Auslaufmodell Autonomie
Publiziert in 7 / 2012 - Erschienen am 22. Februar 2012
Verletzung des Mailänder Abkommens, ausufernde Schuldenkrise und harte Sparmaßnahmen aus Rom – die Frage nach der Zukunft Südtirols ist dringender denn je. Die Autonomie, die unserem Land Frieden und Wohlstand brachte, gilt als Auslaufmodell. Neue Zukunftsvisionen treten in einem politischen Wettstreit gegeneinander an.
von Oliver Kainz
In der gegenwärtigen politischen Debatte fallen immer wieder dieselben drei Schlagworte: Selbstbestimmung, Freistaat und Vollautonomie. Natürlich rüsten sich die Parteien mit diesen Slogans für die Schlacht um die Wählerstimmen bei den kommenden Landtagswahlen. Trotzdem lohnt es sich die drei Zukunftsmodelle unter die Lupe zu nehmen und kritisch zu hinterfragen.
Das Selbstbestimmungsrecht ist in den UNO Menschenrechtspakten verankert und ermöglicht den Völkern im Zuge einer Abstimmung frei über ihre Staatszugehörigkeit zu entscheiden. Als Steckenpferd der Süd-Tiroler Freiheit um Eva Klotz und Sven Knoll wird die Selbstbestimmung als erster Schritt für eine Rückkehr zu Österreich propagiert. Eine Probeabstimmung fand bereits im November 2011 in Ahrntal statt. Bei einer Wahlbeteiligung von 31 Prozent sprachen sich 95 Prozent der Befragten für die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts aus. Kritisch anzumerken bleibt die Tatsache, dass die Umfrage in einem Tal durchgeführt wurde, wo der Anteil der italienischen Bevölkerung minimal ist und die deutschen, rechtsoppositionellen Kräfte stark vertreten sind. Und trotzdem: Für einige Bürger ist eine Rückkehr zum „Vaterland“ Österreich die einzige Option für eine gesicherte Zukunft Südtirols. Die Situation Italiens ist für viele mit jener der Titanic vergleichbar, die kurz davor steht, auf Grund zu laufen. Also nix wie ins Rettungsboot? Unabhängig von der Realisierbarkeit einer Sezession stellt sich auch die Frage, wie willkommen man am österreichischen Dampfer überhaupt ist.
Keine Doppelstaatsbürgerschaft
Offiziell unterstreichen österreichische Regierungsvertreter, dass Südtirol für sie eine Herzensangelegenheit ist. Doch als die SVP ihren Vorschlag der Doppelstaatsbürgerschaft forcierte, stieß man in Wien auf taube Ohren. Die SVP konnte für ihr gescheitertes Vorhaben nicht Rom den schwarzen Peter zuschieben, sondern musste anerkennen, dass sowohl ÖVP als auch SPÖ die doppelte Staatsbürgerschaft für nicht notwendig erachten. „Staatsbürgerschaften kann man nicht wie Briefmarken sammeln“, erklärte der österreichische Außenminister Michael Spindelegger. Lediglich Heinz-Christian Straches FPÖ machte sich in jüngster Vergangenheit mit deutschnationaler Rhetorik für die doppelte Staatsbürgerschaft und das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler stark.
Freier mit dem Freistaat?
Ein weiteres Zukunftsmodell für Südtirol ist ein Freistaat. Dieser Begriff kann in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Will sich Südtirol nur das Prädikat Freistaat verleihen, wie dies einige Bundesländer in Deutschland machen (z.B. Freistaat Bayern) oder soll sich Südtirol zu einem eigenständigen Zwergstaat nach dem Vorbild Liechtensteins oder Luxemburgs entwickeln? Für Pius Leitner, Noch-Obmann der Freiheitlichen ist die Sache klar: Südtirol soll ein souveräner, unabhängiger Staat im Herzen Europas werden. „Die Autonomie kann nicht das Ende der Geschichte sein, folglich braucht es ein neues Projekt, das von allen Volksgruppen in Südtirol mitgetragen wird“, so Leitner. Während sich der Großteil der deutschen und ladinischen Südtiroler nicht mit Italien identifizieren könne und wolle, gelte dasselbe für die italienischen Südtiroler mit Österreich. Deshalb soll laut Leitner die Selbstbestimmung den Weg für den Freistaat ebnen. Doch so einfach geht das Ganze nicht. Das Völkerrecht sieht eine einseitige Selbstbestimmung nur bei Völkerrechtsverletzungen vor, weshalb es eine Vorgangsweise in Absprache mit Italien und Österreich braucht. Abgesehen davon ist unklar, ob Südtirol aus eigener Kraft überlebensfähig ist und wie es seine eigene Außen-, und Verteidigungspolitik regeln soll.
