Eine einmalige Wohngemeinschaft
Publiziert in 15 / 2007 - Erschienen am 26. April 2007
Kein fließendes Wasser, keine Heizung, kein Telefon, keine sanitären Anlagen im Haus. Dies klingt unwirklich, wie ein Szenario aus längst vergangenen Zeiten. Aber für fünf Brüder aus Langtaufers bedeutet dies Normalität und Alltag. Doch trotz der schwierigen Bedingungen haben die eingefleischten Junggesellen ihren Humor und ihre Lebensfreude nicht verloren, mit denen sie Einblick in ihre Welt gewähren.
Von Simone Stecher (sist)
Die schlichte Holztür, über der die Hausnummer 12 angebracht ist, öffnet sich knarrend und gibt den Blick auf einen düsteren, kühlen Hausflur frei. Durch ein schmales Fenster fällt ein wenig Licht und lässt zwei schmale, steile Holztreppen erkennen, die in den Keller und die Schlafkammern führen. Auf den ersten Blick erscheint das alte Haus verlassen und unbewohnt, doch aus einem anderen Raum, der Stube, dringen Männerstimmen und tiefes Gelächter. Die fünf „Flirn-Buabm“ sitzen um den Ofen, diskutieren und scherzen miteinander.
Josef (75), Konrad (73), Franz (72), Hermann (70) und Richard (68) Patscheider wohnen schon seit ihrer Kindheit in diesem Haus. „Das ist eine steinalte Burg“ sind sie sich einig, dennoch haben sie sie liebgewonnen. Es war Anfang des 18. Jahrhunderts, als ihr Großvater dieses Gebäude in Pedross gekauft hat. Hier wuchsen die sieben Geschwister auf. Der Älteste, Anton, lebte bis zu seinem Tod 1997 ebenfalls mit seinen Brüdern. Einzig ihre Schwester Anna hat geheiratet und das Elternhaus verlassen. Wie alt das Haus wirklich ist, weiß keiner so genau. „Es war schon nicht mehr jung, als es unser Großvater gekauft hat“, erzählt Franz. Der schön verzierte Schrank im Flur, auf dem die Jahreszahl 1791 eingeritzt ist, lässt das Alter des Gebäudes allerdings erahnen. „In keinem von uns steckte Baulust“, erklärt Josef mit einem Schmunzeln. „Kommt der Tag, bringt`s der Tag“, fügt er hinzu. Deshalb ist das Haus auch noch im Originalzustand. Das Wasser müssen die Brüder von einem Brunnen holen, denn fließendes Wasser aus dem Wasserhahn, normalerweise eine Selbstverständlichkeit, gibt es hier nicht. Dementsprechend kennen die „Flirnan“ auch Waschmaschine, Toilette oder Dusche nur vom Hörensagen. Trotzdem ist das Haus sauber und aufgeräumt. Die schweren, klobigen Arbeitsschuhe stehen fein säuberlich aufgereiht in der Ecke. Die Brüder sitzen alle in ihren Wollsocken um den Ofen, das Herzstück der Stube. Dieser Ofen, der vor vier Jahren erneuert wurde, ist an kalten Wintertagen der einzige Wärmespender. Denn nur in der Stube und der Küche kann mit Holz geheizt werden. Die Schlafkammern bleiben kalt. „Wenn die Winter streng sind, in Langtaufers kann das durchaus vorkommen, ist es oft schon eisig“, sagt Josef. „In jungen Jahren hätte ich einem jeden die Heizung nachgeworfen“, setzt er lachend fort. „Das Alter macht sich auch bei uns bemerkbar,“ meint Hermann mit einem Anflug von Wehmut in der Stimme.
Glücklicherweise haben die Brüder wenigstens Strom. Aber irgendwelche modernen technischen Geräte anzuschaffen, daran sind sie nicht interessiert. Ein Kühlschrank und ein kleines, altes Radio sind die einzigen, auszumachenden „Luxusgüter“. Mit dem Radio halten sie sich auf dem Laufenden, was in der Welt so passiert. Auch wenn die fünf Geschwister in gewisser Weise abgeschieden und in der Vergangenheit leben, so führen sie doch kein Einsiedlerleben. Fernseher wollen sie aber keinen, „dann wird nicht mehr miteinander geredet, weil jeder in diesen Kasten glotzt“, meint Franz ernst. Regelmäßig erhalten sie ein Mahnschreiben, in dem sie aufgefordert werden, endlich die RAI-Gebühren zu entrichten. „Doch wir bezahlen nicht für etwas, das wir gar nicht besitzen“, sagt Josef sichtlich amüsiert.
