“Grenzen in den Köpfen abbauen”
Publiziert in 22 / 2004 - Erschienen am 18. November 2004
[F] Georg Fallet vertritt in Chur als Großrat das Münstertal mit den Gemeinden Müstair, Sta. Maria, Valchava, Fuldera, Lü und Tschierv (zusammen 1800 Einwohner). Seit er die höchste politische Funktion im Münstertal inne hat, hat sich einiges geändert.
Interview: Brigitte Thoma
Foto: Erwin Bernhart [/F]
"Der Vinschger": Was verbindet Sie persönlich mit dem Vinschgau?
Georg Fallet: Meine Mutter ist eine Vinschgerin, sie ist gebürtig aus Matsch. Im Beruf arbeite ich viel mit Vinschgern zusammen. Auch durch die Musikkapelle, die von Roberto Donchi aus St. Valentin geleitet wird, habe ich eine starke Verbindung mit dem Tal – aber eigentlich mehr privater Natur.
Trotz der unmittelbaren Nachbarschaft ist das politische System der Schweiz vielen Vinschgern nicht bekannt. Könnten sie ihre persönliche Funktion kurz beschreiben?
Im Münstertal sind sechs Gemeinden, welche politisch autonom sind. Das Münstertal ist organisiert im Regionalverband – Corporaziun Regiunala Val Müstair - und ich stehe diesem als Präsident vor. Wir arbeiten eng zusammen mit dem Regionalverband Unterengadin. Die Gemeindeverbände werden in Zukunft eine größere Rolle spielen, als Ansprechpartner für den Kanton. Als Talschaftspräsident bin ich gleichzeitig gewählter Großrat, ähnlich einem Landtagsabgeordneten in Südtirol. Ich vertrete das Münstertal in Chur, wo 120 Großräte im Kanton Graubünden die Bevölkerung vertreten. Aufgrund der niedrigen Bevölkerungszahl stellt das Val Müstair nur einen Großrat.
Es herrscht eine reger Austausch von Arbeitskräften. Viele Vinschger arbeiten im Münstertal. Stimmt es, dass im Münstertal die Arbeit abnimmt?
Ja. In den letzten 20 bis 30 Jahren war sehr viel Arbeit. Wir wurden von Bund und Kanton großzügig unterstützt. Man bekam Geld für öffentliche Arbeiten, ich denke an die Meliorierung, an die Forst usw., es konnte viel gebaut und gemacht werden. Arbeitsplätze wurden aufgebaut und konnten erhalten werden. Bund und Kanton leiten nun drastische Sparmaßnahmen ein. Schmerzhaft wird uns heute bewusst, in welcher Abhängigkeit wir leben. Arbeit und Arbeitsplätze sind in Gefahr, denn relativ viele Arbeitsplätze werden von der öffentlichen Hand getragen. Es hat zu wenig Unternehmungen im Tal, welche nicht vom lokalen Markt abhängig sind. Wir haben mittlerweile gute öffentliche Infrastrukturen. Auch dort wird deshalb weniger investiert. In Zukunft muss das Münstertal versuchen, vermehrt auf eigenen Füßen zu stehen, um nicht mehr so stark von Bund und Kanton abhängig zu sein. Ein neues Wirtschaftsförderungsgesetz wurde vom Kanton verabschiedet. Es braucht jedoch mutige, unternehmungsfreudige Leute, welche bereit sind, Risiken einzugehen und innovative Investitionen zu tätigen.
Das Biosphären-Reservat Val Müstair/Parc Naziunal. Was ist das?
