Ist der Hirte zufrieden, ist es auch das Vieh
Publiziert in 31 / 2013 - Erschienen am 11. September 2013
Und umgekehrt gilt das auch. Seit über 20 Jahren hütet Lorenz Blaas Galtvieh auf der Fürstenalp in Graubünden.
Trimmis - Zuerst über den Ofenpass und den Flüela, wo am Kiosk ein Plastikbecher-Espresso 3,40 Euro kostet, und dann weiter in Richtung Davos und Landquart bis zur Gemeinde Trimmis. Von dort führt eine ziemlich steile und schmale, aber gute Schotterstraße hinauf in Richtung Fürstenalp. Wer zum ersten Mal vom Tal aus hinaufschaut, kann sich kaum vorstellen, dass es da irgendwo zwischen den Felswänden eine Alm geben kann. „Nein, nein, das stimmt schon, die Fürstenalp ist wirklich da oben, Sie wollen doch zum Lorenz, oder?“ Ja, genau, zum Lou, wie Lorenz Blaas in Trimmis und auch im Vinschgau von allen, die ihn kennen, genannt wird. Die Sicherheit, den Weg nicht verfehlt zu haben, wächst ab dem Gitter, ab dem es zu Fuß auf die Alm geht. Und zwar von Botschaft zu Botschaft und von Kunstwerk zu Kunstwerk, denn Lou hat eine Art Besinnungsweg angelegt.
Von Botschaft zu Botschaft
Er sieht Steine, Wurzeln, weggeworfene Sachen und andere Dinge, welche die meisten von uns zwar auch sehen, aber nicht wirklich wahrnehmen. Lou hingegen hat dafür einen besonderen Blick. Aus einer Wurzel wird so ein farbiger Vogel, aus einer „Muaspfonn“ ein Symbol für Sonne und Mond, aus einem knorrigen Baumstumpf ein Gesicht. Wer noch dazu die Botschaften auf Steinen, an Ästen und Fichtenstämmen liest, kommt nicht umhin, in sich und auch in die Natur hineinzuhören. „Tu es oder tu es nicht, aber höre auf es zu versuchen“, steht da auf einem Stein geschrieben. An einem Stamm heißt es: „Schau auf niemanden herab, außer du hilfst ihm auf.“ Jahr für Jahr bringt Lou neue Sprüche an. Weisheiten von anderen, die ihn beeindrucken, und solche, die ihm selbst in den Kopf schießen. Dass jeder Kopf eine Welt ist, hat Lou ebenfalls irgendwo aufgeschrieben. Aber wo steckt er? Es hatte an jenem wunderschönen Herbsttag am 2. September den Anschein, als sei die Fürstenalp nicht bewohnt. Die Glocken der Kühe, die hoch oben an den steilen Weiden grasen, sind nur schwach zu hören. Vor der kleinen, rechteckigen Hütte hängen Jacken an der Wand, Stiefel und Schuhe „hocken“ auf der Holzbank, daneben Kübel und Eimer. Nur Tasco und Gary wollen wissen, wer es wagt, die Ruhe zu stören.
Wer stört hier die Ruhe?
Das Gebell seiner zwei Border Collies lockt auch Lou aus der Küche. Er hat soeben Kaffee gekocht und kommt mit Kanne und Pfanne, in der er Ziegenmilch gewärmt hat, aus der Tür. Er sei jetzt nur mehr alleine auf der Alm, denn seine Frau Lies musste schon heimfahren, weil „draußn“ die Schule beginnt und die Kinder zur Schule müssen. „Draußn“ ist Latsch, wo Lou mit seiner Familie lebt. „Unsere Kinder Laura und Raphael waren bereits hier oben, als sie nur wenige Wochen alt waren,“ erzählt Lou. Laura ist 11, Raphael 14. Auch Iduna (21), die Tochter von Lies, die seit 1996 seine Lebenspartnerin ist, hat schon viele Almsommer miterlebt. Sich Jahreszahlen einzuprägen, gehört nicht zum Lebensstil von Lou. Er trägt auch keine Uhr. Dass er erst 10 war, als ihn sein Vater zum ersten Mal auf eine Alm in die Schweiz schickte, weiß er aber genau. Sein Vater, der bereits vor einiger Zeit gestorben ist, war ein Matscher. Auch seine Mutter ist eine gebürtige Matscherin. Aufgewachsen ist Lou in Naturns.