Die Brüder haben ohnehin ihren eigenen Rhythmus. Konrad steht jeden Tag um fünf Uhr auf, die anderen folgen bald. Wecker brauchen sie keinen. Die Arbeit hat die eingeschworene Gemeinschaft untereinander aufgeteilt, „jeder weiß was er zu tun hat und hilft überall mit“, erklären sie einstimmig. Sie sind den ganzen Tag über stetig und langsam am Werkeln. Was sie vor dem Mittagessen nicht schaffen, machen sie halt danach. Franz, eigentlich Schneider, ist der Hausmann und das Herz der Wohngemeinschaft. Er erledigt den Großteil der Hausarbeit und kocht für die Geschwister. Die Küche ist alles andere als luxuriös. In dem kleinen Raum ist es stockdunkel und kalt. Nur durch ein winziges Fensterchen dringt ein kleiner Lichtstahl ins Innere und lässt den alten Herd, eine Anrichte und einen kleinen Tisch erkennen. Die Decke ist niedrig und schwarz, der Boden aus Erde und uneben. Der spärliche Platz ist optimal ausgenutzt: die Regale sind mit Geschirr vollgestellt, unter der Anrichte stehen Wasserkannen, und in einer Ecke sind Holzscheite aufgetürmt. Nur der große, weiße Kühlschrank ist wie ein Fremdkörper in diesem spartanischen Umfeld. Dennoch wirkt die düstere Küche ordentlich, die alten Eisenpfannen hängen der Größe nach an ihrem Platz, ebenso die Kellen. Dieser Raum versprüht seinen eigenen Charme. Hier zaubert Franz seine herrlichen Gerichte. „Dem Franz kann keine Hausfrau so schnell das Wasser reichen. Er kocht sparsam und wirklich lecker“, erzählt Hermann stolz. „Wenn man auf den Tisch blickt, weiß man immer genau, welcher Wochentag ist“, ergänzt Josef grinsend und seine Augen blitzen schelmisch. „Am Sonntag gibt es immer Braten mit Kartoffeln. So ein Wochenplan ist einfach praktisch“, gibt der Koch Auskunft. Zum Einkaufen wird meistens Hermann geschickt, der sich dann zu Fuß nach Graun aufmacht. Denn Auto besitzen die Brüder keines. Die Fünf sind eingefleischte Junggesellen. Haben sie auch manchmal ans Heiraten gedacht, so hat es sich irgendwie nie ergeben. „Da hätte schon der Pfarrer mit der Frau bis ins Haus kommen müssen! Wir haben einfach zu lange gewartet und irgendwann war die Chance dann vorbei“, berichtet Franz. Aber wirklich traurig scheint keiner darüber zu sein, sie sehen auch dies mit Humor und Realismus.
Aber die Brüder teilen nicht nur ihr Singledasein, sondern auch die Liebe zu den Tieren. „Wir sind alle richtige Viehnarren“, sagt Bauer Josef. Sie bewirtschaften auch noch im hohen Alter zwei Höfe und versorgen insgesamt rund 27 Stück Vieh. Konrad besitzt kein Vieh. Der Tischler lebt seine Leidenschaft für die Tiere als passionierter Jäger aus. „Ich beobachte das Wild lieber, als es zu schießen“, berichtet er. Die etwa 8 Hektar Grund bestehen hauptsächlich aus steilen Hängen. Die Arbeit müssen sie von Hand erledigen; lediglich ein Transporter und zwei Mähmaschinen erleichtern die anstrengende Tätigkeit etwas.
Am Abend, nach verrichteter Arbeit, sitzen sie gerne beisammen, „hoangerten“ oder liegen hinter der Ofenbank. Manchmal spielen sie auch Karten. Regelmäßig kommt der Nachbarsjunge vorbei um mit den lustigen Männern „zu sockn.“ „Der Kontakt mit den Jungen hält einen auch selbst jung“. Davon sind sie alle überzeugt. Gäste sind im Haus Patscheider stets willkommen. Die Brüder sind keine mürrischen Einsiedler, sondern äußerst gastfreundlich. Hermann serviert gerne Gebäck und Eierlikör um mit dem Besuch anzustoßen. „Ich esse auch gerne mal ein Stück Schokolade oder ein paar Kekse zu meiner Milch am Abend“, erzählt er und seine Gesichtszüge erinnern dabei an einen kleinen Jungen, der von etwas Besonderem spricht.
Die Geschwister bezeichnen sich als „treue Heimatkühe“. Haben sie auch einige Jahre in der Fremde verbracht, hat es doch alle wieder nach Hause gezogen. Hier wollen sie gemeinsam ihren Lebensabend verbringen. Dass sie jederzeit von der Realität eingeholt werden können, ist ihnen allen bewusst. Tickt die Uhr bei den „Flirnan“ auch etwas langsamer, gingen die Spuren des Alters nicht an ihnen vorüber. Franz hat Krebs, Richard ist schwerer Diabetiker und Hermann hat sich nie von den Folgen eines Unfalls erholt. Als junger Mann wurde er von einem Auto angefahren. „Der eine ist um den anderen froh“, bemerken sie einhellig. Hat auch jeder einen eigenen Sturkopf und kocht gerne allein sein Süppchen, sind sie doch ein eingespieltes Team, das eisern zusammenhält. Fällt die hölzerne Eingangstür ins Schloss, scheint die Zeit schneller zu verrinnen, und die wirkliche Welt holt einen wieder ein. Doch was bleibt ist der Eindruck von fünf zufriedenen, bescheidenen, lebensfrohen Brüdern, die der schnelllebigen, technokratischen Gesellschaft trotzen und ihren eigenen Lebensrhythmus gefunden haben.
Vielleicht ist eine Welt, die so unwirklich scheint oder Erzählungen, die wie aus dem Geschichtsbuch klingen, das, was die „Flirnan“ so besonders macht. Wahrscheinlich ist es aber die Tatsache, dass sie so sind, wie sie sind und ihr Leben so führen, wie sie es tun.
Simone Stecher