„Der Wissenschaft verzeiht man Fehler, der Politik nicht“
LR Arnold Schuler spricht im der Vinschger-Interview über die derzeitige Corona-Durststrecke, die „Phase 2“, den Tourismus als Achillesferse, die Mitverantwortung der Bevölkerung, die Gefahren der Globalisierung und Abhängigkeit, die Szenearien der Zukunft und darüber, warum Südtirol für die Zeit nach Corona gute Karten in der Hand hat.
Plaus - Er heißt Astor, der Schäferhund des Landesrates Arnold Schuler. Auch er freut sich, dass sein Herrchen seit zwei Monaten fast immer zu Hause ist. Weniger geworden ist die Arbeit des Landeshauptmannstellvertreters seit dem Ausbruch der Corona-Krise aber nicht. Im Gegenteil. Zusätzlich zu jeweils zwei Videokonferenzen pro Tag - auch an Wochenenden - mit dem Landeshauptmann Arno Kompatscher und mit dem Gesundheitslandesrat Thomas Widmann „hängt“ Arnold Schuler als Landesrat für Bevölkerungsschutz, Tourismus sowie Landwirtschaft und Forstwirtschaft fast rund um die Uhr am Computer oder Handy. Das Thema ist immer dasselbe: das Coronavirus und seine dramatischen Folgen für die Gesundheit, die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt.
der Vinschger: Wenden sich Bürgerinnen und Bürger auch direkt an Sie?
Arnold Schuler: Ja, der eine will wissen, welche Vorschriften beim Pizza-Ausliefern zu beachten sind, der andere fragt, wann er wieder fischen darf und wieder ein anderer will wissen, wann der Hundesalon wieder öffnen darf. In dieser Krise haben alle Menschen Schwierigkeiten und Probleme. Dass das jeweils eigene Problem als das größte angesehen wird, ist menschlich und mehr als verständlich. Viele verfügen über meine Handynummer und rufen direkt an.
Können Sie immer genaue Antworten geben?
Nicht immer. Das ist auch deshalb nicht möglich, weil wir Tag für Tag mit neuen Entwicklungen, Zahlen und Situationen konfrontiert werden. Wenn Dekrete aus Rom kommen, müssen wir zunächst selbst schauen, was sie im Detail vorschreiben. Es gibt immer wieder Grauzonen mit vielen offenen Fragen. Deshalb gibt es jedes Mal, wenn neue Dekrete und Verordnungen des Staates oder des Landes erlassen werden, einen regelrechten Ansturm auf unsere Grüne Nummer 800 751 751.
Wir schreiben heute den 2. Mai. Wie bewerten Sie zum derzeitigen Zeitpunkt die Situation der gesundheitlichen Auswirkungen der Corona-Krise in Südtirol?
Der Schutz der Gesundheit und die Auswirkungen auf unser Gesundheitssystem waren während der ersten Phase der Krise die Priorität Nummer eins und bleibt es in einem bestimmten Sinn immer noch. Wir mussten zunächst darauf achten, dass unser Gesundheitswesen der Situation einigermaßen gewachsen ist und dass uns nicht alles um die Ohren fliegt, um es salopp auszudrücken.
Was meinen Sie damit konkret?
Es ging vor allem darum, eine ausreichende Zahl von Intensivbetten zu haben und das Sanitätspersonal mit entsprechender Schutzausrüstung auszustatten, in erster Linie die Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal.
Bei den Masken gab es bekanntlich Engpässe.
Zu Engpässen bei der Beschaffung von Masken, Schutzanzügen und weiteren Materialien kam und kommt es immer noch in ganz Europa und darüber hinaus. Im Nachhinein betrachtet müssen wir froh sein, dass die Krise in China abgeflaut ist und Europa von dort Schutzausrüstung erhalten hat. Es ist organisatorisch und logistisch nicht einfach, rasch zu großen Mengen an Schutzmaterial zu kommen. Die Lieferung per Schiff dauert viel zu lange, normale Transportflugzuge verkehren kaum noch und der Einsatz von Militärflugzeugen ist extrem kompliziert. Es hat in der Folge viel Kritik um zu späte Ausrüstung und die Qualität des Materials gegeben. Es ist leicht, Dinge anzukreiden, wenn man keine Verantwortung trägt und kein Verständnis für Entscheidungen aufbringt, die in Notsituationen zu fällen sind, und zwar rasch. Nachher in „warmen Patschen“ nur mit dem Finger zeigen, ist einfach.
Haben sich die Verantwortlichen, speziell jene des Bevölkerungsschutzes und des Sanitätsbetriebes, also nichts vorzuwerfen?
