„Ich glaubte, jetzt ist es mit mir vorbei“

Publiziert in 15 / 2013 - Erschienen am 24. April 2013
Waltraud Elvira Bernhart verwitwete Hell hat den ­Bombenangriff auf Feldkirch vor 70 Jahren unverletzt überlebt. Schlanders - In ihrer Küche hängen zwei Kalender. Auf einem hat Waltraud Elvira Bernhart verwitwete Hell die Geburtstage der Lebenden aufgeschrieben und auf dem anderen die Geburts- und Sterbedaten der Toten. Auf diesem Kalender sticht sofort der 1. Oktober 1943 ins Auge. An diesem Tag befand sich Waltraud in Feldkirch in Vorarlberg. Sie hat als einzige von insgesamt 19 Südtiroler Mädchen der LBA-Klasse 2B den damaligen Bombenangriff unverletzt überlebt. Aber beginnen wir von vorn. Bei Blitz und Donnerwetter wurde Waltraud am 7. September 1927 in Kastelbell geboren. Von diesem Unwetter berichtete ihr später ihre Mutter. Weil keine der zwei Hebammen, die damals in Latsch und in Tschars ihre Dienste versahen, aufgetrieben werden konnte, sprang die ­Joggele-Mutter als Geburtshelferin ein. Den Wunsch, Hebamme zu werden, hatte Waltraud schon als Kind, doch dieser Traum erfüllte sich nicht. In den Geburtenregister wurde sie nicht als Waltraud Elvira, wie von den Eltern angegeben, sondern als Elvira Waltraud eingetragen: „Elvira klingt italienischer und so hat man Waltraud als zweiten Namen gereiht,“ erinnert sich die bald 86-Jährige. Wegen dieser falschen Eintragung kam es viele Jahrzehnte später beim Ansuchen für die Rente zu Schwierigkeiten. Die Faschistenzeit hat sie noch lebhaft vor Augen. Als 7-Jährige besuchte Waltraud zunächst die italienische Schule. Die Italienischlehrerin Daria forderte die Kinder stets auf, die „tessera“ zu zahlen: „Ohne diese ‚tessera’ gab es keine Uniform.“ Als einmal auf dem Dorfplatz getanzt wurde, habe ihr die Lehrerin auch ohne „tessera“ eine Uniform gegeben, „so dass ich mittanzen konnte.“ Als sie dann aber im faschistischen Einheitskleid nach Hause kam, bliesen ihr die Eltern ordentlich den Marsch. Bis gegen Mitternacht lief sie weinend durch das Dorf, bis sie endlich die Lehrerin fand, die ihr dann wieder beim Umziehen half. Hausfrauen erteilten Sprachunterricht Nach 1939 waren es Hausfrauen, die den Kindern in Kastelbell die deutsche Sprache lehrten. Es gab auch dort viel zu wenige Lehrerinnen. Waltraud war ein sehr lebhaftes und aufge­wecktes Mädchen. Als eine Hausfrau während des Unterrichts fragte, ob jemand Lehrer oder Lehrerin werden möchte, hob die damals 13-Jährige sofort die Hand auf. Waltraud wurde sodann zusammen mit weiteren Mädchen, darunter befand sich unter anderen auch Frieda Oberegelsbacher aus Schlanders, zu einer ersten Prüfung nach Staben einberufen. Nach bestandener Prüfung folgte eine einwöchige Ausbildung mit Prüfung in Singen, Turnen, Zeichnen und andern Fächern in Gröden. Unterrichtet wurde in einem Stadel, geschlafen haben die Mädchen auf dem Heu. Ein Teil der Mädchen kam sodann für die weitere Ausbildung nach Innsbruck. Andere, darunter auch Waltraud, zogen zusammen mit weiteren Südtirolerinnen nach Wels in Oberösterreich. Die Zeiten waren auch dort karg. Waltraud erinnert sich noch gut daran, welche Freude sie und ihre Mitschülerinnen hatten, als ihre Tante, die in einer Bäckerei in Innsbruck arbeitete, mehrmals Brot nach Wels schickte. Schicksalstag 1. Oktober 1943 Nach einer einjährigen Ausbildungszeit in Wels wechselten Waltraud und viele Südtiroler Mitschülerinnen zur Lehrerbildungsanstalt in Feldkirch in Vorarlberg. Das Mädchenheim war dort in einem ehemaligen Kloster untergebracht. Die Kastelbellerin hatte erst vor knapp einem Monat das 16. Lebensjahr vollendet, als ihr großer Schicksalstag, der 1. Oktober 1943, kam. „Es war kurz vor 13 Uhr, als wir Sirenen hörten, die Bombenalarm gaben,“ erinnert sich Waltraud. Die Heimleiterin hatte ihr an der Eingangstür des Heims noch zugerufen, sofort in die geschützten Räume zu flüchten. Über einen richtigen Luftschutzkeller verfügten die Schule und das Heim nicht. Waltraud verkroch sich unter dem Lärm der Flieger und Bomben in einen tiefen, gewölbten Keller und harrte allein in einer Ecke aus: „Ich hatte Todesangst. Steine und Geröll verschütteten den Eingang, ich glaubte, jetzt ist es mit mir vorbei.