Ein Obervinschger Original „Ah sogsch, wea tuats dr“
Seit 50 Jahren ein eingespieltes Team: Martha und Johann Waldner.

Der „olt Graunr Doktr“ erzählt von seinem Leben als Gemeindearzt

Publiziert in 8 / 2008 - Erschienen am 5. März 2008
Graun – „Ah sogsch, wea tuats dr.“ Dies sind die Worte, die vielen Obervinschgern sofort einfallen, wenn sie von Johann Waldner, besser bekannt als der „olt Graunr Doktr“, reden. Dabei haben sie aber immer ein Lächeln auf den Lippen. Denn Johann Waldner hat sich in ­seiner langjährigen Tätigkeit als Gemeindearzt von Graun (40 Jahre) und Schluderns (10 Jahre) verdient gemacht, allerhand gesehen und erlebt und sich den Respekt und die Anerkennung vieler erworben. Heute praktiziert Waldner nicht mehr, doch er erinnert sich gerne an seine aktive Zeit zurück, eine Zeit ohne technischen Hightech und moderne medizinische Geräte. Dass er lieber von lustigen und weniger tragischen Ereignissen erzählt ist nicht weiter verwunderlich. Der „olt Graunr Doktr“ nimmt uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit. von Simone Stecher Die Haustür öffnet sich und ein eher kleiner Mann blickt hervor, die weißen Haare ­stehen ein wenig widerspenstig seitlich vom Kopf ab. Die kleinen Augen wirken wach und ­blitzen jungenhaft im sommersprossigen Gesicht. Dem rüstigen „olt Graunr Doktr“ sieht man seine 88 Jahre keineswegs an. Geboren wurde er im Jahr 1920. Doch sein Start ins Leben stand unter keinem sehr erfreulichen Stern. Zwei Wochen nach Waldners Geburt starb sein Vater und hinterließ eine 32-jährige Witwe, einen Säugling und die fünf Jahre alte Maria. Aufgebahrt wurde er in dem Raum, in dem auch der Sohn zur Welt kam. Der gebürtige „Hoadr“ lernte also schon früh, wie nahe Leben und Tod beieinander liegen. Ob diese Erfahrung seine Entscheidung, Arzt zu werden, beeinflusst hat, bleibt Spekulation. „Ich wusste schon immer, dass die Arbeit als Doktor mein Traumberuf ist“, erzählt Waldner mit kräftiger und sicherer Stimme, die dem Gesagten noch mehr Nachdruck verleiht. Bereits mit elf Jahren verließ er das behütete Elternhaus Richtung Brixen, wo er das Vinzentinum besuchte, an dem er auch maturierte. Einige Zeit bevor der junge Johann seine Reise antrat, „machte ich mit meiner Mutter einen Ausflug nach Mals, um mir den Zug anzuschauen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte und mit dem ich nach Brixen fahren sollte“, berichtet er schwärmend mit einem Gesichtsausdruck, der den kindlichen Johann vermuten lässt. Der „olt Graunr Doktr“ gewann dieses Verkehrsmittel lieb, denn auch heute ist er ein begeisterter Zugfahrer. Bevor er studieren konnte, rief der Militärdienst, den er im Polizeiregiment Schlanders absolvierte. Nachdem die Soldaten bereits wieder daheim waren, sammelten sie die Amerikaner wieder ein und schickten sie ins nationalsozialistische Übergangslager nach Bozen. Doch Johann Waldner wollte sich mit der Situation nicht abfinden und brach aus dem Lager aus. „Ich habe einfach den ­Stacheldraht auseinander getreten und bin hindurchgeschlüpft“, erzählt er aufgeregt. Dabei unterstützt er seine Worte mit Gesten und wirkt, als würde er die Situation nochmals durchleben. Nachdem er sicheren Abstand zum Lager hatte, habe er sich in eine Weinbergmulde gedrückt und geschaut, ob es sein Freund auch geschafft hat und sich keine ungewollten Verfolger blicken ließen. Auf dem Bahnhof haben die beiden Ausreißer eine Fahrkarte gelöst und es sich im Gepäckwagon gemütlich gemacht. „Damit wir jederzeit eine Fluchtmöglichkeit hatten“, weiß Waldner grinsend. In Laas haben sie den Zug verlassen, weil in Mals die amerikanischen Soldaten patrouillierten und kontrollierten. „Drnouch seimr in 8 Toug a sou kamott in Bewässerungssystem entlong ibr die Multn hoam gongan“, erzählt Waldner sichtlich amüsiert mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. Im Herbst 1945 nahm er dann das Medizinstudium an der Universität Innsbruck auf. „Po dia zwoa Kiah drhoam konn i et bleibm, i muaß studiern gean“, dachte er sich. Das Studium absolvierte er in sechs Jahren (1951), in einer Zeitspanne, auf die wohl so mancher Medizinstudent neidisch und anerkennend blickt. Nach dem Abschluss praktizierte der frischgebackene Arzt ein Jahr im Krankenhaus von Zams und anschließend drei Jahre im Spital in Schwarzach - St. Veith. „Hier konnte ich selbstständig arbeiten und sehr viel lernen. Wissen und Erfahrungen, die mir in meiner Tätigkeit als Grauner Gemeindearzt außerordentlich nützlich waren“, sagt Waldner bestimmt. „Dou hot mr spatr nia nichts gfahlt“, ergänzt er mit leicht nachdenklichem Blick. In Schwarzach wurde ihm eine Stelle in der Chirurgie angeboten, doch