Armut geht uns alle an!

Publiziert in 23 / 2008 - Erschienen am 18. Juni 2008
Wer keine eigene Wohnung besitzt und nur die Mindestrente bezieht, also 443 Euro, dem bleiben abzüglich der notwendigsten Spesen höchstens 10 Euro pro Tag zum Leben übrig. Hart an der Überlebensgrenze müssen auch viele Alleinerzieher ihr Dasein fristen, vor allem junge Frauen mit Kindern. Die Armut ist da, der Kaufkraftverlust greift immer weiter um sich. Dass auch der Wirtschaftsmotor stottert, hat eine Gesprächsrunde gezeigt, die „Der Vinschger“ vor gut zwei Monaten mit Wirtschaftsvertretern organisiert hat. Bei einer weiteren Gesprächsrunde in der „Vinschger“-Redaktion standen kürzlich die Themen Armut und Kaufkraftverlust im Mittelpunkt. Wie sieht es im Vinschgau aus, wer ist am schwersten betroffen? Was kann die Gesellschaft tun? Was die Politik? Neben dem Bezirksleiter des ASGB, Hans Rungg, und dem Bezirksobmann der Vinzenzgemeinschaft, Josef Criscenti, konnten die „Vinschger“-Geschäftsführerin Elke Ziernhöld und Moderatorin Ingeborg Rainalter Rechenmacher auch die Obmannstellvertreterin des Bäuerlichen Notstandsfonds (BNF), Rosl Debiasi, sowie den Sozialreferenten der Gemeinde Schlanders und KVW-Bezirksvorsitzenden Heinrich Fliri am runden Tisch begrüßen. In einem Punkt stimmten alle Gesprächsteilnehmer überein: Armut und Kaufkraftverlust sind mehr als nur Schlagwörter, die Politiker aller Parteien immer öfter in den Mund nehmen. Hans Rungg: Die Armut, die es im Vinschgau vor rund 40 Jahren gab, war eine andere als die jetzige. Erst zu Beginn der 70er Jahre konnten sich viele Menschen einen Fernseher kaufen, einen Kühlschrank oder ein Auto. Dramatisieren sollten wir daher nicht, im Vergleich zu früher ist die Lage besser, auch weil es Auswege und Ausweichmöglichkeiten gibt, ich denke etwa an die Frauenarbeit, wenngleich qualifizierte und gut bezahlte Arbeitsplätze noch immer viel zu oft von Männern besetzt sind. Eine Armut, wie es sie früher gab, finden wir heute nicht mehr vor, obwohl man letzthin deutlich spürt, dass es für viele immer enger wird. Ein Hauptgrund dafür sind sicher die hohen Lebensmittel- und Benzinpreise und auch unsere Lebensgewohnheiten, sprich unser Konsumverhalten. Ernst ist die Lage allemal, viel darf nicht mehr dazwischen kommen, bis es für viele sehr, sehr knapp wird. Josef Criscenti: Die steigende Armut ist seit Jahren deutlich spürbar. Wenn jetzt die Themen Armut und Kaufkraftverlust in aller Munde sind, so liegt der Grund dafür zum Teil sicher darin, dass im Herbst Wahlen anstehen. Jedenfalls wird jetzt von vielen Politikern ziemlich viel versprochen. Besonders betroffen von Armut und Kaufkraftverlust sind Seniorinnen und Senioren, die nur die Mindestrente beziehen. Das spüren wir in unseren Vinzenzkonferenzen in Martell, Latsch, Schlanders, Burgeis und Mals ganz genau. Wer nur die Mindestrente bezieht, hat ein großes Problem, wenn er zum Zahnarzt oder sich eine neue Brille kaufen muss. Eine weitere, stark betroffene Sparte sind die Alleinerzieher. Vor allem junge Frauen mit Kindern, deren Ehe nach ein paar Jahren in Flöten gegangen ist, tun sich ungemein schwer. Oft zahlen die Väter keinen Unterhalt. Schlimm ist auch, wenn ein Kind vom Vater nicht anerkannt ist. Heinrich Fliri: Wer mit einer Mindestrente von 443 Euro auskommen muss und noch dazu keine eigene Wohnung hat, muss tatsächlich schauen, wie er über die Runden kommt. Schon allein dieses Beispiel zeigt, dass Armut viel mehr ist als ein