“ 11 Mitschülerinnen starben, 8 wurden verletzt Als es Waltraud gelang, ihr Schlupfloch unverletzt zu verlassen, bot sich ihr und allen, die den Bombenangriff überlebt hatten, ein Bild des Grauens. Das Schülerinnenheim war schwer getroffen worden, ebenso das nahe liegende Lazarett, obwohl auf dem Dach desselben ein „Rotes Kreuz“ aufgemalt war. Es war in diesem Lazarett, in dem Waltraud später ihre getöteten Schulkameradinnen identifizieren musste. Viele von ihnen erkannte sie nur noch an ihren Kleidern bzw. an Bruchstücken von Kleidern. Elf Mädchen der 2B, der Klasse von Waltraud, waren tot. Acht waren verletzt. Lediglich Waltraud hat den Angriff unverletzt überlebt. Sie wurde daher als „Wunderkind“ von Feldkirch bezeichnet. Unter den getöteten, aus ganz Südtirol stammenden Mitschülerinnen von Waltraud befanden sich auch Rosl Garber aus Tabland und Hanni Zischg aus Kastelbell. Insgesamt hatten im Schülerheim 41 Mädchen und 3 Lehrerinnen den Tod gefunden. Aber auch an anderen Stellen in Feldkirch hatten 15 amerikanische Bomber ihre tödliche Fracht abgeworfen. Es waren insgesamt 210 Tote und 110 großteils Schwerverletzte zu beklagen. Feldkirch soll von den Bombern als „Gelegenheitsziel“ gewählt worden sein, weil sie in Augsburg die Messerschmittwerke aufgrund von Nebel nicht erreichen konnten. Unvergessen bleibt für Waltraud das Gesicht eines toten Mannes, der inmitten der toten Mädchen lag: „Der Mann hatte ein Lachen im toten Gesicht und das war für mich unverständlich.“ Erst später erfuhr sie, dass dieser Mann lachend einen Herzinfarkt erlitten hatte. Gelacht hatte er vor Freude, als ihm seine zwei Töchter, von denen er glaubte, sie seien unter den Bomben umgekommen, entgegen liefen. „Zwischen Mamma und Tatta ins Bett gekrochen“ Das Schreckenstrauma, das Waltraud von Feldkirch mit nach Hause nehmen musste, hielt noch lange an: „Manchmal kroch ich nachts zwischen Mamma und Tatta ins Bett.“ Ihre Eltern hatten in Kastelbell eine Sennerei. Später kam eine kleine Bauerschaft dazu. Von den 3 Geschwistern von Waltraud ist nur noch Wolfgang, geboren 1925, am Leben. Ihr Bruder Othmar, geboren 1932, verlor 1971 bei einem Bergunglück an der Tschenglser Hochwand das Leben. Helga, geboren 1938 und gestorben 2007, geriet als zweijähriges Kind unter ein Pferdefuhrwerk. Sie litt zeitlebens an den Folgen der Verletzungen. Jungmädchen-Führerin Von Feldkirch nach Hause gekommen ist Waltraud um Nikolaus 1943. „Auch hier in Südtirol war alles in Nazi-Stimmung“. Waltraud besuchte Kurse auf der Fragsburg bei Meran. Sie wurde Jungmädchen-Führerin und war fast bis zum Kriegsende von ­Staben bis Reschen und auch in den Seitentälern mit dem Fahrrad unterwegs, um den Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren zu erzählen, wer Hitler ist, und sie in verschiedenen Fächern zu unterrichten. Mit dem ersten Monatslohn in Höhe von damals 1.200 Lire konnte sich Waltraud erstmals selbst neue Schuhe kaufen. Auch das Nähen erlernte sie auf der Fragsburg. Auf ihre besondere Fähigkeit im Anfertigten von Scherenschnitt-Bildern wurde eine Lehrerin aufmerksam. Später fertigte Waltraud viele solche Bilder zum Verkauf in Geschäften in Meran an. Vor Kriegsende leitete sie einen Erste-Hilfe-Kurs vor rund 80 Teilnehmern aller Altersstufen in Prad: „Es hieß damals, die Front käme immer näher und man müsse wissen, wie Wunden zu behandeln sind oder wie man eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführt.“ Zum ersten Mal wirklich Geld verdient hat Waltraud, als sie 1948 in ­Küsnacht bei Zürich in der Schweiz eine Anstellung als Haushälterin und Pflegerin einer älteren Frau bekam. Der Monatslohn belief sich anfangs auf ca. 80 Schweizer Franken. 1950 kehrte Waltraud wieder nach Hause zurück. 1951 heiratete sie Walter Hell, Apothekersohn in Schlanders. Die Familie Hell stellte in Schlanders jahrzehntelang „Kracherlen“ her, sprich Sirupe und Säfte, und vertrieb diese Getränke auch, und zwar von Schlanders bis nach Staben, inklusive der Seitentäler. Wolfgang, das erstgeborene Kind von Waltraud und Walter, ist im Alter von eineinhalb Jahren gestorben. 1955 kam Annemarie zur Welt, 1957 Elisabeth und 1960 Brigitte. Elisabeth und Brigitte sind von Schlanders weggezogen. Sie leben schon seit vielen Jahren in Österreich. Walter Hell ist 1996 gestorben. Zusätzlich zu ihrer Arbeit als Mutter und im „Kracherle“-Betrieb hat sich Waltraud auch sozial stark engagiert. Sie war unter anderem 20 Jahre lang im Caritas-Vorstand tätig, begleitete Sterbende und setzte sich auch anderweitig ­ehrenamtlich für Menschen ein, die Hilfe brauchten. Die Initiative, in Schlanders eine Kleiderkammer einzurichten, ging maßgeblich von ihr aus. Sie stellte dafür eine Garage zur Verfügung. Sepp Laner
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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