„Der Blinddarm von Reschen wird in Meran operiert“
Publiziert in 35 / 2014 - Erschienen am 8. Oktober 2014
Geburtenabteilung soll bleiben.
Chirurgie und Orthopädie nur mehr tagesklinisch?
Schlanders - Der „Koffer“, mit dem Gesundheitslandesrätin Martha Stocker am späten Donnerstagabend die mit Ärzten, Pflegern, Mitarbeitern und besorgten Bürgern bis zum Bersten besetzte Mensa des Krankenhauses Schlanders verließ, war schwer. Schwer beladen mit Kritik, Sorgen, Anregungen und Vorschlägen. Beim Eintreffen zum Informationsabend waren die Landesrätin und die Führungsspitzen des Sanitätsbetriebs auf über 150 Bürger gestoßen, die sich mit Kerzen und Laternen zu einer Mahnwache versammelt hatten. Die Idee dazu war von Pia Tscholl aus Goldrain ausgegangen, die Anfang September eine Online-Petition (www.petitionen24.com) für den Erhalt der kleinen Geburtenstationen in Südtirol gestartet hatte. Neben Ärzten, Pflegern und weiteren Krankenhausmitarbeitern strömten auch viele Bürger in die Mensa.
Die Richtlinien der Reform
Eine Stunde lang sprach Martha Stocker einleitend über die Richtlinien der angestrebten Südtiroler Gesundheitsreform. Die Politik und der Gesundheitsbetrieb stünden vor großen Herausforderungen, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Zu den größten Herausforderungen gehöre die Kosteneindämmung. Sparen wolle man, indem zum Beispiel die Erste-Hilfe-Stationen entlastet und die Hausärzte stärker einbindet. Die territorialen Dienste sollen ausgebaut, die Vernetzung und Zusammenarbeit unter den Krankenhäusern verbessert werden. Vorgesehen sei zum Beispiel eine Stärkung des Gesundheitssprengels Obervinschgau. Auch in der Verwaltung seien Einsparungen geplant sowie in den Krankenhäusern, ohne dabei das Prinzip der Grundversorgung über Bord zu werfen. „Es müssen aber nicht alle „Exzellenzen’ in Bozen angesiedelt sein,“ so Stocker. Weniger könne manchmal auch mehr sein.
Was bleibt, was kommt weg?
Worauf alle gespannt warteten, waren konkrete Aussagen zum Krankenhaus Schlanders. Stocker sicherte zu, dass die Geburtenabteilung angesichts der besonderen Situation, wie etwa der Entfernungen nach Meran, bestehen bleiben dürfte, wobei aber ein 24-Stunden-Aktivdienst für 7 Tage die Woche mit dem vorgeschriebenen Fachpersonal (Pädiater, Gynäkologe, Hebamme, Anästhesist, Krankenpfleger) gewährleistet werden muss. Ebenso soll die Medizin als 24-Stunden-Dienst bleiben sowie die Erste Hilfe und weitere Dienste. Stockers Aussage, dass die Chirurgie und die Orthopädie nur mehr tagesklinisch geführt werden sollen, lieferte den Anstoß für eine angeregte Diskussion. „Die Distanzen, die für die Geburtshilfe von Relevanz sind, gelten auch für die Chirurgie“, sagte Anton Theiner, Primar und Ärztlicher Direktor des Krankenhauses. „Wäre die Chirurgie zurückgestuft auf eine reine Tagesklinik, so würden wir als Grundversorgungskrankenhaus sehr bald aufhören zu existieren“, so Theiner wörtlich. Die jüngeren Arztkollegen würden sich um einen andern Arbeitsplatz umschauen, „die Lösung bzw. die Auflösung für unser Spital ergäbe sich von selbst.“ Alle Anstrengungen der letzten Jahre bezüglich Allgemeinchirurgie, Orthopädie, HNO und so weiter seien mit einem Federstrich dahin. Alle Bemühungen zur Einsparung durch Zusammenlegung von Abteilungen und Zentralisierung von Diensten wäre vergebliche Arbeit gewesen. „Sparmaßnahmen, die nun in den Zentren ergriffen werden, wurden bei uns längst umgesetzt. Aber was wäre mit unseren Vinschger Mitbürgern?“, so Theiner weiter.
