Gib dich nicht auf...

Der Weg zurück ist lang und steinig

Publiziert in 42 / 2010 - Erschienen am 24. November 2010
Schlanders – Kampagnen, Vorträge, Info-Abende, Aufklärung: Vieles wurde und wird unternommen, um dem Problem des übermäßigen Alkoholkonsums beizukommen. Ein offensichtlich sehr schwieriges Unterfangen. Man braucht erst gar nicht die Statistiken zu durchforsten, sondern sieht es Tag für Tag, Nacht für Nacht: neben vielen Erwachsenen konsumieren auch Jugendliche und Minderjährige viel zu viel Alkohol, Mädchen nicht weniger als Buben. Trixi Ratschiller aus Schlanders kennt den Teufelskreis, in den man sich durch Alkoholmissbrauch verstrickt und in den auch die Familien der Betroffenen hineingezogen werden. Um anderen zu helfen und sie aufzurütteln, sich helfen zu lassen, hat Trixi den Mut gefasst, ihre Erfahrungen niederzuschreiben: „Vor ungefähr zweieinhalb Jahren habe ich die Tür meiner persönlichen Freiheit geöffnet. Für all jene, die mich nicht kennen, eine kurze Zusammenfassung: meine Kindheit war ein Wechselbad der Gefühle, die Jugend verlief mit Hochs und Tiefs ­einer Achterbahn, sodass ich zweigleisig mit Suchtmitteln gelebt habe und mein Leben ganz ahnungslos lebte und alles als ganz normal empfand. Mit 12, 13 Jahren war der Alkoholkonsum so ganz harmlos eingetreten, mit 14 war die Neugier des ersten Joints natürlich zu befriedigen, und mit 18 - ganz ahnungslos, aber vorprogrammiert - war der erste Schuss (Heroin) unvermeidlich. Damit begann ein ganz schrecklicher, zum Nach­machen nicht zu empfehlender Leidensweg. Tabletten, Drogen jeglicher Art, die auf dem Markt waren, alles wurde ausprobiert und damit kamen auch die Folgen: Obdachlosigkeit sagt eigentlich ja schon alles aus. Keine Arbeit, Kein Zuhause und auch nix zum Essen. Die Schmerzen der Abstinenz sind so fürchterlich, dass der einzige Gedanke, mit dem man beschäftigt ist, nur mehr jener ist, wie ich zu meinem nächsten Schuss komme. Knast und eine Reise ins Ausland waren für mich eine Verschnaufpause. Ganz turbulent ging es bei meiner Rückkehr weiter. Wollte ich alles erzählen, ließe sich ein ganzes Buch schreiben. Mir ist es vor allem ein Anliegen, mein auf meinem Lebensweg hart Erlerntes weiterzugeben und das Positive ganz deutlich zu betonen. Wir leben leider in einer nicht perfekten Welt, doch wir haben keine andere, deshalb möchte ich hier, heute und jetzt einmal ganz klar als Zeitzeugin sagen, dass wir in einem Ländchen wohnen, in dem erkrankte Menschen eine wirklich gute Unterstützung erfahren können, Nur muss man diese Unterstützung auch zulassen! Immer und immer wieder liest und hört man in den Medien von erschreckenden Zahlen und Statistiken über Alkoholmissbrauch und Suchterkrankungen und über die schrecklichen Folgen davon. Wir leben in einem Gebiet, wo Wein und Bier hergestellt, verarbeitet und zum Genuss angeboten werden. Das war früher so, heute und wird morgen genauso sein. Das ist auch ein Teil der Wirtschaft und deshalb bin ich felsenfest überzeugt, dass nicht die alkoholischen Getränke die Ursache von Suchterkrankungen sind, sondern der Mensch selbst. Ich weiß, wovon ich spreche: Egal ob Spiel, Sex, Eifer, Drogen, Alkohol usw.: dies sind alles nur schnelle Übergangslösungen, die eigentlichen Problem aber bleiben. Prävention und Aufklärung sind deshalb hier nie falsch am Platz. Die Wurzel dieses Verhaltens ist oft eine erkrankte Seele: ein kleines Wort, das aber eine überlebenswichtige Bedeutung hat. Und zwar spreche ich hier vom Selbstbewusstsein: entweder man hat ein schwaches, ein verletztes oder gar ein - aus welchen Umständen auch immer - verloren gegangenes Selbstbewusstsein. Eine schnelle Lösung, um diese Schmerzen zu lindern, ist sicher, sich zu betäuben - und am besten geht es mit Betäubungsmitteln -, doch auf dieser Suche