hoch, lernt wieder gehen, fährt Ski und bestreitet Rennen. Und neuerlich schlägt das Schicksal zu: Er stürzt bei der Italienmeisterschaft, schlägt mit dem Hinterkopf unglücklich auf, liegt bewusstlos zwischen den Torstangen. Nur ein herangeeilter Arzt rettet ihn vor dem Erstickungstod. Das Glück nun zur Genüge strapaziert, packt er seine Rennskier in eine Ecke, endgültig. von Andrea Kuntner Amputierte Gliedmaßen, Verbrennungen, Tumore, angeborene Fehlbildungen und vieles mehr. Das Gebiet der Plastischen Chirurgie ist groß­flächig und seit Jahren das Arbeitsfeld des Universitäts-Dozenten Dr. univ. med. Alexander Gardetto. Als international anerkannter Arzt und Wissenschaftler erhielt er Publikationspreise und wird in amerikanischen Fachbüchern wegen der von ihm „entdeckten“ Operationstechnik zitiert. Dabei geht es um einen Hautlappen, der über ein ganz bestimmtes Gefäß gestielt wird. Damit können kleinere bis mittelgroße Wunddefekte an der Nase oder im Mundbereich verschlossen werden. Der Weg bis zu diesem beruflichen Erfolg aber war lang und steinig. Alexander ist groß, schlank, ja schlaksig, auf den ersten Blick ist sein Alter schwer einzu­schätzen. Erst die Silbersträhnen im schwarzen Kurzhaar und die rahmenlose runde Brille nehmen ihm etwas von seiner Jugendlichkeit. Seine braunen Augen mustern aufmerksam sein Gegenüber, er nimmt und lässt sich Zeit. Aufgewachsen im Martelltal, wo sein Vater als ­Carabiniere stationiert war, legte er 1991 seine Maturaprüfung als Rechnungsanalytiker an der Lehranstalt für kaufmännische Berufe, kurz KLA, in ­Schlanders ab. Das Diplom endlich in Händen, hielt ihn nichts mehr im Vinschgau. Im Herzen der Wunsch Medizin zu studieren, Chirurg zu werden, machte er sich auf nach Innsbruck. Allen Unkenrufen seiner Lehrer zum Trotz - „du bist in drei Monaten wieder da“ - aber gerade deshalb umso motivierter, wie er heute lachend eingesteht. „KLA“? Ist das überhaupt ein Matura führender Abschluss, fragte man ihn bei der Inskription. Sein inoffizieller Auf­nahmetest war das Bestehen des Knochenkolloquiums, und er bestand dieses mit Bravour. Ob er es bereue, die Handelsschule besucht zu haben? „Nein, nur die Defizite in Chemie, Biologie und Physik haben mir am Beginn des Studiums zu schaffen gemacht. In einer Vorlesung verwendete der Professor immerfort die Abkürzung H2O und ich fragte irgendwann meinen Sitznachbarn, was denn diese Abkürzung bedeute“, erinnert sich Alexander schmunzelnd. Nach dem Motto „Was ich anfange, das mache ich auch fertig“, vergrub er sich hinter dicken Wälzern, büffelte Tag und Nacht, schloss seine Wissens­lücken. Entspannt kippt er seinen Stuhl nach hinten. Seine Hände ruhen auf oder wandern über den Tisch. Seine Finger, Chirurgenfinger, unbehaart, lang, schlank, denen man präzise Schnitte, gezieltes Vorgehen und narbenloses Nähen zutraut. Konzentrierte Bewegungen, nun auch am Tisch, immer im Rhythmus des Gesprächs und im Einklang mit den überlegt formulierten Antworten. Meist im Dialekt, wechselt er doch oftmals in die Umgangssprache um sich prä­zise und klar auszudrücken. Unbewusste Anpassung. Obwohl er selbstbewusst betont, dass er sich auch in Innsbruck seinen Dialekt nicht abgewöhnen ließ, trotz dass die Ärztekollegen seinen Ausführungen nicht immer folgen konnten. In fünfeinhalb Jahren absolvierte er das mit sechs Jahren Mindeststudiendauer veranschlagte