Je genauer man ins Detail geht, desto stärker beginnt die Argumentation der Freiheitlichen zu bröckeln. Als eigenständiger Staat ist es üblich in anderen Ländern Botschaften für die diplomatischen Beziehungen zu unterhalten. „Südtirol braucht mit Sicherheit nicht Botschaften in allen Staaten der Welt, das können und müssen wir uns tatsächlich nicht leisten“, räumt Leitner ein. Stattdessen schlägt er vor „bestimmte Kompetenzen und Dienste an Italien und Österreich zu delegieren.“ Südtirol deklariert sich also zunächst als eigenständiger Freistaat, um dann Aufgaben, die es selbst nicht bewältigen kann, seinen Nachbarstaaten aufzuerlegen. Allerdings ist es logisch nicht nachvollziehbar, welchen Anreiz Italien oder Österreich noch haben sollten, um diese Aufgaben zu übernehmen. Abzuklären bliebe auch der EU-Beitritt eines Freistaats Südtirols, dem alle Mitgliedsstaaten und das EU-Parlament zustimmen müssten.
Autonomie 2.0.
Das dritte Zukunftsmodell beabsichtigt die bisherige Autonomie in eine Vollautonomie mit größerer Selbstverwaltung auszubauen. Eine Veränderung der Grenzen findet in diesem Szenario nicht statt – Südtirol bleibt ein Teil Italiens. Kritische Stimmen bemängeln immer wieder, dass sich die SVP seit der Streitbeilegung 1992 „nur“ auf das Verwalten beschränkt und keine Visionen für das Land entwickelt. Wohl auch deshalb haben die Strategen in der Bozner Brennerstraße das Leitthema „Vollautonomie“ an die Spitze ihrer politischen Agenda gesetzt. Vereinfacht gesagt geht es beim Projekt „Vollautonomie“ darum, möglichst viele Kompetenzen (vor allem die Steuerhoheit) von der Staats- auf die Landesebene zu holen. Das Motto lautet: In Bozen werden die Kompetenzen besser verwaltet, als in Rom. Lediglich Außen- und Verteidigungspolitik sollen beim Staat bleiben. SVP-Obmann Richard Theiner hat immer wieder betont, dass das Vorhaben realistisch sei, wenn es von allen drei Sprachgruppen mitgetragen wird. Doch im Palazzo Chigi sitzt mit Mario Monti ein kühler Universitätsprofessor, der bei der Sanierung des Staatshaushalts bisher keine Rücksicht auf die Südtiroler Befindlichkeiten oder das Mailänder Abkommen genommen hat. Hinzu kommt, dass die Regionen ohne Sonderstatut neidvoll nach Südtirol blicken und kaum bereit sind eine weitere Verschiebung der Kompetenzen zu Gunsten der „reichen Regionen“ im Norden zu akzeptieren.
Die aktuelle politische Debatte über die Zukunft Südtirols ist spannend, kontrovers und voller offener Fragen. Die Standpunkte der Parteien und die Kennzeichen der einzelnen Visionen wurden dargelegt. Was aber denken die Leute? „Der Vinschger“ hat sich umgehört.
Reingard Neunhofer aus der Schweiz: Vom Gespür her würde ich sagen, dass ihr keine Italiener seid. Deshalb ist die Anwendung der Selbstbestimmung sicherlich legitim. Einen eigenen Staat zu gründen ist aber nicht einfach. Wir in der Schweiz merken immer wieder, dass es sehr schwierig ist, alles eigenständig und unabhängig von der EU zu regeln.