Schlagwort. Gut finde ich, dass über dieses Thema jetzt offen geredet wird. Früher hat man mit Scheinwerfern neue Bauten beleuchtet, jetzt wird über Armut gesprochen, auch die Politik redet darüber. Ein Kernproblem ist, dass auch im Vinschgau rund ein Viertel der Arbeitnehmer weniger als 1.000 Euro im Monat verdient. Zieht man die Teilzeitbeschäftigten ab, verbleiben immerhin noch rund 15 Prozent. Die Zahl jener Menschen, denen im Einzugsgebiet der Bezirksgemeinschaft Vinschgau eine finanzielle Sozialhilfe gewährt wird, ist im Steigen begriffen. 2007 wurden im Vinschgau 406 solche Hilfeleistungen gewährt. 408 Personen bzw. Familien haben 2007 Wohngeld bezogen, 89 davon in der Gemeinde Schlanders, wobei es sich bei einem knappen Viertel davon um Nicht-EU-Bürger handelt. Sozialwohnungen gibt es im Einzugsgebiet der Bezirksgemeinschaft Vinschgau 471. Rosl Debiasi: Die wachsende Armut bekommen auch wir vom Bäuerlichen Notstandfonds zu spüren. Der BNF unterstützt nicht nur Bauern, sondern hilft auch nicht bäuerlichen Familien und Personen. Es geht uns darum, Menschen in Notsituationen zu helfen, und zwar ganz gezielt. Als wichtigste Kriterien gelten Krankheit, Tod, Unfall oder Behinderung. Abgesehen von schweren Schicksalsfällen gibt es auch sonst sehr gravierende Notfälle, bei denen man sich fragen muss: Gibt es das heute noch? Besonders arg ist die Lage zum Beispiel, wenn ein Junglandwirt nur dank der Rente der Eltern überleben kann. Der BNF versucht auch langfristig zu helfen, etwa mit der Zahlung von Kosten, um Jugendlichen das Studium zu ermöglichen. Der BNF gibt den Betroffenen grundsätzlich nicht Geld in die Hand, sondern zahlt Rechnungen und übernimmt die Zahlung von Schulden. Was wir oft feststellen, ist, dass Not leidende Menschen Hemmungen haben, sich zu melden. Oft stoßen wir erst über Umwege zu Notfällen, etwa durch Meldungen von Nachbarn. Dass es Hemmungen gibt, Hilfen zu suchen und anzunehmen, bestätigten alle Gesprächsteilnehmer. Mehr noch: viele Menschen sind gar nicht ausreichend informiert bzw. lassen sich nicht informieren. Im Gegensatz zu machen Einheimischen sind Nicht-EU-Bürger in diesem Punkt rühriger. Hans Rungg: „Wenn ein Nicht-EU-Bürger bei uns in der Gewerkschaft erfährt, dass es diesen oder jenen Vorteil gibt, bekommen wir am nächsten Tag scharenweise Besuche oder Anrufe.“ Auch laut Heinrich Fliri, Rosl Debiasi und Josef Criscenti herrscht bei vielen einheimischen Menschen, die in Armut leben, speziell bei Männern, noch die Einstellung vor: „Ich gehe doch nicht betteln.“ Die Vinzenzkonferenzen arbeiten viel im Stillen. Dank von Spenden und viel ehrenamtlich geleisteter Arbeit können wertvolle soziale Dienste geleistet werden. Die Palette reicht vom Essen auf Rädern bis hin zur Unterstützung von besonderen Härtefällen, denen mit über 3.000 Euro im Jahr geholfen wird. Solche Fälle gab es im Vinschgau im Jahr 2007 laut Criscenti 16. Was gut funktioniert, sind die Vernetzung und die Zusammenarbeit mit der Caritas, dem Zentralrat der Vinzenzkonferenzen, der Stiftung Südtiroler Sparkasse und weiteren Organisationen und Sponsoren. Auf den Aspekt der Zusammenarbeit verwies auch Rosl Debiasi. Einen starken Partner habe der BNF unter anderem in den Raiffeisenkassen gefunden. Dankbar zeigten sich alle, dass die Spendenfreudigkeit der Südtiroler trotz der derzeit nicht allzu rosigen Lage noch keinen Einbruch erlitten hat. Ein besonders Augenmerk ist laut Heinrich Fliri auf jene zu richten, die trotz aller Vernetzung durch das „Netz“ fallen. Was können Politik und Gesellschaft tun? Auch Lösungsansätze für die Bewältigung der Probleme, die mit Armut und Kaufkraftverlust im Zusammenhang stehen, wurden genannt. Einen konkreten Ansatz sieht der Gewerkschafter Hans Rungg in lokalen Zusatzabkommen für die Arbeiterschaft: „Wir müssen die Arbeiter zusätzlich zu den nationalen Kollektivverträgen auch hier im Land besser absichern und am Gewinn der Betriebe teilhaben lassen.