Alles steigt, nur die Löhne nicht
Publiziert in 5 / 2012 - Erschienen am 8. Februar 2012
Vinschgau – Die Armut zur Schau tragen ist nicht Tiroler Brauch. Die Anzeichen dafür, dass die Armut im Land steigt, werden aber dennoch immer sichtbarer. „Zurzeit ist das Sozialwesen im Vinschgau noch sehr gut aufgestellt, aber die Lage könnte sich verschlechtern“, warnt Dieter Pinggera, Vizepräsident der Bezirksgemeinschaft und Bezirksreferent für Soziales.
Schon seit dem Beginn der Krise 2008 heiße es Jahr für Jahr: „Noch geht es irgendwie, aber die wirklich schlimme Zeit steht uns noch bevor.“ Die nackte Realität ist laut Dieter Pinggera die, „dass seit Jahren alles steigt, die Gehälter aber mehr oder weniger auf dem gleichen Stand geblieben sind. Wir haben in vielen Bereichen Null-Runden gehabt.“ In Südtirol, wo die Lebenshaltungskosten schon von Haus aus sehr hoch sind, fallen die Teuerungen umso mehr ins Gewicht. Pinggera: „Wir müssen feststellen, dass sich auch im Vinschgau immer mehr Menschen, vor allem Familien und Rentner, immer schwerer tun, finanziell über die Runden zu kommen.“ Man brauche hier nicht große Berechnungen anstellen, sondern ganz einfach einen Blick auf die Kostensteigerungen werfen: „Die Energie ist teurer geworden, die Lebensmittel, der Treibstoff, die Wohnkosten. Es gab in fast allen Bereichen schmerzhafte Preisanstiege.“ Nicht zu vergessen sei auch der zunehmende Steuerdruck in allen Sparten.
Einer der Indikatoren dafür, dass die Armut steigt, ist die Zahl der Gesuche für die finanzielle Sozialhilfe. 2009 wurden in den Sozialsprengeln Obervinschgau und Mittelvinschgau 1.436 Gesuche eingereicht, 2010 waren es immerhin schon 1.598. „Tendenz steigend“, wie Pinggera unterstreicht. Auch in der Ausschüttung der finanziellen Sozialhilfe spiegelt sich klar wider, dass immer mehr Menschen Hilfe brauchen. Im Sozialsprengel Mittelvinschgau zum Beispiel würden über die Bezirksgemeinschaft im Jahr 2008 244.000 Euro ausgeschüttet. 2009 waren es 330.000 Euro, 2010 wiederum 323.000 Euro. Im Sozialsprengel Obervinschgau war von 2008 bis 2009 ein Anstieg von 102.000 auf 105.000 Euro zu beobachten, 2010 waren es 94.000 Euro.
Gesuche für finanzielle Sozialhilfe sind gestiegen
Noch krasser ist der Anstieg der Zuschüsse für Miet- und Wohnungsnebenkosten. Auch diese Beiträge stammen aus dem Landessozialfonds und werden über die Bezirksgemeinschaft ausgezahlt. Während sich im Sprengel Obervinschgau diese Beiträge zwischen 2008 und 2010 kaum veränderten (ca. 60.000 Euro pro Jahr), gab es im Sprengel Mittelvinschgau von 2008 bis 2010 eine starke Steigerung von 179.000 auf 273.000 Euro. Die hohe Steigerung im Mittelvinschgau führt Pinggera unter anderem darauf zurück, „dass in Gemeinden wie Schlanders oder Latsch im Verhältnis mehr Einwanderer leben als im Obervinschgau, es kommen aber noch andere Faktoren dazu, so etwa der Umstand, dass der Obervinschgau stark ländlich geprägt ist.“
Im Haushalt der Bezirksgemeinschaft stellen die Ausgaben für Soziales den größten Ausgabenposten dar. Im Haushaltsjahr 2012 sind von den laufenden Gesamtausgaben, die 14,7 Millionen Euro betragen, 9,3 Mio. Euro für den sozialen Bereich zweckgebunden. „In den vergangenen 15 bis 20 Jahren wurde im Vinschgau im sozialen Sektor sehr viel geleistet,“ sagt Pinggera und verweist auf eine Vielzahl von Strukturen und Dienstleistungen (siehe dazu auch Grafik).
