„Die Peripherie kommt zunehmend unter die Räder“
Publiziert in 41 / 2015 - Erschienen am 18. November 2015
Unmut, Unbehagen und sinkende Motivation.
„Qualität der Betreuung sinkt“. Kritik an Politik und Sanitätsbetrieb.
Vinschgau - Die zuständigen Politiker und der Sanitätsbetrieb beteuern zwar immer wieder, dass Hand in Hand mit der Reform des Gesundheitssystems die Versorgung in den Gemeinden aufgewertet und die Peripherie gestärkt werden sollen, aber in Wahrheit geschieht derzeit in vielen Punkten das genaue Gegenteil. So jedenfalls werten die Vinschger Hausärzte/innen Bettina Skocir, Monika Scherer, Georg Valentin Hofer, Stefan Waldner, Toni Pizzecco, Ugo Marcadent und Wunibald Wallnöfer die derzeitige Lage. In einem Gespräch mit dem der Vinschger legten sie die Finger in viele offene „Wunden“. Diese zu heilen, sei der Politik und dem Sanitätsbetrieb bislang nicht gelungen. Es brenne an vielen Stellen. „Wir haben den Eindruck, dass die Gesundheitsversorgung in den Gemeinden, wie sie während der vergangenen Jahrzehnte aufgebaut wurde, Stück für Stück zerbricht“, befürchten die Hausärzte. Und auch mit konkreten Beispielen warten sie auf. Großes Kopfzerbrechen bereitet den Ärzten die geplante Höchstgrenze von Patienten pro Hausarzt.
„Es geht uns nicht um das Geld“
„Es geht uns nicht um das Geld. Mit 1.575 Patienten sind wird absolut zufrieden,“ stimmen die Hausärzte überein. Es seien vielmehr die Patienten, die darunter zu leiden haben werden, und dies aus mehreren Gründen. Zum einen lassen sich bei weitem nicht in allen Gemeinden Gemeinschaftspraxen errichten, denn viele Gemeinden, auch im Vinschgau, sind dafür zu klein. Oder aber es fehlen die Ärzte. Stefan Waldner zum Beispiel wäre froh, wenn in seiner Gemeinde Graun eine Gemeinschaftspraxis errichtet würde: „Wir wären dafür jederzeit bereit. Auch von den Räumlichkeiten her wären wir gerüstet. Das Problem ist, dass sich kein zusätzlicher Hausarzt findet.“ Die Leidtragenden seien die Bürger, denn sie sehen sich gezwungen, sich bei Hausärzten in anderen Gemeinden eintragen zu lassen. Es kommt auch vor, dass dadurch Familien getrennt werden, sprich nicht mehr denselben Arzt haben können. Erschwerend hinzu kommt im Oberland, dass zum Beispiel Saisonarbeiter, die in der Schweiz beschäftigt sind, sich nach der Saison nicht mehr beim bisherigen Hausarzt anmelden können, und den nächsten „freien“ Arzt finden sie erst in Gemeinden, die von der ihrigen ziemlich weit entfernt sind. „In rund 10 Jahren werden ca. zwei Drittel der derzeitigen Vinschger Hausärzte im Ruhestand sein“, prognostiziert Bettina Skocir. Sie stimmt mit ihren Arztkollegen/innen darin überein, dass die zuständigen Politiker seinerzeit geschlafen und alles eher als Weitblick an den Tag gelegt hätten.