Hinterher sind wir alle klüger, so hätten wir manche Dinge besser kommunizieren sollen. Mit größeren Katastrophen hatte es der Bevölkerungsschutz zwar auch bisher zu tun und man hat daraus auch gelernt, aber mit einer Pandemie dieser Größenordnung hat niemand in Europa gerechnet. Eine derartige Krise gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Was kann der Bevölkerungsschutz für die Zukunft lernen?
Eine der Maßnahmen wird sicher jene sein, dass sich die Länder in Europa, und auch wir hier in Südtirol, bestimmte Reservebestände an Masken und Schutzanzügen werden zulegen müssen. Außerdem ist dafür zu sorgen, dass dieses Schutzmaterial vor Ort produziert werden kann und nicht aus China oder anderen Ländern importiert werden muss.
Fußen auch die Dekrete und Verordnungen des Landes auf die Ansichten bzw. Einschätzungen von Wissenschaftlern und Experten?
Auch wir in der Landesregierung lassen uns von Experten und Wissenschaftlern beraten. Mehr noch, wir werden im Zuge des neuen Landesgesetzes für die „Phase 2“ auch vorsehen, einen eigenen Beirat einzurichten und diesen auch mit internationalen Fachleuten zu besetzen, damit wir in Zukunft für die Bewältigung von Krisen dieser Art besser gewappnet sind.
Aber in punkto Wirtschaft entscheidet die Politik ohne die Mithilfe der Wissenschaft.
Das ist eben der Punkt. Es gibt jenen Teil der Wissenschaft, der sich mit der Gesundheit beschäftigt, jenen Teil zur Wirtschaft und die sozialen Aspekte, die mitberücksichtigt werden müssen. Der Politik obliegt es, auf diesen Grundlagen Entscheidungen zu treffen: Zudem, der Wissenschaft verzeiht man, der Politik nicht.
Wie will die Landesregierung die Wirtschaft wieder zum Laufen bringen?
Wir wollen mit dem neuen Landesgesetz einen eigenen Weg einschlagen, mit dem bestimmte Lockerungen im Vergleich zum restlichen Staatsgebiet früher ermöglicht werden sollen. Neben der Öffnung des Einzelhandels ist etwa vorgesehen, dass die Friseure und Schönheitspfleger am 11. Mai öffnen können, ebenso die Gastronomie. Auch kulturelle Tätigkeiten sollen ab dem 11. Mai wieder möglich sein und die Hotels und Beherbergungsbetriebe sollen am 25. Mai ihre Türen öffnen dürfen. Eines muss für diese und alle weiteren Lockerungen aber allen klar sein: alle Sicherheitsmaßnahmen sind strikt einzuhalten. Außerdem wird es eine Kommission geben, die den Verlauf der Infektionskurve ständig beobachtet.
Hat man in Südtirol die Krise unter dem gesundheitlichen Aspekt so stark unter Kontrolle, dass man diese Lockerungen wagen kann?
Angesichts der Entwicklung der Zahlen bis zum jetzigen Zeitpunkt sind die genannten Lockerungen vertretbar. Die Zahlen haben sich deutlich gebessert, obwohl ich hier nichts beschönigen will. So ist etwa die Coronavirus-Sterberate in Südtirol weit höher als in anderen Regionen Italiens oder in anderen europäischen Gebieten. Vertretbar sind die Lockerungen aber nur - und ich wiederhole es noch einmal in aller Deutlichkeit - wenn alle Sicherheitsvorgaben peinlichst genau beachtet werden, und zwar vom Einhalten des Mindestabstandes bis hin zum richtigen Tragen der richtigen Masken. Ohne die Mitarbeit und Mitverantwortung der Bevölkerung sind die Lockerungsschritte der Politik zum Scheitern verurteilt. Eine neue Infektionswelle wäre fatal.
Was passiert, wenn die Infektionszahl wieder steigt?
Wir werden die Zahl der Tests weiter erhöhen, um eventuelle Infektionsherde, wie sie zum Beispiel in einem Altersheim, in einem Betrieb oder in einem Hotel auftreten könnten, sofort zu lokalisieren und möglichst alle betroffenen Menschen und das gesamte Umfeld testen und alle weiteren notwenigen Maßnahmen setzen.
Wie hart das Coronavirus den Tourismus in Südtirol getroffen?