Mit 10 Jahren zum ersten Mal auf die Alm
Zumal der Almmeister erkannt hatte, dass dieser Bub kein schlechter Hirte ist und auch mit Hunden gut umgehen kann, wurde ihm bereits beim zweiten Almsommer - er war 11 - die Verantwortung für ca. 60 Milchkühe übertragen: er musste um 3 Uhr aufstehen, melken, die Kühe auf die Weide führen, den ganzen Tag auf sie aufpassen, sie am frühen Abend in den Stall treiben und erneut melken. Bis zum 15. Lebensjahr war Lou Hirte auf verschiedenen Schweizer Almen. „Während dieser Zeit wurde ich ein bisschen menschenscheu“, erzählt er. Wenn Leute auf die Alm kamen, blieb er im Stall bis sie wieder weg waren. Der Lohn für seinen ersten Almsommer war eine Ziege, „das Fell habe ich heute noch daheim.“ Lou ist überzeugt davon, dass seine Liebe zu den Almen schon in diesen frühen Jahren Wurzeln geschlagen hat. Der Gedanke oder die Sehnsucht, im Sommer auf eine Alm zu gehen, habe ihn nie mehr losgelassen. Auch nicht, als er als 16-Jähriger kochen lernte und nachher für rund 10 Jahre in Betrieben in Schnals, München, in der Schweiz, in Gröden und in anderen Orten als Koch arbeitete. 1989 hängte er den Kochlöffel an den Nagel, „obwohl mir die Arbeit im ‚Mondschein‘ in Plaus, wo ich zuletzt als Koch arbeitete, sehr gut gefiel.“ Es war das Almleben, das ihn lockte. Nach insgesamt vier Almsaisonen auf verschiedenen Almen im Engadin suchte er 1992 nach einer neuen Alm für den Sommer 1993. In jenem Jahr zog er erstmals auf die Fürstenalp. Noch nie zuvor hatte er einen Hirtenvertrag in so kurzer Zeit unterschrieben wie im Winter 1992: „Der Almmeister kam zu mir nach Naturns, zeigte mir Fotos, sagte, dass die Hütte feucht und alt ist und dass sie stinkt.“ Für Lou war es das erste Mal, dass ein Almmeister ganz ehrlich sagte, wie es um die Alm wirklich bestellt ist und das überzeugte ihn auf Anhieb. Bei früheren Vorverhandlungen habe man ihm stets das Blaue vom Himmel versprochen: „Das machte mich immer etwas stutzig. Für die Fürstenalp habe ich nach einer Viertelstunde unterschrieben.“ Dass auch der Almmeister eine „gute Nase“ hatte, beweist schon der Umstand, dass Lou mit der Fürstenalp mittlerweile so gut wie „verheiratet“ ist. Lediglich 1996 setzte er für einen Sommer aus. Es war dies das Jahr, als er im Schlosswirt Juval kochte. Zu dieser Zeit lernte er auch Lies kennen. Sie zieht mit den Kindern immer etwas später auf die Alm und kehrt auch vorher zurück. Zum Beginn der Saison ist Lou mit dem Zäunen und anderen Vorarbeiten beschäftigt. Außerdem liebt er es auch, für eine bestimmte Zeit allein zu sein. „Mit sich selber ‚hangln’ ist manchmal auch nicht schlecht.“
Mit sich selbst streiten tut manchmal gut