Ein Label, das von der Unesco vergeben wird. Bio ist gleich Leben, Sphäre ist gleich Raum. Reservat bedeutet erhalten. Am Anfang hat dieses Projekt viele Diskussionen und teils auch negative Emotionen ausgelöst. In einer operativen Projektleitung wurden dann aber die verschiedenen Interessensgruppen eingebunden, in denen die ganze Bevölkerung des Tales vertreten ist. Die Biosphäre besteht aus drei Zonen, einer Kernzone als absoluter Schutzzone, dem heutigen Nationalpark. Dann gibt es eine Pflegezone, das sind Gebiete, welche nur extensiv bewirtschaftet werden dürfen, wie z. B. das Val Mora. Dann noch die Zone, in der gewirtschaftet werden kann. Ein großer Vorteil ist das Kloster St. Johann in Müstair, welches bereits zum Weltkulturgut der Unesco gehört. Ich denke dass dies eine große Chance für das Tal ist. Viele Leute hatten Angst, dass mehr Gesetze gemacht werden. Aber durch Richtlinien, die wir selber bestimmen, soll das Biosphärenprojekt zu einem von der Bevölkerung getragenen und zukunftsgerichteten Projekt werden, welches unser Tal zu größerer Bekanntheit verhelfen soll. Ende 2005 wollen wir den Antrag in Paris stellen.
Eine Abwanderung der jungen Generation aus dem Münstertal ist zu beobachten. Was sind die Ursachen?
Die Lehrstellen sind sehr rar im Tal. Gewisse Sachen wurden in der Vergangenheit verpasst. Nur bestimmte Berufsarten wurden gefördert. Eine kleine Talschaft wie das VM kann natürlich nur eine beschränkte Anzahl an Arbeitsplätzen stellen. Vor allem im Tourismus wurden viele Stellen von Vinschgern besetzt, als Servicekräfte oder Köche. Das ist durchwegs positiv, aber auch diese Berufssparte wäre interessant für Einheimische. In Zukunft sollen solche Berufe im Gastgewerbe gefördert werden. Auch im Winter soll das Münstertal für den Tourismus erschlossen werden und vor allem das vorhandene Skigebiet an notwendiger Attraktivität gewinnen, damit Arbeitsplätze geschaffen und erhalten werden können.
Bei der Volksbefragung im September haben vor allem die Grenzregionen gegen die Einbürgerung von Ausländern gestimmt. Nicht gerade EU-freundlich.
Dazu kann ich nur meine persönliche Meinung äußern. Ich war enttäuscht, als ich von diesem Ergebnis gehört habe, wie unsere Leute abgestimmt haben. Vor allem im Kanton Graubünden, welcher ein Tourismuskanton ist und viele Gastarbeiter hat. Der Kanton beschäftigt sehr viele Ausländer schon sehr lange. Es wurde eine Angstmache betrieben, die leider zu dieser Abstimmung geführt hat. Wir haben aber eine von der Demokratie stark geprägte Politkultur und als Politiker müssen wir dem Rechnung tragen und auch akzeptieren können, wenn das Volk anders abstimmt, als man dies gern hätte.
Den Tauferer Kindergarten besuchen auch Kinder aus dem Münstertal. Was sagen sie dazu?
Das Tal muss anfangen, ganz anders zu überlegen, sich zu öffnen und sich anders auszurichten. Zu lange haben wir mit der Grenze gelebt und diese auch immer als solche empfunden. Das Münstertal wird von vier Grenzen umgeben, von zwei Bergketten, dem Ofenpass und der Landesgrenze. Früher haben wir immer nach Chur geschaut, von dort kam die Unterstützung und die finanzielle Hilfe. Uns ist es immer gut gegangen. Wenn wir aber auf eigenen Füßen stehen wollen, müssen wir überlegen, wie wir das angehen, was wir in Zukunft anders machen wollen.
Schengen im Münstertal?
Man fing an, sich besser kennen zu lernen, vor allem in den Interreg-Bereichen, wo die Grenze keine Rolle spielt. Im touristischen Bereich sind wir uns näher gekommen. Wir können gegenseitig profitieren. Der Eselsweg soll ausgebaut werden, von Kloster Marienberg zum Kloster Müstair. Ein sehr tolles Projekt, ein Wanderweg, welcher mit Informationstafeln bestückt wird. Wir müssen mehr zusammenarbeiten, der Besuch von Bildungsstätten im Vinschgau wäre eine positive Zukunftsvision. Für eine Ausbildung müssen wir die größeren Städte ansteuern. Wir sind in der gleichen Situation, vor allem in der Landwirtschaft. Es braucht aber auch eine Anerkennung der Studientitel.
Wie konkret ist dieser Gedanke?