nach sich selbst vergisst man, dass auch der Körper mit der Zeit in Anspruch genommen wird und so entsteht aus dem Suchen die Sucht. Betroffen ist davon nicht nur der Erkrankte selbst, sondern Familienangehörige, Verwandte, Freunde, Arbeitgeber und Mitarbeiter, und je nach Situation auch Mitmenschen. Solche Menschen werden in der Fachsprache Co-Abhängige genannt. Sie sind hilflos und voller Scham. Doch genau da kommt der Punkt: solche Menschen sollten Scham und Mitleid beiseite legen. So hart die Wahrheit auch klingen mag: sie sollten handeln. Ich weiß das aus eigener Erfahrung und aus verzweifelten Schilderungen aus meinem Bekanntenkreis. Allen Co-Abhängigen möchte ich Mut zusprechen: sie sind nicht alleine in dieser Situation, es gibt Fachleute, die sie verstehen und die Hilfe anbieten können. Deshalb nein zu Scham und Mitleid und ja zum Mut, den ersten Schritt zu machen, denn der Süchtige wird niemals sagen ‚bitte hilf mir!’, sondern er wird behaupten: ‚Ich habe kein Problem, es sind die anderen, die mit mir ein Problem haben!’ Schon allein das Wort Therapie löst zunächst bei den meisten eine Blockade aus. Auch von Aufklärung wollen Betroffene zumeist nichts wissen, obwohl Aufklärung sehr wichtig ist, vor allem auch über die Medien. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass mich das Wort Therapie störte, als ich es zum ersten Mal hörte, obwohl ich gar nicht wusste, was dahinter steckt. ‚Ich brauch doch keine Therapie, ich doch nicht’ sagte ich zu mir selbst. Ich bin mir sicher, dass fast jeder so gedacht hat, bevor er in Therapie ging. Im Endeffekt heißt Therapie nichts anderes als über einen Zeitraum hinweg etwas für sich zu tun, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Wenn ich krank bin, verschreibt mir der Arzt Medikamente, die für mich gut sind und so mache ich eine medikamentöse Therapie. Wenn ich auf der Suche nach mir selbst der Sucht verfalle, da gibt es unzählige Therapien zu machen. Welche die beste ist, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Für mich war der Aufenthalt im Therapiezentrum Bad Bachgart wie eine Erholung: ich war von meiner langen Lebensreise erschöpft und brauchte Erholung für meine Seele und meinen Körper, um die Lebensreise fortsetzen zu können. Ich kann nur aus Erfahrung sagen: in erster Linie Gespräche zulassen, der Rest entwickelt sich ganz von alleine. Ich bin heute soweit, dass ich den Alkohol be­herrsche und nicht er mich. Und solange nicht das Gegenteil eintritt, stehe ich zu meiner Theorie. Ich bin hingefallen und mir wurde aufgeholfen, ich bin wieder hingefallen und mir wurde noch einmal aufgeholfen. Doch ich fiel noch Mal....doch dieses Mal stand ich auf, um jenen die Hand zu reichen, die hingefallen sind. Sehr Leid tut es mir, wenn ich sehe, wie manche Menschen mit Suchtkranken umgehen. Anstatt auf irgendeine Art zu helfen - und Formen der Hilfe gibt es genug - animieren sie die Suchtkranken sogar noch dazu, weiter zu trinken. So kalt die Wahrheit auch ist: sie machen sich über solche Menschen noch lustig. Auch in Betrieben sind so manche Mitarbeiter nicht Kollegen, sondern Kollegenschweine. Auch ich habe gedacht, gute Freunde zu haben, doch diese haben mich und meine Situation eiskalt zu ihren Gunsten ausgenutzt. Den Eltern möchte ich sagen, dass sie ­ihren Sprösslingen so viel Zeit wie nur möglich widmen und nie aufhören sollen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Nicht verstehen kann ich, wenn ich sehe, wie sich 12-, 13- und 14-jährige Kinder bis spät in der Nacht herumtreiben. Das heißt nicht, dass es zu Hause nur Verbote geben soll. Aufklärung ist wichtig und das Beibringen eines gemäßigten Umgangs mit Alkohol. Teenager sollten wissen und verstehen, dass es nicht notwendig ist zu rauchen oder sich mit Alkohol ins Koma zu saufen, um cool zu sein oder um dazuzugehören. Eine große Hilfe waren und sind mir mein starker Kampfgeist und meine optimistische Einstellung. Es gibt nichts Schöneres als den Alltag nüchtern zu bewältigen und abends, wenn man noch Lust und Liebe hat und es einen Anlass gibt, ein gutes Gläschen zu genießen. Ein herzliches Dankeschön an alle, die meine Zeilen lesen. Handeln ist besser als abwarten, bis etwas Schreckliches passiert und man gezwungen ist, nachher in Reue zu leben.