Ärzteflucht
Eine Ärzteflucht sei laut Skocir nicht nur im Krankenhaus festzustellen, sondern auch im Territorium, in der Peripherie. Den derzeitigen politisch Verantwortlichen werfen die Ärzte vor, die Peripherie nicht aufzuwerten, wie sie das gerne propagieren, sondern sie schrittweise zu untergraben. „Man will überall sparen und nimmt in Kauf, dass die bisherige Qualität der Betreuung in den Gemeinden einbricht“, ärgern sich die Ärzte. Laut Pizzeccco und Maracadent werden jährlich 2.350 Euro pro Südtiroler für die Gesundheit ausgegeben. Italienweit seien es 1.800 Euro, wobei davon aber 6% in die Basismedizin fließen, während es in Südtirol nur knapp 5% sind. Einig sind sich Wunibald Wallnöfer und seine Mitstreiter auch darin, dass eines der großen Ziele der Gesundheitsreform, nämlich die Entlastung der Erste-Hilfe-Stationen, mit den derzeit angedachten Neuerungen nicht erreicht werden kann. Im Gegenteil. Wallnöfer: „Bisher war es so, dass wir als Hausärzte nicht unerheblich dazu beigetragen haben, dass Patienten nicht für jede ‚Kleinigkeit’ in die Erste Hilfe kamen.“ Enttäuscht und verärgert sind die Hausärzte auch darüber, dass zum Thema der Ausübung der Notfallmedizin bis dato noch keine Lösung auf dem Tisch ist. Bereits Ende Juli 2015 hatte der Sanitätsbetrieb den betroffenen Hausärzten mitgeteilt, „dass die Ausübung der Notfallmedizin auf dem Territorium mit dem neuen gesamtstaatlichen Kollektivvertrag und dem entsprechenden neuen Landeszusatzvertrag nicht vereinbar ist.“ Was das konkret bedeutet, schilderte der Gemeindearzt von Stilfs, seines Zeichen auch Anästhesist und ausgebildeter Notarzt: „Wenn jemand zum Beispiel in meinem Nachbarhaus einen Herzinfarkt erleidet, werde nicht mehr ich verständigt, sondern der Notarzt in Schlanders oder der Rettungshubschrauber, und zwar über die Notrufnummer 118.“
Problem Notfallmedizin
noch nicht gelöst
Seit Juli bis jetzt könne er in mindestens 5 Fällen nachweisen, dass der Hubschrauber in die Gemeinde Stilfs geschickt wurde, obwohl es nicht notwendig gewesen wäre. Hofer erinnert auch daran, dass eine Flugminute ca. 120 Euro kostet. Außerdem weisen er und Waldner darauf hin, dass ziemlich viel Zeit vergehen kann, bis der Notarzt mit dem Fahrzeug von Schlanders nach Sulden, nach Langtaufers oder nach Reschen kommt. „Die Leute wissen mittlerweile, dass es lange dauern kann, bis der Notarzt kommt. Dass sich da Angst breit macht, ist nicht verwunderlich,“ so Waldner. Auch bei der Notfallmedizin auf dem Territorium gehe es keineswegs um die ca. 200 Euro brutto, die pro Einsatz gezahlt werden. Wallnöfer und Skocir: „Wir sind froh, dass wir jetzt ruhige Nächte verbringen können.“ Dabei ist Wallnöfer überzeugt, „dass rund die Hälfte der Fälle vor Ort gelöst werden könnte.“ Wovon die Hausärzte überhaupt nichts halten, ist das Ansinnen, möglicherwiese auch in der Peripherie eine sogenannte „Guardia medica“ für den Nacht- und Wochenenddienst einzuführen, und zwar ebenfalls aus Spargründen. Laut Monika Scherer und weiterer Hausärzte könnte es in so einem Fall wieder vermehrt dazu kommen, dass Menschen in Notfällen auf Privatautos zurückgreifen, um direkt ins Spital zu kommen, weil sie die „Guardia medica“ nicht kennen und somit auch über keine Vertrauensbasis verfügen. Zusätzlich zu den genannten Anliegen gibt es noch eine ganze Reihe anderer Probleme, mit denen sich die Hausärzte im Interesse der Patienten konfrontiert sehen: die Betreuungskontinuität von Palliativpatienten, die mangelnde Förderung von Gemeinschaftspraxen, ein nach wie vor fehlender allgemein verpflichtender Leistungskatalog und andere Punkte im neuen Arbeitsvertrag.
„Nur das Budget im Blick“
Was Wallnöfer insgesamt bemängelt, ist „dass die Verantwortlichen nur das Budget im Blick haben, und weniger das Bemühen für wirkliche Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung auf dem Land.“ Dass diese Entwicklungen die Motivation und den Idealismus der Hausärzte nicht gerade fördern, dürfte allen einleuchten. Sepp

Josef Laner