“ In bestimmten Branchen verdiene der Großteil der Arbeiter nur zwischen 18.000 und 22.000 Euro im Jahr, „und wenn da noch etwas Unvorhergesehenes passiert, steht der Arbeiter mit seiner Familie mit dem Rücken zur Wand.“ Leider sei es oft so, dass Arbeiter direkt mit den Arbeitgebern verhandeln: „Viele bekommen auf diese Weise etwas mehr auf dem Lohnstreifen oder erhalten Schwarzgeld.“ Insgesamt sei der Zusammenhalt der Arbeiter nicht mehr der, wie es ihn früher gab. Es sei für Gewerkschaften schwerer geworden, zu den Leuten hin zu kommen. „Ich glaube, dass eine falsche Auffassung von Leistung überhand genommen hat“, so Rungg. Als Leistung werde das betrachtet, „was ich mir mit den Ellbogen erkämpfte, und weniger das, was in einem Betrieb gemeinsam erwirtschaftet wird.“ Der Wert der Solidarität habe an Kraft eingebüßt, „auch politisch gesehen, was im Übrigen nicht besonders verwundert, denn die Gruppe der Arbeitnehmer in der SVP sitzt ja seit jeher in der Regierung und bekleidet Führungspositionen.“ Ein weiteres Problem sei die Abschottung der Wirtschaft, speziell jener im Vinschgau. Rungg: „Warum muss man um jede Information, die man von einem Betrieb haben möchte, kämpfen? Arbeiten wir doch zusammen! Wir sollen und müssen über alles reden, auch über die Tariflöhne.“ Dass es auch innerhalb der Wirtschaft kriselt, ist dem ASGB-Bezirkschef durchaus bewusst: „Ich denke etwa an den kleinen Detailhandel in den Dörfern. Wenn diese Entwicklung so weiter geht, werden auch Selbstständige vermehrt mit dem Phänomen Armut zu tun haben.“ Auch Josef Criscenti ist der Meinung, dass die Politik die Ärmel viel stärker hochkrempeln muss, und zwar die Landespolitik ebenso wie die Verwaltungen in den Gemeinden. „Vieles, was derzeit passiert, ist so nicht in Ordnung. Wenn man einen alten, gehbehinderten Menschen einfach in einen Rollstuhl setzt und in ein Pflegeheim schiebt, ist damit zwar etwas, aber noch lange nicht alles getan.“ Werte wie Solidarität seien viel stärker zu vermitteln, auch in den Schulen und in den Aus- und Weiterbildungsstrukturen. Wenngleich die Gemeinden des Vinschgaus in der Gebührenpolitik im landesweiten Vergleich eher niedrige Gebühren und Tarife anwenden, so müssen die Verwaltungen laut Heinrich Fliri vor allem in der jetzigen Zeit noch mehr danach trachten, die Gebühren möglichst niedrig zu halten: „Loss mr di Lait des bissl Geld.“ Andererseits appelliert Fliri auch an die Eigenverantwortung: „Die Politik hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass tüchtige und fleißige Leute überleben können.