„Diese Straße macht uns alle fertig“
Publiziert in 34 / 2010 - Erschienen am 29. September 2010
Tartsch – Das Leben an und mit der Straße hat ihn und seine Familie gezeichnet. „Ich verstehe nicht, warum man hier bis heute nichts getan hat“, klagt der fast 77-jährige Andreas Eberhöfer aus Tartsch, vulgo Stocker-Hans-Ander. Rund 1.000 Jahre alt ist sein denkmalgeschütztes Haus. Die 4 Meter lange Bank vor dem Gebäude, auf der früher sein Vater, der Stocker-Hans, fast täglich mit Nachbarn zusammen saß und „hoangarte“, ist längst verschwunden. Der Verkehr hat alles „aufgefressen“. Die Gemeinde Mals hat den Weg für den Bau eines Unterflurtunnels zwar geebnet und ihre Hausaufgaben gemacht, doch eine Umsetzung des Vorhabens ist derzeit nicht in Sicht. Der Stocker-Ander gibt sich resigniert: „Es ist, als wären wir niemand.“ Im Dialekt klingt es noch stärker: „Dia Stroß mocht ins olle ferti, des isch koan Sein mear.“
von Sepp Laner
Als der Ander noch jung war, fuhr nur selten ein Auto oder Fuhrwerk am „Haus Nr. 13“ vorbei. „Damals war das noch immer ein Ereignis und wir freuten uns über jedes Fahrzeug“, erinnert er sich. Seine Kinder- und Jugendzeit war - wie für viele andere der damaligen Zeit auch - schwer und entbehrungsreich. Er war dreieinhalb Jahre alt und seine Schwester Marianne um zwei Jahre älter, als ihre Mutter im Alter von 31 Jahren starb. Der 76-Jährige macht kein Hehl daraus, wie groß die Not damals war: „Der Vater brachte uns zunächst zum Stockerhof auf Muntetschinig. Unsere Großmutter stammte von diesem Hof, auf dem ich mich immer sehr wohl fühlte.“ Das „Haus Nr. 13“ hatte einst ein österreichischer Heeresoffizier geerbt, „doch als wir ‚walsch wurden’, verließ er Italien und die Großmutter kaufte das Haus zurück“, erzählt Ander. 1944 musste sein Vater einrücken. „Ich war 12, die Schwester 14. Mein Vater hatte eine Kuh, 3 Hennen, ein Schwein und 11.000 Lire Schulden. Eine Kuh kostete damals zwischen 700 und 800 Lire“, erinnert sich Ander. Aus der Hoffnung des Vaters, nicht in den Krieg ziehen zu müssen, zumal er als Witwer auf seine zwei Kinder und das Vieh zu schauen hatte, wurde nichts. Die Kinder wurden von einem Freund des Vaters betreut. Die Zeit als Soldat dauerte Gott sei Dank nicht lang.
Unvergessen bei Ander und Marianne bleibt die frühere Kost: „Milch und Broat, Erdäpfelgreascht und Brennsupp.“ Bauer werden wollte der Ander eigentlich nie - sein Traumberuf war immer Zimmermann - doch dem Vater widersprechen wollte er auch nicht und so übernahm er dennoch die kleine Bauernschaft. Im Alter von 40 Jahren heiratete er die Wagner-Christl aus Burgeis. Sie brachte sechs Kinder zur Welt, eines davon starb 3 Tage nach der Geburt infolge eines Herzfehlers. Seine Frau nennt der Ander liebevoll ein „goldigs Waib“. Sie habe alles gemacht, im Haus wie im Stall, „und wenn ich manchmal auf die Jagd ging, nahm sie die 5 Kinder mit in den Stall.“
Das für den Unterhalt der Familie notwendige Zubrot verdiente sich der Ander ab Oktober 1972 als erster Maschinist auf dem Watles. Er und der Stocker-Joggl waren die ersten Watles-Angestellten überhaupt. 5 Jahre später wechselte Ander zur Fürstenburg, wo er insgesamt 22 Jahre im Glashaus (Gärtnerei) und auch als „Mädchen für alles“ arbeitete. 1996 trat er in den verdienten Ruhestand.
Keine Ruhe aber finden er, seine Frau, seine Schwester und weitere Familienmitglieder im Haus an der Straße. Was sich dort im Laufe der vergangenen Jahrzehnte alles abgespielt hat, klingt zum Teil unglaublich. Die Zeiten, als die Kinder noch vor dem Haus „spickerten“ oder die „Sau trieben“, sind schon längst nur mehr Erinnerungen. Als sein Sohn Hansjörg einmal als kleiner Bub durch die Haustür rannte und ganz unbekümmert über die Straße lief, holte ihn sein Vater in den Hausflur und bläute ihm ein- für allemal ein, dass da draußen große Gefahr lauert. Um den Gefahren einigermaßen auszustellen, errichtete Ander auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses einen zusätzlichen Eingang.