es zog ihn wieder zurück in die Heimat. Nach einem Abstecher in Trens (Eisacktal) bekam er vom damaligen Grauner Bürgermeister ­Spechtenhauser das Angebot, die Gemeindepraxis zu übernehmen, nachdem sein Vorgänger nach Glurns gegangen war. In Graun praktizierte Johann Waldner rund 40 Jahre lang, bis zum Alter von 72, als er von Stefan, einem seiner Söhne, abgelöst wurde, der sich gegen mehrere Bewerber durchsetzen konnte. „Ach Gott, in dia 40 Jour hon i a Massa gseichn und drlep, und olls isch et olm guat ausgongan“, sagt Waldner mit einem leichten Anflug von Wehmut in der Stimme. Doch dann hellt sich seine Mine sofort wieder auf und lächelnd beginnt er zu erzählen. Ein Mal wurde er gegen fünf Uhr morgens nach Pedroß zu einem Patienten mit Lungenentzündung gerufen. Als er über die Stubentüre kam und fragte „Nor, wou hosch in Patient?“, antwortete die Frau „Dr sell isch Ava Maria Laitn“. Der vermeintliche Patient hatte gar keine Lungenentzündung. Seine Ehefrau hatte nachts den Ofen mit dem falschen Holz geschürt, Lärche statt Fichte, und dadurch schwitzte der Mann stark. Da er erst kürzlich an einer Lungenentzündung erkrankt war, hatte er Angst vor einem Rückfall. „Und olls lai weign di folscha Plech (Holzscheite)“, berichtet Waldner lachend und schlägt sich amüsiert mit den Händen auf die Knie. Der Arzt konnte sich zur damaligen Zeit weder auf technische Geräte, noch auf die Hilfe durch eine Krankenschwester stützen. Johann Waldner war jeden Tag, Tag und Nacht, im Einsatz und musste alles selbst erledigen. „Penicillin gab es damals noch nicht oral und Hausgeburten bei Petroleumlicht gehörten zum Alltag. Außerdem waren die Familien damals wesentlich zahlreicher“, gibt er zu bedenken. Straßen wurden erst allmählich errichtet und ausgebaut und Autos gehörten noch längst nicht zum allgemeinen Gebrauchsgut. Zu seinen Patienten nach Langtaufers ist er lange Zeit mit Schlitten und Ross gekommen; doch das Pferd zog meist nur seine Tasche und der Doktor marschierte daneben her. Zu den Greinhöfen gelangte er im Winter über den Reschensee, mit seinem Auto, das er über die Eisfläche jagte. Mitfahren wollte keiner, aber „ich düste dahin wie auf einer Landstraße“, meint Waldner schmunzelnd und seine Augen leuchten schelmisch. Neben Graun war er zehn Jahre lang auch Gemeindearzt von Schluderns und musste ab und zu zu einer Totenbeschau nach Prad. Seine Aufgabe war zweifellos ein Vollzeit-Job, doch die Arzt-Patientenbeziehung vermutlich persönlicher und freundschaftlicher. Gerne erzählt Waldner von einer Begebenheit in Pleif (Langtaufers). Als der Pleif-Bach wieder einmal über seine Ufer getreten und das Wasser auf der Straße zu Eis gefroren war, entschied sich der „olt Graunr Doktr“ trotzdem, seinen Weg fortzusetzen. Doch das Auto geriet ins Schlittern und Waldner sauste, Schnauze voran, die Wiesen hinunter. „Dann haben mir die Pleifer, Männer wie Frauen, allesamt geholfen, das Fahrzeug wieder raufzuschieben“, berichtet er stolz und versinnbildlicht seine Worte mit den Händen, die das Anschieben eines Autos symbolisieren. Die ersten Sonnenstrahlen fallen durch das Fenster und tauchen die vielen Fotos, die im Raum aufgestellt sind, in helles Morgenlicht. Diese Bilder sind mehr als Momentaufnahmen, sie sind Erinnerungen. Erinnerungen an eine vergangene Zeit und vergangene Erlebnisse. Erzählt der „olt Graunr Doktr“ von diesen, tut er es so leidenschaftlich, dass der Zuhörer das Gefühl hat, dabei zu sein. Seine Arbeit als Gemeindearzt ist eine solche Erinnerung, sie gehört bereits seit geraumer Zeit der Vergangenheit an. Heute genießt Johann Waldner sein Pensionistendasein, gemeinsam mit seiner Frau Martha, die ihm schon während seiner aktiven Zeit eine wichtige Stütze war. Die beiden sind während ihrer 50-jährigen Partnerschaft zu einem eingespielten und eingeschworenen Team geworden. Bis vor wenigen Jahren ging der „olt Graunr Doktr“ regelmäßig Skitouren, gemeinsam fuhren die beiden Rad und wedelten über die Pisten. Heute hält sich Johann Waldner durch Spaziergänge und kleine Wanderungen körperlich und durch viel Lesen geistig fit. „Außrdem iss i gearn guat, trink a Glasl Wein und rach a Zigrett“, meint der Pensionist lächelnd. „I torf, hot dr Doktr gsog“, fügt er verschmitzt hinzu. Die beiden reisen gerne und oft, Moskau, Afrika, Rom, das Heilige Land, nur um einige Urlaubsziele zu nennen. Heute geht der lebenslustige und rüstige „olt Graunr Doktr“ auf Safari, anstatt mit Ross und Schlitten Patienten in Langtaufers zu versorgen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Simone Stecher
Vinschger Sonderausgabe

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