Allerdings kosten die Strukturen und Dienste auch sehr viel Steuergeld. Zum derzeitigen sozialen Netz im Vinschgau hält der Bezirksreferent fest, „dass wir zurzeit noch in der Lage sind, für fast alle Bedürfnisse eine Antwort, sprich Lösung zu bieten.“ Jetzt aber komme die Bezirksgemeinschaft zusehends unter Druck, „denn die Mittel, die wir aus dem Landesozialfonds bekommen, sind seit 5 Jahren gleich geblieben, was de facto einer Reduzierung gleichkommt.“ Sollte der Druck aufrecht bleiben bzw. die Mittel nicht gesteigert werden - was angesichts der immer knapper werdenden öffentlichen Geldmittel wohl kaum anzunehmen ist – „werden wir über kurz oder lang gezwungen sein, Abstriche bei den Dienstleistungen zu machen.“ Zurzeit sei es Gott sei Dank noch so, „dass es in den stationären Einrichtungen der Bezirksgemeinschaft de facto keine Wartelisten gibt.“ Derzeit noch, „aber es ist nicht sicher, dass das auch so bleibt.“
Grundsätzlich ist Dieter Pinggera (im Bild) der Auffassung, dass in Südtirol bisher sehr viel in Strukturen investiert worden ist, in die so genannte Hardware, was sicher nicht falsch war, „aber der Erhalt dieser Strukturen kostet viel Geld.“ Anderswo, etwa in Regionen jenseits des Brenners, habe man mehr auf mobile Dienstleistungen gesetzt, „die weniger kosten, aber deswegen nicht weniger effizient sind.“ In Südtirol bestehe außerdem ein bestimmtes Ungleichgewicht zwischen städtischen und ländlichen Gebieten: „In den Ballungszentren gibt es eine Vielzahl von Organisationen, die auf dem sozialen Gebiet tätig sind, auf dem Land ist dies weniger stark der Fall, wenngleich das Volontariat und Vereine auch dort sehr wertvolle Dienste leisten.“
Es braucht strukturelle Maßnahmen
Um der Armutsgefährdung, die sich in Südtirol immer stärker verbreitet, entgegenzuwirken, ist ein ständiger Dialog zwischen den Sozialpartnern unabdingbar. Bei einfachen Arbeitern klopft die Armut ebenso an wie bei Personen mit Mindestrenten, bei kinderreichen Familien, Einwanderern und auch Unternehmern. Wie Landesrat Richard Theiner (im Bild) beim jüngsten Sozialgespräch am Sitz der Handelskammer in Bozen ausführte, sind fast 18% der Südtiroler Haushalte laut einer ASTAT-Studie armutsgefährdet. Mit den Sozialleistungen könne die Armutsquote in Südtirol zwar um 7,4% gesenkt werden, aber die Sozialhilfe könne nicht der Lösung letzter Schluss sein. Mit der Sozialhilfe könne in Notsituationen schnell geholfen werden, aber für nachhaltige Lösungen sind strukturelle Maßnahmen notwendig wie etwa Zusatzverträge in der Arbeitswelt, die Miteinbindung der Wirtschaft und ein gerechteres Steuersystem. Zumindest teilweise korrigieren könnte man diesbezügliche Missstände mit einer größtmöglichen Steuerhoheit für Südtirol. Abfedernde Maßnahmen zugunsten der Familien erhofft sich Theiner vom noch zu schnürenden Familienförderungsgesetz. Gearbeitet werde derzeit auch an einem bedarfsgerechten Mindestsicherungssystem, das verschiedene Leistungen seitens der öffentlichen Hand bündelt.
Kommt es noch schlimmer?