“ Trixi Wo gibt es Hilfe? Schlanders – Hilfe bei Suchterkrankungen gibt es in der Psychosozialen Beratungs­stelle der Caritas in Schlanders (Hauptstraße 131; Tel. 0473 621 237; E-Mail: psb@caritas.bz.it; Ansprechperson: Christian Folie) oder auch beim Kreuzbund Alkohol Vinschgau (Kontaktperson: 339 1234369). Die Selbsthilfegruppe für Alkoholabhängige (Betroffene und Mitbetroffene) trifft sich übrigens vierzehntätig: dienstags um 19 Uhr in der Beratungsstelle der Caritas in Schlanders. „Das Suchtpotential von Alkohol einschätzen lernen“ Als Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle der Caritas in Schlanders hat ­Christian Folie täglich mit dem Thema Suchterkrankungen zu tun. „Der Vinschger“: Wenn man den Sta­tistiken Glauben schenken darf, trinken immer mehr und immer jüngere Menschen zu viel Alkohol. Stimmen diese Zahlen mit Ihren Erfahrungswerten aus der Praxis überein? Christian Folie: Studien zeigen, dass das Alter des Erstkonsums bei Jugendlichen absinkt. In den Kennwerten der Praxis zeigt sich noch kein diesbezüglicher Trend Wer einen Joint raucht, wird sofort als Drogenabhängiger abgestempelt. Wer aber Alkohol genießt, ist „in“. Ist aus der Sicht der Prävention nicht auch Alkohol eine Droge? Christian Folie: Aus fachlicher Sicht ist Alkohol ebenso eine Substanz mit ­psychotroper Wirkung. Die Unterscheidung beruht auf einer iuridisch-gesellschaftlich/kulturellen Konvention! Bei welchen Anzeichen sollten Menschen, die mehr oder weniger regelmäßig zuviel Alkohol trinken, sagen: jetzt brauche ich Hilfe? Christian ­Folie: Aus fachlicher Sicht ist zu unterscheiden zwischen schädlichem Gebrauch einer Substanz und Abhängigkeit als Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation hat 1963 den Begriff der Sucht durch Abhängigkeit ersetzt. Dazu gehören ein ausgeprägtes Verlangen, der Zwang, berauschende Substanzen zu konsumieren sowie die eingeschränkte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge sowie Toleranzentwicklung. Gefährdungskonsum entwickelt sich beispielsweise bei unbedachtem, regelmäßigem Konsum, bei unreflektiertem Gebrauch zur Steigerung des Wohlbefindens usw. Warum haben Betroffene oft riesige Angst, eine Therapie anzugehen? Ist eine Therapie wirklich so schlimm? Christian Folie:  Es liegt in erster Linie nicht an der Therapie, vielmehr in der persönlichen Wahrnehmung und in der damit verbundenen Scham und Abwehr, sich die Problematik einzugestehen. In Familien, in denen Alkoholiker leben, spielen sich nicht selten jahrelange Leidenstragödien ab. Was können oder sollten Mitbetroffene tun? Christian Folie: Angehörige durchleiden Momente der Ausblendung des Problems bis hin zu belastenden Auseinandersetzungen. Ein erster Schritt ist, das Problem anzusprechen und für sich selbst fachliche Beratung in Anspruch zu nehmen. Den Indianern in Nordamerika hat das „Feuerwasser“ nicht gut getan. Braucht der Mensch überhaupt Alkohol bzw. können Sie sich ein Land ohne „Feuerwasser“ vorstellen? Christian Folie: Ein unserer Kultur angemessener Ansatz wird wohl eher darin liegen, die tradierten Einstellungen im Umgang mit Alkohol als Drogen zu überdenken und das Suchtpotential von Alkohol einschätzen zu lernen. Interview: Sepp Laner  
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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