Medizinstudium. Noch vor Abschluss leistete er ein zweiwöchiges Praktikum an der Plastischen Chirurgie ab. Das war interessantes Neuland, auf dem er sich seine berufliche Zukunft vorstellen konnte. Aber die Ausbildungsplätze sind rar, Beziehungen müsste man haben. Die hat Alexander nicht. Er arbeitete zunächst an der Allgemeinchirurgie, an der Herzchirurgie und an der Transplantationschirurgie in Innsbruck und verließ dann Österreich, um im größten Zentrum für Transplantationschirurgie von Europa, in Essen, weiter zu arbeiten. Seine zwei Mentoren, Prof. Raimund Margreiter und Prof. Alfred Königsrainer, schickten ihn dort hin. Dann aber reichte es ihm. Er besinnt sich auf seinen eigentlichen Berufswunsch, setzt alles was er zu bieten hat auf ein Ziel: Einen Ausbildungsplatz an der Plastischen Chirurgie in Innsbruck zu bekommen. Er kündigt in Deutschland, kehrt nach Innsbruck zurück und arbeitet Monate lang gratis auf der Abteilung. Das heißt stundenlang durcharbeiten, dazwischen ein ­Nickerchen und immer der Letzte zu sein, der die Abteilung verlässt. Nach zwei Tagen geistert ein „Zombie“ durch die Flure. Die Unsicherheit bleibt, trotz des hohen Einsatzes. Kann er mit seinem Engagement überzeugen? Bekommt er wie nach seinem Unfall und bei seiner Inskription nun eine weitere zukunftsweisende Chance? Auch das Privatleben leidet, er denkt nur noch an Arbeit, Schlaf und am Wochenende ans Geldverdienen. Finanziell hält er sich als Notarzt in Sterzing über Wasser. Einen „Nebenjob“, den er bis heute ausübt. Er riskiert alles und gewinnt. Endlich! Nach neun Monaten wird ihm ein Ausbildungsplatz auf der Plastischen Chirurgie zugewiesen. Der Ehrgeiz hat sich gelohnt, aber auch seine Opfer gekostet. Für ihn waren die vielen investierten Stunden kein wirkliches Opfer. Jedoch für seine langjährige Beziehung, die scheitert. Er ist an seinem beruflichen Ziel angelangt, kann Menschen helfen, die angeborene oder durch Unfälle verursachte Entstellungen haben. „Das Tolle ist, dass es keine Standardchirurgie ist, jeder Patient ist individuell, besonders.“ Das Herz seiner Arbeit liegt im zufriedenen Lächeln eines Patienten, und natürlich in der eigenen Zufriedenheit. „Wenn ich nicht zufrieden bin, dann sage ich es auch dem Patienten“, gesteht Alexander offen ein. Eine Offenheit, die ihm nicht nur Freunde schafft. Aber für ihn steht der Mensch im Fokus und deshalb sieht er seinen Platz auch nicht in der als oberflächlich verschrieenen Schönheitschirurgie, einem der vier Teilbereiche der Plastischen Chirurgie. Zumindest jetzt noch nicht, fügt er zögernd und leise hinzu. Nach mehr als zehn Jahren im weißen Arzt­kittel sucht man vergeblich nach Starallüren, trotz seiner Erfolge. Alexander Gardetto ist bodenständig geblieben, sein Ehrgeiz, das „i-Tüpflerische“ ist sein Wesenskern, doch er lässt sich nicht davon auffressen. Vielleicht ist es die Passeirer Bodenständigkeit seiner Mutter oder sind es die Schicksalsschläge, die ihn prägen? Er ist Mensch geblieben, der am Abend zwar seinen Arztkittel ablegt, doch so manchen Fall im Kopf mit nach Hause nimmt. „Ich leide mit meinen Patienten. In schlaflosen Nächten, beim Laufen oder Pfeife rauchend am Balkon kommt es schon vor, dass ich über den einen oder anderen Fall sinniere oder eine schwierige OP im Kopf ‚durchspiele’.