Der Bären-Schreck aus der Schweiz
Die „Schafs-Geduld“ des Maremmano verleitet dazu, ihn für träge oder phlegmatisch zu halten. In Wirklichkeit entgeht ihm nichts.

Der Bären-Schreck ist Italiener und kommt aus der Schweiz

Publiziert in 22 / 2007 - Erschienen am 13. Juni 2007
Sur (Kanton Graubünden, CH) – Er ist gut proportioniert, robust, gelassen bis nachdenklich, an die 70 Zentimeter hoch, wiegt an die 40 Kilogramm, arbeitet auf sich allein gestellt, warnt mit Drohgebärden und reagiert mit Entschlossenheit, wird die Warnung überhört. Er wirkt phlegmatisch und träge, ist aber immer aufmerksam und selbst in schwierigem Gelände außerordentlich wendig und schnell. 37 Südtiroler Schafhalter, Umweltschützer, Forstlehrer, Mitarbeiter der Ämter für Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei und des Nationalparks Stilfserjoch haben sich auf der Alp Flix, in der graubündnerischen 84 Seelen-Gemeinde Sur, ausführlich über diese ungewöhnlichen Eigenschaften eines Herdenschutzhundes informieren können. Die erste Lektion bestand darin, einen Herdenschutzhund, eigentlich diesen besonderen Herdenschutzhund, von einem Treib- oder Hütehund zu unterscheiden. Der „Maremmano Abruzzese“ war von Alfons Cotti, Besitzer von etwa 200 französischen „Lacaune“-Milchschafen und Betreiber einer agritouristisch genützten Hochmoor-Alm, persönlich aus dem Wolfsgebiet der Abruzzen ins Bündnerland geholt und in das Herdenschutzprogramm eingebunden worden. Inzwischen gehört Cotti und andere Schafhalter zum „Kompetenznetz des Landwirtschaftlichen Bildungs- und Beratungszentrums Plantahof“ in Landquart unter der Leitung von Carlo Mengotti. Vorbeugend wurde damit auf den „reißerischen“ Wolf im nahen Bergell reagiert, der 2001 an die 100 Schafe gerissen hatte und erst am allerletzten Tag der Jagdsaison erlegt werden konnte. Die Rolle des WWF in der Schweiz Allein das Trio, das die Südtiroler in Sur empfing, gab schon ein erstes Bild über die ungewöhnlichen Allianzen, die sich im Kanton Graubünden zum Schutz vor dem „Großräuber“ Wolf gebildet hatten. Landwirtschaftsberater Carlo Mengotti aus Landquart, Wildhüter Hans Janutin aus dem nahen Marmorera und der Jäger, Schafhalter und Wirt Alfons Cotti vom Biobetrieb Alp Flix stellten Schafhaltern und Schafhirten aus Meran, Tisens, Ulten, Schnals, Kastelbell, Kortsch, Laas, Tschengls, Lichtenberg, Glurns, Schleis, Matsch, St. Valentin und Langtaufers, darunter Kleinviehzüchter-Obmann Johann Götsch und dessen Geschäftsführerin Barbara Mock, die Ergebnisse eines vierjährigen Herdenschutzprojekts vor. Neben den Schafhaltern hatten Amtsdirektor für Jagd und Fischerei Heinrich Erhard und sein „Vinschger Statthalter“ Klaus Bliem neben uniformierten „Parklern“, auch beurlaubte Beamte der Forststation Latsch, den Öffentlichkeitsarbeiter des Nationalparks Stilfser Joch, Hanspeter Gunsch, einen Wildbiologen, die Vinschger Spitze des Umweltschutzverbandes mit Peter Gasser und Albert Pritzi und zwei Forstlehrer der Landwirtschaftsschule Fürstenburg zur „Herdenschutzfahrt“ ins Bündnerland eingeladen. Schon der Hinweis, dass im Land der Kantone der „World Wide Fund for Nature“ (WWF) sofort auf das Auftauchen der „Beutegreifer“ mit dem