Was auf der Alm passiert, schreibt Lou in kurzen Sätzen nieder. Er schreibt vom Wetter, von einer Kuh, die sich verletzt hat, von einem Kalb, das ausrutschte oder von anderen Tieren. In einem Eintrag vom 20. September 2009 etwa heißt es: „Heute Nacht ist Thori, unser 11-jähriger Hirtenhund nach kurzem Leiden gestorben.“ Im Umgang mit Tieren hat Lou eine besondere Gabe. Man bekommt den Eindruck, dass er ihnen näher ist als andere Menschen. Und sie ihm auch. Es ist ihm einerlei, wenn manche glauben, er sei verrückt, wenn er mit den Tieren spricht, oder wenn er zu Beginn der Almsaison stunden-, ja tagelang irgendwo hockt und das Vieh beobachtet: „Jedes Tier hat seinen Charakter und seine Eigenheiten. Manche sind gern in der Gruppe, andere scheren aus.“ Er kennt jedes einzelne Stück und kann schon vom Verhalten her schließen, ob einem Tier etwas fehlt oder nicht. Ca. 120 Stück Galtvieh wurden heuer aufgetrieben. Das Vieh gehört 8 Bauern aus Trimmis. Kälber sind ebenso dabei, wie Mesen - so nennen die Graubündner Jungrinder im Alter von 1 bis 2 Jahren – und ältere Rinder. Die Kühe werden nicht gemolken, denn es handelt sich um Mutterkühe, die nicht für den Zweck der Milchgewinnung gehalten werden, sondern für die Rindfleischproduktion durch die Aufzucht von Saugkälbern. Die Fürstenalp umfasst insgesamt 248 Hektar. Die obere Alm liegt auf ca. 2.000 Höhenmetern, die untere auf 1.806. Während des Hochsommers lässt Lou die höher gelegenen Weiden abgrasen. Die Hütte auf der oberen Alm ist noch uriger als jene auf der unteren. Auf der oberen Alm grasen zurzeit auch 16 Pferde (Isländer). „Das ist gut für die Weidepflege, denn die Pferde fressen auch hartes Borstgras.“ Anstelle einer Melkkuh, die dem Hirten laut Vertrag zusteht, hält Lou seit einigen Jahren immer 5 Ziegen. Sie gehören übrigens einem Rechtsanwalt, der sehr froh ist, in Lou einen so guten Hirten gefunden zu haben.
Ziegenmilch für den Eigengebrauch
Wenn sich dieser ans Melken macht, wird er von den 5 Ziegen geradezu „umworben“, denn jede möchte als erste gemolken werden. Er spricht auch mit den Ziegen. „Wenn du mit den Tieren sprichst, werden sie mit dir sprechen, und ihr werdet euch kennenlernen. Wenn du nicht mit ihnen sprichst, dann werdet ihr euch nicht kennenlernen. Was du nicht kennst wirst du fürchten. Was du fürchtest, zerstörst du.“ Diesen Spruch des Indianerhäuptlings Dan George hat Lou an einer Wand in der Küche angebracht. Lou wird Tieren gegenüber nie gewaltsam. Er kann sich gar nicht vorstellen, ein Tier zu schlagen. Die Ziegenmilch wird ausschließlich für den Eigengebrauch genutzt. Lies stellt Hart- und Frischkäse her. Außerdem backt sie auf der Alm Brot. Viel Zeit verbringt sie mit Filzen. Gemüse und andere Lebensmittel bezieht die Familie von einer Biobäuerin im Tal. Lou geht nur selten nach Trimmis: „Früher, als ich noch rauchte, ging ich viel öfter hinunter.“ Wenn die Zigaretten ausgingen, geriet er in „Panik“. Seit der Geburt von Laura raucht er nicht mehr. Das Vertrauen zwischen den Bauern, dem Almmeister Benjamin Schädler und dem Hirten ist von Jahr zu Jahr gewachsen. Die Fürstenalp gehört dem Bistum Chur. Schädler, der in Trimmis einen Gutshof besitzt, hat sie gepachtet. „Kürzlich sind der Almmeister und die Bauern hoch gekommen, um mir zur 20. Almsaison zu gratulieren und zu danken. Das hat mich sehr gefreut,“ gesteht Lou.