Dass im Vinschgau immer mehr Menschen in materielle Not geraten, bestätigt auch Josef Criscenti (im Bild), der Bezirksobmann der Vinzenzgemeinschaft. „Obwohl es schlimmer geworden ist, ist es nicht so, dass jetzt viel mehr Leute zu uns kommen. Das hängt aber damit zusammen, dass die Bevölkerung hier bei uns zurückhaltender ist. Die Leute kommen nicht zu uns, sondern wir gehen zu ihnen, wenn wir entsprechende Hinweise bekommen.“ Mit welchen Prognosen ist für die Zukunft zu rechnen? Criscenti: „Ich habe den Eindruck, dass die Leute zurzeit mehr sparen. Außerdem verfügen wir über ein dichtes soziales Netz. Die Lage ist daher momentan nicht so dramatisch, aber ich denke, dass es noch viel dicker kommen wird. Dieser Meinung ist man übrigens auch im Zentralrat der Vinzenzgemeinschaft.“ Dass die Armut auch im Vinschgau weiter um sich greift und immer mehr Menschen davon betroffen sind, bestätigt auch Gerti Egger (im Bild) von der Schuldnerberatung der Caritas.
Sozialdienste der Bezirksgemeinschaft - Statistik 2010
Tagespflegeheime
Prad 3 Öffnungstage pro Woche für 8 bis 10 Personen
Mals 1 Öffnungstag pro Woche für 8 Personen
Latsch 2 Öffnungstage pro Woche für 8 Personen
Schlanders Derzeit ausgesetzt wegen Umbauarbeiten
Menschen mit Behinderungen bzw. psychisch kranke Menschen (Wohnbereich)
Lebenshilfe Wohnbereich 13 Personen
Lebenshilfe Wohngemeinschaft 4 Personen
Altersheime im Bezirk (Menschen unter 60 Jahre) 6 Personen
Wohngemeinschaft Felius 6 Personen
Bei Pflegefamilien 3 Personen
Außerhalb des Landes 1 Person
In Landesstrukturen
(Blindenzentrum, Jesuheim usw.) 14 Personen
Gesamt 47 Personen
Arbeitsrehabilitation, geschützte Arbeitsplätze, Werkstätte (Bereich Beschäftigung)
Menschen mit Behinderung:
Werkstatt Prad 35 Personen
Lebenshilfe Schlanders 48 Personen
Werkstatt außerhalb des Bezirks 1 Person
Gesamt 84 Personen
Menschen mit psychischer Erkrankung:
Arbeitsrehabilitation Latsch 12 Personen
Arbeitsrehabilitation Schlanders 5 Personen
Außerhalb des Bezirks 3 Personen
Gesamt 20 Personen
Vollzeitige Unterbringung von Minderjährigen (Sozialsprengel Ober- und Mittelvinschgau)
Bei Pflegefamilien 17 Personen
Wohneinrichtungen des Bezirks (SOVI) 6 Personen
Wohneinrichtungen außerhalb des Bezirks 10 Personen
Gesamt 33 Personen
Tagesbetreuung von Minderjährigen (Sozialsprengel Ober- und Mittelvinschgau)
Tagesstätte SOVI 22 Personen
Teilzeitig bei Pflegefamilien 3 Personen
Gesamt 25 Personen
Sozialpädagogische Grundbetreuung (Sozialsprengel Ober- und Mittelvinschgau)
Kinderschutz/Betreuung Minderjähriger 187 Personen
Begleitete Erwachsene am Arbeitsplatz 38 Personen
Begleitete Erwachsene in verschiedenen Lebensbereichen 111 Personen
Gesamt 336 Personen
Hauspflege (Ober- und Mittelvinschgau)
Pflege zu Hause 17.588 Betreuungsstunden
Tagesstätte (Fußpflege, Bad, Wäsche) 1.549 Betreuungsstunden
Betreute Personen 946
Essen auf Rädern (Ober- und Mittelvinschgau)
Anzahl der Essen 26.167 (davon wurden 15.907 vom Volontariat zugestellt)
Finanzielle Sozialhilfe (Sozialsprengel Ober- und Mittelvinschgau)
Gesamtzahl der Klienten/innen für Sozialhilfen 333
Gesamtzahl der Familienmitglieder 794
Anzahl der Gesuche insgesamt 1.598
Quelle: Bezirksgemeinschaft Vinschgau

Josef Laner