Herdenschutz-Programm reagiert hatte, ließ die Südtiroler erstaunen, denen ja nur die „Bambi-Mentalität“ (O-Ton Peter Gasser) der italienischen WWF-Jünger mit dem Prinzip der absoluten „Unantastbarkeit“ eines jeden, auch noch so problematischen Bären bekannt war. Ein effizienter Partner Eine weitere Aussage Cottis, die Eindruck machte, betraf dessen persönlichen Wirtschaftsstandpunkt: „Wir sind ein Biobetrieb; Kunden, die meinen Schafskäse kaufen, nehmen an, dass bei uns Wolf und Bär existieren können. Ich habe keine Lust, durch das Töten eines Wolfes an Image zu verlieren.“ Und führte aus, wie seine 200 Schafe von zwei Hirten und zwei Maremmano-Herdenschutzhunden gehütet und von Border-Collies am Abend zum Melken zusammen getrieben werden. Es folgte ein eifriges Notieren, als Cotti auf Fragen nach Erfahrungen mit den Herdenschutzhunden aus den Apenninen einging und dabei gehörig mit Vorurteilen über Hundehalten, -verhalten und –füttern aufräumte. Unter anderem meinte er zur Frage der Aggressivität: „Wir müssen abgehen von der Vorstellung, nur durch Bestien könnten wir uns vor Bestien schützen.“ Der Maremmano sei an sich scheu, sanft und unterwürfig, obwohl er mit rohem Fleisch gefüttert werde. Wenn der Hund die Hierarchie – Hirte, Treibhund, Herde und dann sich selbst – nicht respektiere oder gar auf Schafe anbelle, werde er entfernt, im äußersten Fall eliminiert, „umgeschult“ nannte dies der redegewandte Schafhalter. Er gab unumwunden zu, dass es in der Schweiz noch keine Langzeiterfahrungen gäbe mit „Herdenschutztieren“, zu denen auch der französische Pyrenäen-Berghund, ja sogar der Esel gehöre. Wichtig sei, dass die Hunde auch im Winter bei den Schafen bleiben könnten und dass man nie die Rolle eines Treibhundes erwarten dürfe. Der ausgesprochene Schutzinstinkt des Maremmano Abruzzese führe dazu, dass er jede Störung, auch durch Touristen, sofort anbelle, um die Aufmerksamkeit von der Herde ab und auf sich zu lenken. In die Enge getrieben, würden die Herdenschutzhunde nicht nur durch ihre Größe und Furcht erregendes Bellen, sondern auch durch Gegenwehr bis zum Äußersten ihre Pflicht erfüllen. Kaum eins zu eins übertragbar Aus den 37 aufmerksamen Südtirolern bildeten sich beim anschließenden Mittagessen mit Schafskäse und gegrillter Wurst jede Mengen Diskussionsgrüppchen, die das Für und Wider eines Herdenschutzhundeexperimentes im Vinschgau mehr oder weniger offen und mehr oder weniger heftig diskutierten. Ein Versuch sollte ab 18. Juni gewagt werden, waren sich Amtsdirektor Heinrich Erhard, sein Bezirksvertreter Klaus Bliem und Parkmitarbeiter Hanspeter Gunsch einig; mit großer Wahrscheinlichkeit wird Trafoi der Standort der zwei Schweizer Herdenschutzhunde sein. Die meisten Teilnehmer auf der Flix-Alm waren sehr skeptisch, dass die auf Bergweiden frei laufenden und unbehirteten Schafe im Vinschgau auf diese Art und Weise geschützt werden könnten. Klar war aber, dass man dringend etwas unternehmen musste, zumal über die Handys die neuesten Hiobsbotschaften von Übergriffen der Bären aus dem Martelltal und aus Trafoi einliefen.
Günther Schöpf
Günther Schöpf
Vinschger Sonderausgabe

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