Brauchst du etwas?
Neben den Bauern kommt er auch mit Jägern und Förstern gut aus: „Wenn sie hoch kommen, rufen sie meistens vorher an und fragen, ob ich etwas brauche.“ Auf der Fürstenalp, wo nicht ausgeschenkt wird, vergehen oft etliche Tage, bis ein Mensch vorbeikommt. Lou: „Wenn an einem Tag 4 oder 5 Leute kommen, sagen wir am Abend: heute war viel los.“ Den Strom für das Licht in der Hütte liefert eine kleine Solaranlage. Viel Licht braucht es nicht, denn man geht früh zu Bett. Froh ist Lou, dass im Zuge der Sanierung der Hütte auch ein großer runder Brunnen im Freien errichtet wurde. Der Stall, der einst genutzt wurde, als die Fürstenalp noch eine Milchviehalm war, steht seit vielen Jahren leer. Heute ist ein Jäger vorbeigekommen und hat dort eine frisch erlegte Gams zwischengelagert. Die Gamsleber schenkt er dem Hirten. „Die Gegend hier oben ist geradezu mystisch“, schwärmt der Jäger, „aber was wäre sie ohne Lou?“ Dieser macht sich indessen in der Küche zu schaffen. Er kocht Nudel und bereitet einen Sugo mit Tomaten, Linsen, Karotten und Fleisch vor.
Naturheilmittel anstelle von Antibiotika
Auf einer Stele in der Nähe des Herdes stehen viele kleine Fläschchen. Lou: „Das sind homöopathische Mittel, die ich verwende, wenn Tiere krank werden oder sich verletzen.“ Schon vor vielen Jahren hatte er begonnen, sich mit Homöopathie zu beschäftigen und sich in die Materie einzulesen. Ein Tierarzt muss mittlerweile nur mehr sehr selten auf die Alm gerufen werden. „In 90% der Fälle komme ich mit natürlichen Heilmitteln aus.“ Auch bei den Bauern haben diese Ansichten mittlerweile Fuß gefasst. „Früher gab mir der Almmeister immer jede Menge Antibiotika mit, seit etlichen Jahren ein Köfferchen mit homöopathischen Mitteln“, freut sich Lou. Einmal sei es ihm sogar gelungen, bei 5 Pferden eine Bindehautentzündung erfolgreich zu heilen. Auf die Frage, inwiefern sich das Almleben in der Schweiz von jenem im Vinschgau unterscheidet, meint der Hirte: „Ich habe den Eindruck, dass einem Hirten in der Schweiz mehr Wertschätzung entgegengebracht wird.“ Außerdem wird diese Arbeit in der Schweiz gut bezahlt. Wenn man sich von Lou verabschiedet, hat man nicht das Gefühl, ihn allein zu lassen. Er ist nicht allein, sondern Teil der Fürstenalp. Und wenn er im nächsten Jahr erneut auf die Alm geht, wird es ihm wohl wieder so ergehen, wie er es 2010 in seinem Buch schilderte: „Wieder einmal sitze ich mit Hund Tasco am Gatter und höre vom Tal die Glocken näher kommen. Sie werden immer stärker. Auch mein und Tascos Herz werden immer schneller und lauter.“ Und noch etwas weiß Lou nur zu gut: „Ein guter Hirte braucht auch Glück.“ Und was macht er, wenn er nicht oben auf der Alm ist? Lou: „Dann bin ich eben unten.“ Nach der heurigen Saison wird er zunächst Äpfel klauben. Und dann sieht man weiter.
Sepp Laner

Josef Laner