Jährlich 1.200 stationär-chirurgische Patienten
„Wir haben jährlich ca. 1.200 stationär-chirurgische Patienten, an die 20.000 Zugänge in der Ersten Hilfe, ca. 9.000 bis 10.000 nur in der Chirurgie, davon ca. 90% solche mit unfallchirurgischen Gebrechen“, so der Ärztliche Direktor. Wenn, dann müsste das Unfall- und Orthopädie-Angebot in Schlanders noch ausgebaut werden. Die vorgeschlagenen Maßnahmen hätten das Ende des Akutkrankenhauses zur Folge. Auch vor einem volkswirtschaftlichen Verlust der Wertschöpfung warnte Theiner. Die Abwanderung würde zunehmen, die Peripherie geschwächt. „Wir brauchen Arbeit nicht auszulagern, wenn wir im Tal ausreichend Arbeitssuchende haben.“ Er habe wiederholt Einsparungsvorschläge gemacht. Seit 1461 gibt es das Spital in Schlanders. 1958 wurde es als Krankenhaus neu errichtet. 2005 wurde der Diagnose- und Behandlungstrakt in Betrieb genommen, seit August 2013 wird der Bettentrakt saniert. „Die Vinschger Mitbürger können sich nicht vorstellen, dass ihr Krankenhaus nicht mehr sein wird, obwohl gebaut wird“, argumentierte Theiner und rief der Landesrätin zu: „Wir bauen auf Sie. Sie haben gesagt, dass Sie die Peripherie stärken wollen.“ „Warum wird ein neuer Bettentrakt gebaut, wenn die Chirurgie, das Herz des Krankenhauses, so gut wie verschwindet“, wurde im Publikum geflüstert.
„Lange reden und nichts sagen“
„Politiker können lange reden und nichts sagen“. So kommentierte der Prader Gemeindearzt Wunibald Wallnöfer auf ironische Art das Statement von Martha Stocker. Es klinge zwar gut, das Territorium aufzuwerten, aber konkret geschehen sei bisher so gut wie nichts. Es gebe noch immer keinen verpflichtenden Aufgabenkatalog für die Hausärzte. Das Weiße Kreuz sei gezwungen, die Erste Hilfe anzusteuern, „und am Hausarzt fährt man vorbei.“ Stockers Aussage, dass weniger mehr sein kann, widersprach Wallnöfer: „Mehr ist mehr.“ Ohne zusätzliche Kosten gebe es kein Mehr. Sehr kritisch zur Zurückstufung der Orthopädie äußerte sich der Orthopäde Michael Raffl. Im Zug der klinischen Reform von 2010 sei das Krankenhaus Schlanders als Zentrum für Knie- und Hüftprothetik lanciert worden, mittlerweile sei fast alles nach Brixen verlagert worden. „Wir arbeiten daran, ganz zu schließen“, meinte Raffl. Anstatt nur Einsparungsmöglichkeiten zu suchen, sollte man sich Gedanken darüber machen, wie man zu Einnahmen kommt, zum Beispiel mit Privatpatienten.
„Früher wurde
alles andere als gespart“
Laut Primar Robert Rainer (Gynäkologie und Geburtshilfe) liegt eines der Grundübel darin, dass vor 10, 15 und mehr Jahren alles andere als gespart wurde. Die Chirurgie dürfe nicht angetastet werden. Nicht nachvollzierbar sei unter anderem, dass die EDV-Vernetzung noch immer nicht zufriedenstellend funktioniere. Mit einer ganz konkreten Frage lockte Primar Peter Georg Stecher den Sanitätsdirektor Oswald Mayr aus der Reserve. Stecher wollte wissen, was geschieht, wenn ein Bürger aus Reschen mit einer akuten Blinddarmentzündung zu behandeln ist. Mayr darauf: „Der Blinddarm von Reschen wird laut Konzept in Meran operiert.“ Primar Oreste Pieramico (Innere Medizin) mahnte an, dass die Qualität bei der medizinischen Versorgung landesweit für alle gleich sein sollte. Auch laut Pieramico sei in der Vergangenheit viel Geld ausgegeben worden, etwa für die Komplementärmedizin. Aufgeworfen wurde auch die Frage, ob der OP-Bereich künftig über Nacht „nur“ noch für die Geburtenabteilung in Betrieb bleiben wird. Aus mehreren Wortmeldungen waren viele Unsicherheiten und ein insgesamt angespanntes Klima herauszuhören.
„Der Atem ist raus“
„Der Atem ist raus“, brachte Pflegedienstleiter Christoph Alber die Lage auf den Punkt. Man erwarte sich endlich klare Aussagen seitens der Politik und des Sanitätsbetriebes. Außerdem sollten endlich auch Taten gesetzt werden, zumindest einige. Martha Stockers Hinweis, dass alle, die einen festen Arbeitsplatz haben, nicht Angst zu haben bräuchten, die Arbeit zu verlieren, vermochte die Ängste und Befürchtungen nur teilweise zu beschwichtigen. Was geschieht mit jenen, die kein festes Arbeitsverhältnis haben? Wie viele Festangestellte müssen in Zukunft auswärts arbeiten? In ihrem Schlussplädoyer unterstrich Martha Stocker, dass es zunächst darum gehe, in allen Krankenhäusern Informationen, kritische Äußerungen, Anregungen und Vorschläge zu sammeln, über die dann im Anschluss an eine ernsthafte Bewertung auch entschieden wird. Die Ergebnisse sollen in das Konzept zur Neuausrichtung einfließen und als Grundlage für den neuen Landesgesundheitsplan dienen, der vom Landtag gutzuheißen ist. Der Reformprozess werde bis 2020 dauern. Stocker rief dazu auf, stets sachlich zu diskutieren und mitzuarbeiten. Zwischen der Verantwortlichkeit der Politik und jener des Sanitätsbetriebes sei immer sauber zu trennen. sepp
Josef Laner