Menschen können helfen und Medikamente auch

Publiziert in 21 / 2012 - Erschienen am 30. Mai 2012
Das Thema Selbstmord wird immer noch stark tabuisiert. Für suizidgefährdete Personen kann diese Tabuisierung zu einem Hemmschuh werden, der sie daran hindert, Hilfe zu suchen und sich helfen zu lassen. Schlanders - Die Suizidrate in Südtirol ist hoch. Im Schnitt nimmt sich eine Person pro ­Woche das Leben. Von 2005 bis 2009 lag die Rate bei den Männern bei 15,1 je 100.000 Einwohner und bei den Frauen bei 4,6. Mehrere Suizide, die unlängst im Vinschgau verübt wurden, hatten das Bildungsreferat des KVW Bezirks Vinschgau, den Verein „Lichtung“ und den Bildungsausschuss dazu bewogen, einen Vortags- und Diskussionsabend zum Thema „Suizid - Gehen ohne Abschied“ in Schlanders zu veranstalten. Wie stark das Thema unter den Nägeln brennt, bewiesen die rund 140 Personen, die in die Aula Magna der Fachoberschule für Wirtschaft gekommen waren. Antidepressiva sind keine Drogen Mit dem zum Teil immer noch verbreiteten Vorurteil, wonach die Einnahme von Antidepressiva zu einer Abhängigkeit führe, räumte Roger Pycha, Primar der Psychiatrie am Krankenhaus Bruneck, auf: „Antidepressiva sind keine Drogen, sie können als erster Behandlungsschritt im Hinblick einer psychotherapeutischen Behandlung sehr nützlich sein, weil sie den Stoffwechsel im Gehirn günstig verändern und mittelgradige bis starke psychische Leiden lindern und heilen.“ Aber auch auf mögliche Nebenwirkungen von Psychopharmaka verwies ­Pycha, etwa auf Gewichtszunahme - es gebe aber auch Medikamente, die eine Gewichtsabnahme bewirken -, Übelkeit, Zittern oder Sexualstörungen. Die Depression entwickelt sich laut Pycha immer stärker zu einer der größten Volkskrankheiten überhaupt. Gedrückte Stimmung, Mangel an Energie und Verlust von Interessen und Freuden: das seien die drei Kennzeichen des Jahrhundertleidens Depression. Zwischen 40 und 70% der Menschen, die sich das Leben nehmen, leiden an Depression. Zu den Risikogruppen suizidgefährdeter Menschen gehören psychisch Kranke, Süchtige, schwer körperlich Kranke, alte Menschen, einsame Personen sowie Menschen, die mit Krisen in der Beziehung, im sozialen Umfeld oder am Arbeitsplatz konfrontiert sind. Männer nehmen sich viel häufiger das Leben als Frauen. Frauen wiederum leider häufiger an Depressionen. Zur Situation in Südtirol stellte Pycha fest, dass die Suizidrate in etwa doppelt so hoch ist wie in Italien und etwas niedriger als in Österreich. Bei der italienischen Volksgruppe ist die Rate um ca. die Hälfte niedriger als bei der deutschen. Am höchsten ist sei bei den Ladinern. „Die Scheu zuzugeben, dass wir seelische Nöte haben und Hilfe brauchen, ist ein großes Problem in unserer Gesellschaft,“ sagte Ingeborg Forcher, die aufgrund ihrer jahrelangen Tätigkeit in Selbsthilfegruppen auf viel Erfahrung zurückblicken kann. Sie leitet seit April eine Selbsthilfegruppe in Meran und bietet in Schlanders Einzelgespräche an (sie Info-Kasten). Für Betroffene ist es laut Forcher sehr wichtig, sich von Abstempelungen wie „verrückt“ oder „nervenkrank“ frei zu machen. Es gebe leider immer noch viele Vorurteile gegen Anti­depressiva, Psychotherapien, Psychiater und andere Fachleute. Dabei sei es wichtig, rechtzeitig Hilfe zu suchen. Angehörige und Freunde sind wichtige Begleiter, „wenngleich der Betroffene diese oft nicht belasten möchte, weil er weiß, dass der Mensch, der ihm nahe steht, mitleiden wird.