Julia und Andreas Frank aus Laatsch: Ein Freistaat ist sicherlich eine reizvolle Idee, denn dann könnte man beispielsweise ein Steuerparadies nach Luxemburger Vorbild verwirklichen. Allerdings muss man auch sagen, dass die Vollautonomie ihre Vorteile hat. Eine Rückkehr zu Österreich stellt unserer Meinung nach keine Alternative dar.
Richard Wallnöfer aus Mals: Ich persönlich halte die Ausübung der Selbstbestimmung für richtig. Auch wenn für viele Politiker die Anwendung der Selbstbestimmung eine Utopie ist, muss man bedenken, dass vor dem Mauerfall auch niemand geglaubt hat, dass Deutschland wiedervereinigt wird.
Deborah Mair aus Latsch: Die Idee eines Freistaats ist völlig aus der Luft gegriffen. Die Autonomie hat sich in den letzten Jahren als erfolgreiches Modell bewährt und sollte noch weiter ausgebaut werden, damit wir noch mehr Freiheiten erhalten.
Michael Hofer aus Prad am Stilfserjoch: Die einzige realistische Lösung ist die Vollautonomie. Im Rahmen dieses Zukunftsmodells wäre es sehr wichtig die Finanzhoheit zu erreichen. Ein Freistaat geht gegen jede europäische Idee und ist unmöglich. Wie soll ein kleines Land wie Südtirol eine eigene Außen- und Verteidigungspolitik aufbauen und Botschafter in alle Welt entsenden? Eine Grenzverschiebung oder eine Rückkehr zu Österreich sind ebenfalls nicht durchführbar.
Raimund Angerer aus Schlanders: Meiner Meinung nach ist die Vollautonomie das sinnvollste und geeignetste Modell für alle drei Sprachgruppen. Eine Grenzverschiebung halte ich nicht für richtig, da sie neue Konflikte provozieren würde. Am Beispiel der ex-jugoslawischen Staaten sieht man, dass eine Neuordnung der Nationen nicht einfach ist. Grundsätzlich können wir in der Politik zwei Tendenzen beobachten: Auf der einen Seite kann man am europäischen Einigungsprozess erkennen, dass sich mehrere Staaten zusammenschließen. Auf der anderen Seite erkennt man am Beispiel der Sowjetunion, dass große Blöcke auch auseinanderbrechen können. In diesem Spannungsfeld muss Südtirol seine Rolle finden, ohne dabei aufgerieben zu werden.
Marian Polin aus Mals: Ein dreisprachiger Freistaat gemeinsam mit Nordtirol und dem Trentino wäre eine sinnvolle Vision. Dieser Alpenraum hat viele Gemeinsamkeiten, gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht.
Martina Tschöll aus Prad am Stilfserjoch: Die Idee eines Freistaats ist vielversprechend. Ich würde einen Freistaat sicherlich nicht ablehnen, da er eine Loslösung von Italien ermöglicht. Wichtig wäre, dass wir die Steuerhoheit erlangen und das Geld, das wir selbst erwirtschaften, bei uns behalten können. Die Frage ist allerdings auch: Können wir diese Vision überhaupt verwirklichen?
Hannes Pirhofer aus Tarsch: Dass Südtirol ein Teil Italiens ist, gehört mittlerweile einfach zu unserer Geschichte. Das sollten wir akzeptieren, denn grundsätzlich gibt es ja keine Probleme mit den Italienern.
Jasmin Runggatscher aus Latsch: Ich bin dafür bei Italien zu bleiben. Die Italiener nehmen gewisse Dinge zwar sehr locker, aber es kann auch interessant sein mit ihnen Probleme zu lösen. Im Grunde genommen gibt es ja keine Konflikte zwischen den Sprachgruppen – die Streitigkeiten werden nur von einigen wenigen bewusst geschürt. In dieser Hinsicht sollten wir lernen toleranter zu werden. Eine Rückkehr zu Österreich halte ich für ausgeschlossen, da uns die Österreicher ja gar nicht zurück wollen.
Benjamin Stampfer aus Goldrain: Ich befürworte die Vollautonomie und den Verbleib bei Italien. Bei der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts würde man die Spaltung der Südtiroler Bevölkerung riskieren, wenn zum Beispiel 50 Prozent für die Rückgliederung an Österreich stimmen und 50 Prozent für den Verbleib bei Italien.
Oliver Kainz