Geredet wird viel darüber, es gilt aber noch, Überzeugungsarbeit zu leisten. Es braucht sicherlich noch seine Zeit. Es braucht aber vor allem die Anerkennung, dass im Vinschgau erworbene Studientitel gleichen Stellenwert wie jene in der Schweiz bekämen.
Wen gilt es zu überzeugen?
Vor allem die Schweiz. Ich denke, wenn wir die Südtiroler Schulen, namentlich die Mittelschulen, aber auch die landwirtschaftliche Schule in Burgeis, ansprechen würden, ob wir sie besuchen dürfen, würde keine nein sagen. Die Grenzen in den Köpfen müssen abgebaut werden und zwar auf beiden Seiten. Ich habe mich schon oft gefragt, was die Gründe dafür waren, dass sich in all diesen Jahren von den vielen im Münstertal tätigen Vinschgern nur wenige auch im Tal niedergelassen haben. Ein Grund könnten die hohen Lebenshaltungskosten sein. Die Vinschger schauen nach Bozen, die Münstertaler schauen nach Chur, aber wir sollten mehr regional miteinander arbeiten. Ein anderes Bewusstsein, ein Umdenken soll und muss stattfinden.
Sind die Jugendlichen diesem Gedanken gegenüber aufgeschlossen?
Eine schwierige Frage. Ich denke, dass der Ernst der Lage noch nicht überall erkannt ist. Man stellt fest, dass einschneidende Sachen passieren müssen, damit man umdenkt.
Fährt man über die Grenze fällt einem auf, dass die Münstertaler ihre Sprache recht patriotisch pflegen. Wie stehen sie dazu?
Wir haben eine sehr sympathische, gepflegte Sprache. Es soll eine gelebte Kultur sein, und es ist eine Besonderheit. Aber vor allem in den Schulen sollte der deutschen Sprache mehr Bedeutung zugesprochen werden, und nicht nur rein romanisch unterrichtet werden, wie wir dies bis zur vierten Primarklasse haben. So lange die romanische Sprache an die Kinder weitergegeben wird und untereinander auf der Straße gesprochen wird, lebt unsere Sprache. Mit Sprache und schöner Landschaft allein ist es aber nicht abgetan, einen bestimmten Weitblick sollten wir haben, denn wenn ich an nachbarschaftliche Beziehungen und an die heutige Geschäftswelt denke, so ist Deutsch in unseren Breitengraden vorherrschend. Es gilt jedoch zu unterstreichen, dass es ein großer Vorteil ist, wenn man zweisprachig aufwachsen kann.
Gibt´s im Bereich Sanitätswesen Konventionen mit Südtirol?
Wir hoffen. Das Spital in Sta. Maria lief Gefahr, geschlossen zu werden. Über 40 Arbeitsplätze wären verloren gegangen. Mit der Regierung wurden Lösungen gefunden und im Herbst wurde beschlossen, eine gute Grundversorgung aufrecht zu erhalten. Ich denke, dass es für Taufers mit über 1000 Einwohnern auch positiv wäre, wenn sie sich in Sta. Maria behandeln lassen könnten. Damit wäre das Spital auch rentabler. Der Sanitätsbetrieb Meran sollte jedoch bereit sein, dies zu zahlen. Aber auch umgekehrt, ein Geben und ein Nehmen. Mit den Südtiroler Landesräten wird in Zukunft sicherlich gesprochen werden.
Im Mai kommenden Jahres soll der Vinschgerzug bis Mals fahren. In der Vergangenheit hat es viele Machbarkeitsstudien für einen Anschluss Richtung Schweiz gegeben. Gibt´s da was Neues?
Ja, wir sind bereit. Wir sehen den Zug als eine Chance. Eine gute, direkte Verbindung von Zernez nach Mals wäre wünschenswert. Vor allem für den Tourismus wäre dies ein Plus. Träume und Ideen sind da, eine Verbindung Scuol - Mals durch einen Tunnel wäre toll. Aber entschieden wird das sowieso an anderer Stelle.
Wie schaut´s im Schweizer Nationalpark mit der Wildentnahme aus?
Hier wird gar nichts gemacht. Von Jagd kann überhaupt keine Rede sein, es findet keine Wildentnahme statt, in Ausnahmefällen erledigen dies die Parkwächter.
Brigitte Thoma