“ Aufmerksames Zuhören Das Verleugnen des seelischen Leids koste viel Energie, „es ist daher gut, persönliche Erfahrungen mit anderen Leidensgenossen austauschen zu können, wie das zum Beispiel in Selbsthilfegruppen geschieht.“ Eine psychische Krankheit sei in gleichem Maß zu akzeptieren wie eine körperliche. „Aktives und geduldiges Zuhören ist ungemein wichtig, ebenso das Reden,“ so Forcher, „schon allein deshalb, weil das Schweigen die depressive Störung aufrecht hält.“ Angehörige und Freunde fühlen sich oft ohnmächtig und machen das Falsche, nämlich abwarten und hoffen, dass es dem Betroffenen irgendwann von selbst wieder besser geht. Groß sei oft auch die Angst, zum Arzt zu gehen. Angehörige und Freunde sollten daher den Mut aufbringen, „den Betroffenen, der es selbst nicht mehr zum Arzt schafft, bei der Hand zu nehmen und ihn dorthin zu begleiten.“ Hans Schwingshackl, Präsident des Vereins „Lichtung“, wertete die Tätigkeit von Selbsthilfegruppen als Brücke hin zur professionellen Hilfe. Ingeborg Forcher übe diese Funktion als Brückenbauerin seit Jahren beispielhaft aus. Keine Tabus Keine Tabus und größt­mögliche Offenheit: Dafür sprach sich das mutige Ehepaar Christine und Walter Schullian aus. Andreas, einer ihrer zwei Söhne, hatte sich am 1. März 2011 im Alter von 28 Jahren das Leben genommen. Das Ehepaar blickte auf das Leben von Andreas zurück, auf seinen Suizidversuch im Jahr 2004 und auf therapeutische und medikamentöse Behandlungen. Walter Schullian rief dazu auf, möglichst schnell zu handeln, hartnäckig zu bleiben, den Therapeuten zu wechseln, falls dies notwendig erscheint, und nie aufzugeben. Seine Frau meinte: „Am ersten Tag steht die Welt still.“ Erst nach und nach habe sie sich einigermaßen fangen können, dank der Hilfe ihrer Familie, des Mitgefühl und der Gespräche mit Freunden und Nachbarn, der Hilfe des ganzen Dorfes. „Niemand ist Schuld. Es ist eine Krankheit. Kein Mensch hat das Recht zu urteilen,“ sagte Christine. Aus dem Abschiedsbrief von Andreas zitierte sein Vater die letzten Worte: Macht ’s gut!“ Dass die Enttabuisierung des Themas Suizid fortgesetzt wird, wünschte sich auch der gebürtige Marteller Peter Holzknecht, Krankenhaus- und Notfallseelsorger in Bruneck. Er sprach über den Umgang mit Trauer und Schuldgefühlen. Auf die Warum-Fragen, die sich bei Suiziden immer aufdrängen, gebe es letztlich keine Antworten. Solche Fragen erschüttern das Leben bis in die tiefsten Grundfesten hinein. Schuldgefühle und Schuldzuweisungen können als Ventil für die eigene Ohnmacht fungieren und das Unerträgliche erträglicher machen. Unmittelbar nach einem Suizid sei es wichtig, da zu sein, zuzuhören, zu informieren, Trauer zu ermöglichen und auf professionelle Hilfe hinzuweisen. Bei der Diskussion wurde unter anderem bestätigt, dass die Vorurteile im Zusammenhang mit Depression, Suizid und Antidepressiva dank jahrelanger Aufklärungsarbeit abgenommen haben, zum Teil aber immer noch stark vorherrschen. Sepp Laner 1) Zentrum für ­psychische Gesundheit (Schlanders, Hauptstraße 134, Tel. 0473 73 66 90); bei Akutsituationen die Erste-­Hilfe-Stationen aller Krankenhäuser 2) Psychosoziale Beratungsstelle der Caritas (Schlanders, Hauptstr. 131, Tel. 0473 62 12 37) 3) Kostenlose Einzelge­spräche jeden Donnerstag von 16 bis 19 Uhr im Haus der Begegnung in Schlanders (Göflanerstraße); Anmeldung bei Ingeborg Forcher: 0473 62 45 58 oder 339 16 37 100
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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