Auf der Straße habe er im Laufe der Jahre allerhand aufgehoben, „auch Verletzte und sogar Tote.“ Die Liste der Eposiden ist lang. Sie reicht von einem Unfall, bei dem ein Alpini-Soldat aus dem Fahrzeug geschleudert und getötet wurde, bis hin zu unzähligen Unfällen mit teils erheblichen Schäden am „Haus Nr. 13“, an weiteren Gebäuden und auch an der Kirchenmauer. Lebhaft in Erinnerung geblieben ist ein Lastwagen-Unfall Anfang der 70er Jahre. Ein in Richtung Reschen fahrender Lkw mit Anhänger, der 13 je rund 500 Kilogramm schwere Papierrollen geladen hatte, kam von der Fahrbahn ab, „hangelte“ am Haustor ein und versetzte die Hausmauer um 25 Zentimeter. Auch das am Haus angebrachte Holzkreuz kam unter die Räder. Die letzten Teile davon sammelte Ander am Tag nach dem Unfall auf. Das Kreuz, das er restaurieren ließ, stammt aus dem Jahr 1630: „Damals griff die Pest um sich und bei jedem Haus, aus dem die Pest niemanden ‚herausgeholt’ hat, wurde ein Kreuz angebracht.“
Im „Haus Nr. 7“ fuhr Ende der 60er Jahre ein Panzer in das Zimmer, in dem eine Frau schlief. Die Chroniken schwerer Unfälle in Tartsch ließen sich beliebig fortsetzen, und zwar bis heute. Was weniger ins Auge fällt, für die Betroffenen aber sehr schwer wiegt, ist die tagtägliche und nachtnächtliche Belästigung. Ander: „Es ist zwar nicht immer schlimm, aber wenn nachts ein Lkw die Radsteine der Straße streift oder eine Mauer, rennen wir jedes Mal erschrocken vom Bett auf.“ Und bis man wieder - wenn überhaupt - einschlafen kann, dauert es lange.
Besonders arg zugesetzt habe seiner Schwester Marianne der Unfall mit den Papierrollen. Auch er und seiner Frau machen die Belastungen stark zu schaffen: „Unser Schlafzimmer liegt auf der Seite zur Straße hin.“ Dass „die Bettstott nagglt, dr Koschtn zittert und die gonze Hitt fibriert“ sei alles eher als selten. Um wieder einmal am Haus entstandene Schäden ersetzt zu bekommen, habe er einmal auch den Gerichtsweg eingeschlagen. Nach 8 Jahren Streit habe er zwar etwas bekommen, „der Rechtsanwalt aber das Doppelte.“ Eine Sanierung des Hauses sei vor allem aufgrund der hohen Kosten kaum vorstellbar. Hinzu kommt, dass das geschichtsträchtige Haus mit gewölbtem Gang, gewölbter Küche und Stube mit Bohlenwänden im Erdgeschoss sowie mit einer Stube mit Renaissancetäfelung im ersten Stock seit 1978 unter Denkmalschutz steht. Als es erbaut wurde, dacht niemand an so etwas wie Verkehr. Es gibt kein Fundament, keine Eisenteile und keine gedämmten Mauern. Die Straße vor der Haustür hingegen wurde immer wieder erhöht. Ander: „Als ich klein war, konnte ich auf dem Türstock sitzen und die Füße baumeln lassen und jetzt rinnt das Wasser bei der Haustür herein.“ Als vor etlichen Jahren ein Gehsteig gebaut wurde, „musste ich mich mit Händen und Füßen wehren, dass er nicht zu schmal ausfiel.“ Bei diesen Arbeiten sei es auch zu Bauschäden gekommen.
Was der Ander nicht verstehen kann, ist, dass der Missstand seit Jahrzehnten andauert und dass sich nichts tut: „Der Landeshauptmann, mit dem ich einige Male auf die Jagd ging und der unser Haus und unsere Situation sehr wohl kennt, könnte sich hier schon etwas mehr einsetzen.“ Im Dialekt: „In Londeshauptmonn honn i sischt gearn, weil orbatn tuat er schun, obr fir ins do kannt’r mea tian. Mir kimmp krot fir, als waarn mir neamand.“ Kritik übt der Ander auch an Bautenlandesrat Florian Mussner: „Sischt hott’r Geld gnua, fir ins Vinschgr obr koans.“ Der Malser Gemeinderat hatte im April 2009 - kurz vor den Gemeinderatswahlen - einstimmig beschlossen, für die Umfahrung von Tartsch die „Variante 2“ (Unterflurtunnel nördlich des Dorfes) in den Bauleitplan einzutragen. Später kam es erneut zu Diskussionen bezüglich der Varianten und auch einer möglichen „großen Umfahrung“. Die Gemeinde ihrerseits hat die Hausaufgaben laut Bürgermeister Ulrich Veith gemacht, „alles was wir jetzt tun können und auch tun, ist es, politisch Druck auszuüben, damit der Unterflurtunnel finanziert und auch gebaut wird.“ Eines der Hauptprobleme ist sicher die Finanzierung. Der Landeshauptmann - und nicht nur er - hat schon des Öfteren angekündigt, dass im Vinschgau die Umfahrung Kastelbell-Galsaun oberste Priorität hat.
Der Stocker-Ander ist überzeugt, dass jene, die auf eine „große Umfahrung“ hoffen, „noch sehr, sehr lange warten müssen.“

Josef Laner