Sehr hart. Einige Betriebe werden wohl überhaupt nicht mehr öffnen. Wenn man sich vor Augen führt, wie rasant und schnell der Tourismus in Südtirol in den vergangenen Jahren gewachsen ist, wird einem klar, dass der Tourismus die Achillesferse des Landes ist. Also eine besonders verwundbare Stelle. Derzeit ist es das Coronavirus, das die Gäste ausbleiben lässt. Es sind aber auch andere Ursachen denkbar. Ich will damit sagen, dass Hand in Hand mit einem plötzlichen Einbruch der Tourismusbranche vieles in Krise gerät. Es gibt ja fast keinen Bereich, der nicht direkt oder indirekt mit dem Tourismus zusammenhängt. Außerdem bindet diese Branche landesweit weit über 30.000 Arbeitsplätze. Der Tourismus hat ganz wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung unseres Landes beigetragen und wird ganz wesentlich sein, den heutigen Standard zu halten. Es geht jetzt um das Bewältigen dieser Krise, aber auch um eine moderate Weiterentwicklung und Stärkung dieses Sektors.
Werden heuer im Sommer und Herbst überhaupt noch Gäste ins Land kommen?
Das hängt von vielen Faktoren ab und auch von Entscheidungen, die in anderen Ländern getroffen werden, zum Beispiel in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Man weiß noch nicht, in welchem Ausmaß sich eventuelle Reiseeinschränkungen auf Südtirol auswirken werden. Vieles hängt auch davon ab, wie sich die Corona-Krise in den einzelnen Ländern entwickeln wird. Rechnen muss man mit allem. Auch mit zweiten Wellen. Außer Zweifel steht, dass sich die Tourismusbranche - und nicht nur diese – auf eine Durststrecke einstellen muss. Im Tourismus kommt erschwerend dazu, dass es im Vorfeld der Eröffnung von Hotels und Gastbetrieben immer auch eine bestimmte Vorlaufzeit braucht.
Wird der Tourismus in Zukunft ein anderer sein?
Ich bin überzeugt, dass sich einiges ändern wird und auch ändern muss. Nicht nur in der Branche selbst, sondern auch in den Köpfen der Tourismustreibenden und der Gäste.
Inwiefern?
Es braucht ein allgemeines Umdenken. Die Corona-Krise bietet uns die Chance, von bisherigen Fehlentwicklungen etwas loszukommen. Ich denke zum Beispiel an die weltweiten Billigflüge, an die Kreuzschifffahrten oder auch an die Städtereisen. Millionen von Menschen werden weltweit für Kurzurlaube hin- und hergeflogen. Mit allen negativen Auswirkungen auf die Umwelt und nicht nur. Wenn es gelingt, diese Entwicklungen einzubremsen, könnte gerade Südtirol mit seinen Familienbetrieben, seiner einmaligen Natur- und Kulturlandschaft und seinen regionalen Produkten profitieren. Auf diese Stärken müssen wir setzen und wieder stärker auf das setzen, wofür wir stehen und stehen wollen.
Aber auch in Südtirol sind zum Teil große Gästemassen unterwegs, Stichwort Pragser Wildsee, Pässe, überlaufene Städte oder große Festveranstaltungen.
Auch bei uns gibt es einige kritische Punkte, bei denen Handlungsbedarf besteht, nicht Massentourismus darf unser Ziel sein. Nehmen wir nur das Beispiel Ischgl. Überall, wo es große Menschenmassen gibt, hat das Coronavirus sozusagen ein leichtes Spiel. Um große Menschenansammlungen, wie wir sie in normalen Zeiten im Sommer und Herbst auch hier in Südtirol haben, zu vermeiden, wird es heuer Einschränkungen geben. Es darf zum Beispiel nicht sein, dass tausende Menschen bei Schlechtwetter zum Freitagsmarkt nach Meran strömen, dass sich vor dem Ötzi-Museum in Bozen lange Schlangen bilden oder dass bei „Langen Freitagen“ in Schlanders - um ein Beispiel im Vinschgau zu nennen - hunderte Menschen auf engstem Raum in der Fußgängerzone gemeinsam feiern. Das muss uns schon jetzt klar sein. Eine zweite Welle gilt es auf jeden Fall zu vermeiden. Wir dürfen die Sicherheitsvorgaben auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen.
Nach den ersten sanften Lockerungen hatte man den Eindruck, dass sich die Bevölkerung zum Teil schon ein bisschen gehen lässt. Nicht alle tragen Schutzmasken.
Genau das ist jetzt das größte Problem. Oft muss ich derzeit zwar nicht nach Bozen fahren, aber wenn es trotzdem nicht anders geht, fällt mir jedes Mal auf, dass die Leute in den Städten die Sicherheitsregeln strenger und verantwortungsbewusster einhalten, als die Bevölkerung in den Landgemeinden. Das muss sich ändern.