“ Eines der Probleme orten die Gesprächsteilnehmer auch in den Mietpreisen. In Schlanders – und nicht nur - werden zum Teil Mieten von 1.000 und mehr Euro bezahlt. Für Menschen, die mit dem Lebensminimum auskommen müssen, schier ein Ding der Unmöglichkeit. Das Lebensminimum für eine Person, die in einer Wohngemeinschaft lebt, liegt derzeit bei 382 Euro. Bei einer allein lebenden Person sind es 458,4 Euro, bei 2 Personen 599,74 Euro, bei 3 Personen 779,28 Euro usw. Die Antworten auf die Frage, ob der Bauernstand in Südtirol bevorteilt sei, fielen unterschiedlich aus. Laut Rosl Debiasi gibt es in bäuerlichen Kreisen ebenso Notsituationen wie in anderen Schichten, „und zwar nicht nur bei Berglandwirten, sondern auch bei Bauern im Tal. Außerdem darf man nicht vergessen, dass zum Beispiel ein Viehbauer 365 Tage im Jahr an seinem Hof ‚hängt’, während ein Arbeiter nach Dienstschluss frei ist und in der Regel auch in den Urlaub fahren kann.“ Josef Criscenti meinte, dass es allen Bauern relativ gut gehe, jedenfalls besser als vielen Arbeitern. Hans Rungg wurde noch konkreter: „Dem Bauernstand ist es gelungen, sich ‚selbst zu verherrlichen’, und zwar in der Manier, wie dies seinerzeit dem Arbeiterstand gelungen ist. Auch in diesem Punkt kann ich nur sagen: reden wir miteinander. Eine offene Diskussion zum Thema ICI und Genossenschaften zum Beispiel hat es bis jetzt nicht gegeben.“ Was sind die konkreten Wünsche? Was sich Josef Criscenti am meisten wünscht, ist, „dass die Hilfsbereitschaft der Menschen erhalten bleibt, dass wir als Vinzenzgemeinschaft weiterhin unterstützt werden und dass wir in Zukunft weniger Fälle zu betreuen haben.“ Hans Rungg hofft, „dass die Politik von Sonntagsreden Abschied nimmt, dass es zu mehr Gerechtigkeit kommt und dass sich alle Partner der Gesellschaft auf Augenhöhe treffen, um über die Problem offen zu reden und Lösungen zu finden und auch umzusetzen.“ Rosl Debiasis Wunsch: „So wenige Notfälle wie nur möglich und weiterhin eine so große Spendenfreudigkeit der Bevölkerung wie bisher.“ Heinrich Fliri: „Wer durch das soziale Netz fällt, muss aufgefangen werden. Die Familie darf nicht zu einer Armutsfalle werden. Die Politik soll die Gebühren niedrig halten. Die Menschen sollen Solidarität zeigen und die Schwächsten nicht fallen lassen.“ Dass in unserer Gesellschaft die Aspekte der Menschlichkeit, des miteinander Redens und der Nachbarschaftshilfe immer mehr ins Hintertreffen geraten, wurde von allen bedauert. (sepp; Fotos: s) Über 27.000 Familien ­einkommensarm Die letzten verfügbaren statistischen Daten des Landes zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen und der relativen Armut beziehen sich auf den Zeitraum 1998 bis 2003 und wurden vom ASTAT erhoben. Demnach sind in Südtirol 14,9 Prozent der Haushalte relativ einkommensschwach. Das entspricht ungefähr 27.000 Familien. Gegenüber 1998 entspricht dies einem Anstieg der relativen Armutsquote um 0,8 Prozent (von 14,1 auf 14,9 Prozent). Dieser Anstieg ist allerdings vor dem Hintergrund zu bewerten, dass sich die rechnerische Armutsgrenze gleichzeitig beträchtlich erhöht hat: für einen zweiköpfigen Haushalt stieg die Armutsgrenze von 1998 bis 2003 von 9.398 Euro auf 12.929 Euro. Dies entspricht einem inflationsbedingten Anstieg von 22,4 Prozent und verdankt sich dem insgesamt gewachsenen und gestiegenen Wohlstandniveau der Gesellschaft. Kontaktadressen: Bäuerlicher Notstandsfonds Bozen, Tel. 0471 99 93 30/31 info@menschen-helfen.it SBB-Bezirk Schlanders, Tel. 0473/730149 Südtiroler Vinzenzgemeinschaft Bozen, Tel. 0471 970086 Sozialsprengel Obervinschgau Tel. 0473 8360 00 infosprengelmals@bzgvin.it Sozialsprengel Mittelvinschgau Tel. 0473 73 67 00 infosprengelschlanders@bzgvin.it Caritas, deutsch- und ladinischsprachige Sektion Bozen, Tel. 0471 304 300 info@caritas.bz.it
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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