“ Auch die große Verantwortung für den Aufbau der Plastischen Chirurgie in Südtirol, diese Heraus­forderung, die er seit November 2006 übernommen hat, beschäftigt ihn unentwegt. „In Innsbruck konnte ich meine Kollegen um Rat fragen, hier bin ich auf mich allein gestellt. Gottlob ist bis jetzt in diesen drei Jahren alles gut gegangen“. Seine Abteilung ist am Krankenhaus Brixen angesiedelt, einmal wöchentlich pendelt er nach Meran, wo er ebenfalls Eingriffe vornimmt. Ihm zur Seite steht seine engagierte Assistentin Anja Kery, eine deutsche Ärztin, die die Ausbildung zur Fachärztin bei ihm absolviert. Seine Förderer und Unterstützer in Südtirol sind der Primar Arthur Scherer und der Bezirksdirektor von Brixen Dr. Siegfried Gatscher. Wiederholt werden wir im Gespräch unterbrochen. Eine Patientin hat ein Hämatom an der Brust, muss operiert werden. Der OP-Saal wird gerade vorbereitet. „Nur ein kleiner Eingriff, in zwanzig Minuten bin ich wieder zurück“, meint er gelassen und schreitet mit großen Schritten aus der Tür. Ärztealltag mit ständig Nichtvorhersehbarem. Wie kann man sich die Stimmung während einer OP vorstellen? Ist sie wirklich so entspannt wie in den zahlreichen amerikanischen Fernsehserien gezeigt wird? „Bei mir muss eine lockere, jedoch konzentrierte Atmosphäre herrschen. Meist höre ich einen lokalen oder österreichischen Radiosender“, sagt Gardetto. Bis zu zehn Operationen führt er in der Woche durch. Häufig sind es Eingriffe zum Wiederaufbau der Brust durch Eigengewebe - nach Tumorerkrankungen. Aber auch Eingriffe, die früher nur in Bologna, Mailand oder in Innsbruck vorgenommen wurden, operiert Alexander Gardetto. So jenen Jungen, der sich im Februar mit der Kreissäge zwei Finger abgetrennt hatte. Da die Handrekonstruktion aufgrund der Auslastung nicht in Innsbruck durchgeführt werden konnte, entschied sich Gardetto, die schwierige Operation in Brixen vorzunehmen. Der Eingriff gelang, beide Finger konnten gerettet werden. Neben seiner Arbeit als Arzt habilitierte er 2006 als einer der jüngsten Professoren ­Österreichs an der Medizinischen ­Fakultät in Innsbruck. Der Neid vieler Berufskollegen schlägt ihm kalt ins Gesicht, aber damit kann und muss er inzwischen leben. Heute ist er als Dozent tätig, zuständig für die Sonderausbildung der OP-Schwestern. „Nebenbei“ forscht er auch weiterhin als Wissenschaftler. Warum kommt der gebürtiger Marteller, dem die Welt quasi zu Füßen liegt - Angebote aus Dubai, Washington und Chicago lägen ihm vor - zurück nach Südtirol? Mit Martell verbindet ihn wenig, seine Mutter lebt dort. „Nicht mal die Erdbeeren konnten mich halten“, schmunzelt er und lässt das „R“, typisch für den Marteller Dialekt über die Zunge rollen. „Aber ich will hier bleiben“. Damit meint Alexander Gardetto Südtirol. Obwohl die finanziellen Angebote äußerst lukrativ seien, „wir sprechen vom Dreifachen, was ich im Ausland verdienen würde“, unterstreicht er nicht nur verbal, sondern umkreist diese Aussage mit seinem Stift in meinem Notizblock. Aber er fühlt sich wohl in Südtirol, d.h. die Menschen, die Mentalität, die Landschaft halten ihn. Und der Wunsch nach Wurzeln, einer Familie, nun mit Ende Dreißig. Unlängst nahm er an einem Skirennen auf der Plose teil. Mit über 90 Stundenkilometer ­raste er über die Piste. Fast wie in Rennfahrerzeiten.
Andrea Kuntner
Andrea Kuntner
Vinschger Sonderausgabe

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