Themenwechsel: Während viele tausende Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen bzw. ihren Job schon verloren haben, und zahlreiche Betriebe der unterschiedlichsten Wirtschaftszweige um ihre Existenz fürchten, steht die Landwirtschaft relativ gut da.
Die Landwirtschaft wurde im Vergleich zu anderen Sparten tatsächlich nur leicht getroffen. Die Bäuerinnen und Bauern konnten Gott sei Dank immer arbeiten und weiterhin produzieren. Und sie mussten auch produzieren, um die Kette der Lebensmittelversorgung nicht abreißen zu lassen. Zu den ersten Produkten, die in den Regalen in vielen Ländern fehlten, gehörten die Lebensmittel. Gerade die Corona-Krise zeigt uns, wie wichtig nicht nur die Produktion von Lebensmitteln ist, sondern auch die Selbstversorgung. Wir haben uns in vielen Bereichen abhängig von Importen gemacht, so auch in Bezug auf Lebensmittel. Europaweit gibt es nur zwei Staaten, die mehr Lebensmittel produzieren als konsumieren. Es sind dies Frankreich und Ungarn. Der Selbstversorgungsgrad Italiens ist unter 80% gesunken, jener der Schweiz auf die Hälfte. Auch Deutschland und Österreich sind Netto-Import-Länder.
Wie steht Südtirol in diesem Punkt da?
Die Eigenproduktion übersteigt den Verbrauch und wir können uns glücklich schätzen, einen Teil der Produkte exportieren zu können. Die Corona-Krise straft jetzt jene Lügen, die der Idylle einer romantischen Landwirtschaft nachhängen. Nur mit einer intensiven Landwirtschaft gelingt es, in Zeiten wie diesen genug Lebensmittel zu erzeugen. Auch auf den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln können wir nicht verzichten. Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht weiterhin um möglichst naturnahe und ökologische Anbauweisen bemühen werden.
Im Weinsektor und bei Betrieben, die Urlaub auf dem Bauernhof anbieten, gibt es aber doch Probleme.
Ja, die Vermarktung unserer Spitzenweine hat fast den Nullpunkt erreicht. Auch das hängt zum Großteil mit dem Einbruch der Tourismusbranche zusammen, weil die Hotels und Gastbetriebe als Abnehmer ausfallen. Absatzeinbrüche sind auch beim Käse zu verzeichnen, weil der Thekenverkauf in Lebensmittelgeschäften merklich abgenommen hat. Viele ziehen es derzeit vor, verpackten Käse zu kaufen. Was die Betriebe betrifft, die Urlaub auf dem Bauernhof anbieten, bin ich überzeugt, dass sie sich nach der Durststrecke relativ schnell erholen werden, weil sie eben klein strukturiert sind und jene Gäste ansprechen, die große Menschenmassen bewusst vermeiden wollen.
Was ist Ihr größter Wunsch im Zusammenhang mit dieser Krise?
Dass möglichst bald wirksame Medikamente und Impfstoffe gefunden und allen Menschen zur Verfügung gestellt werden können. Die besten Köpfe weltweit arbeiten derzeit fieberhaft daran. Wir können nur hoffen, dass sie Erfolg haben.
Wird nach der „Phase 2“ nicht doch alles wieder so weitergehen wie wir es bis zum Ausbruch der Krise gewohnt waren?
Nein, das glaube ich nicht. Es wird sich vieles ändern. Wir in Südtirol werden uns verstärkt darauf besinnen, dass unsere Wirtschaft Gott sei Dank auf mehreren Beinen steht. Wir werden umdenken, bestimmte bisherige Entwicklungen hinterfragen und uns auch überlegen, ob ein uneingeschränktes Wachstum wirklich immer das Gelbe vom Ei ist.
Was wird sich in Ihrer politischen Arbeit konkret ändern?
Wir wurden gezwungen, von einem Tag auf den anderen digital von zu Hause aus zu arbeiten, vor allem über Videokonferenzen. Das hat sich bestens bewährt und wird in Zukunft zum Teil sicher so weitergeführt. Man erspart sich viele lange Fahrten, man gewinnt Zeit und hilft der Umwelt. Viele Dinge, für die wir in normalen Zeiten Jahre bräuchten, konnten während der Corona-Zeit in ein paar Tagen umgesetzt werden.
Sehen Sie also trotz allem optimistisch in die Zukunft?
Auf jeden Fall. Wir werden diese Durststrecke bewältigen und dann verändert neu aufstehen. Südtirol hat gute Karten in der Hand, um aus dieser Krise am Ende gestärkt auszusteigen. Ein Manager von Boston Consulting sagte mir kürzlich: „Wenn es Südtirol-Aktien gäbe, würde ich jetzt solche kaufen.“